Meine Damen und Herren, wenn zum Teil Klage darüber geführt wird, dass Einzelfragen dazu, was in den verantwortlichen Kommunen geleistet wird, nicht umfassend und vollständig beantwortet werden können, dann muss ich sagen: Das ist ganz normal. Die Kommunen sind als örtliche Träger in Eigenverantwortung tätig. Wenn ich daran denke, welcher Verwaltungsaufwand und welche Bürokratieberge sich ergeben würden, welche Personalkapazitäten im Lande Niedersachsen erforderlich wären, wenn die Einzeldaten aus allen Kommunen des Landes zusammengetragen würden, dann erfüllt mich das mit Angst.
Im Niedersächsischen Gleichstellungsgesetz ist geregelt, dass die Kommunen Beiräte für Menschen mit Behinderungen einrichten müssen. Ähnlich habe ich mich an dieser Stelle bereits vor Kurzem zu den Beiräten geäußert, die sich mit der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigen. Diese Beiräte sollten durchweg ein Antragsrecht erhalten. Das müssen die Kommunen selber regeln. Das sollten sie auch regeln; denn Beiräte, die nur beraten, die sich allenfalls zu Wort melden dürfen, haben beileibe nicht die gleiche Kraft, als wenn sie selbst Anträge stellen dürfen. Das ist beispielsweise eine politische Forderung, für die ich hier um Unterstützung werbe. Damit können wir etwas Gutes erreichen.
Erste Beratung: Suizid im Alter: Früherkennung und Prävention stärken - Landesprogramm auflegen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/1843
Für die SPD-Fraktion hat sich Herr Kollege Schwarz zu Wort gemeldet. Bitte schön, Sie haben das Wort!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns allen ist die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft bekannt. Der Bevölkerungsanteil der über 60-Jährigen steigt von heute 23 % auf 40 % im Jahre 2050. Das heißt, er wird sich in den nächsten 40 Jahren verdoppeln. Dieser wachsende Anteil älterer Menschen ist eine Chance für unsere Gesellschaft, da die meisten von ihnen keineswegs den völligen Rückzug aus ihren bisherigen Aktionsfeldern anstreben. Das wird vor allem deshalb möglich, weil es in Deutschland noch nie so viele gesunde und mobile ältere Menschen gab wie heute. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention stellt daher fest, dass gut die Hälfte der über 90-Jährigen ihr Leben selbstständig führt und viele von ihnen von keinerlei gravierenden Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit betroffen sind. - Das ist die eine, die sehr erfreuliche Seite.
Auf der anderen Seite müssen wir allerdings feststellen, dass es in unserer angeblich so aufgeklärten Gesellschaft nach wie vor Tabuthemen gibt, die vor allem ältere Menschen betreffen. Hierzu zählen Altersdiskriminierung, Altersarmut und vor allem auch Alterssuizid.
Zum Thema Altersdiskriminierung hat die SPDLandtagsfraktion die Landesregierung in einem Antrag vom 19. Oktober 2007 aufgefordert, ein Programm zur Bekämpfung der Altersdiskriminierung vorzulegen - leider vergeblich. Auch dieses für ältere Menschen nicht zu unterschätzende Thema werden wir heute erneut einbringen.
Mit dem heute eingebrachten Problembereich des Alterssuizids beschäftigt sich die SPD-Landtagsfraktion bzw. unser Arbeitskreis Sozialpolitik bereits seit Ende 2008. Im Februar 2009 haben wir dazu eine sehr umfassende Expertenanhörung durchgeführt. Der Sozialverband VdK stellte in der
Anhörung fest: Das Problem der Alterssuizide in unserer Gesellschaft ist nicht nur tabuisiert, sondern es ist auch weitgehend unbekannt.
Schon über die tatsächliche Anzahl der jährlichen Suizide in Deutschland gibt es unter Wissenschaftlern erhebliche Differenzen. Während die einen von ca. 11 000 Todesfällen in Deutschland reden, spricht der renommierte Gerontologe Dr. SchmitzScherzer von ca. 16 000 Suiziden und schätzungsweise 80 000 bis 160 000 Selbstmordversuchen pro Jahr. Die große Spannbreite erklärt sich aus der Tatsache, dass nicht jeder Suizid als solcher erkannt wird, z. B. Missachtung wichtiger ärztlicher Verordnungen, Verweigerung der Nahrungsaufnahme oder bewusstes negatives Verhalten im Straßenverkehr. Zusätzlich werden mit Rücksicht auf die Angehörigen Suizide nicht immer als solche dokumentiert.
Während die Anzahl der Selbstmorde in Deutschland seit 1980 kontinuierlich zurückgeht, steigt sie mit zunehmendem Alter sprunghaft an. Erstens. Mehr als die Hälfte aller jährlichen Suizide entfallen auf Menschen von über 65 Jahren. Zweitens. Suizid ist überwiegend männlich. Es sterben fast dreimal so viele Männer durch Suizid wie Frauen. Während auf 100 000 Einwohner normalerweise 20 Todesfälle durch Selbstmord kommen, sind es bei den Männern im Alter zwischen 75 und 80 Jahren bereits knapp 70 Todesfälle und zwischen 85 und 95 Jahren über 85 Todesfälle.
Drittens. Die regionalen Unterschiede in Deutschland sind dabei sehr groß. Die höchsten Sterbeziffern finden sich in Sachsen, Thüringen und Bayern. Niedersachsen liegt in der Statistik bei den Sterbefällen durch Suizid im unteren Mittelfeld.
Meine Damen und Herren, Suizidhandlungen liegt in der Regel nicht nur ein einziges Motiv, sondern ein ganzes Bündel von Motiven zugrunde. Vor allem im Alter führen die Wissenschaftler folgende Gründe an: Furcht vor schwerer Krankheit und Schmerzen, Verlust von Eigenständigkeit, Gesundheit und Mobilität, Angst vor dem allein Übrigbleiben, Angst vor dem Nicht-mehr-gebrauchtwerden, Angst, nicht mehr für sich selbst sorgen zu können, Angst, anderen Menschen zur Last zu fallen und von ihnen abhängig zu werden, Angst vor Altersarmut und Angst vor dem Verlust des Partners oder eines nahestehenden Menschen. Diese Aufzählung ist bei Weitem nicht vollständig, macht aber deutlich, dass ältere Menschen für sich aufgrund ihres drohenden Autonomieverlustes
Suizidale Handlungen stehen meistens in einem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen. Etwa jeder vierte Mensch über 65 Jahre leidet an einer psychischen Erkrankung bzw. an einer Depression. Zudem werden depressive Erkrankungen im Alter in etwa der Hälfte aller Fälle von zum Teil massiven körperlichen Beschwerden begleitet. Das Erkennen psychischer Erkrankungen ist, wie wir wissen, selbst für Fachleute nicht ganz einfach.
In unserer Anhörung hat Herr Professor Dr. Spengler für den Ausschuss für Angelegenheiten der psychiatrischen Krankenversorgung darauf hingewiesen - ich zitiere -:
„Depressive Erkrankungen, von denen in der Routineversorgung weit mehr als die Hälfte unerkannt bleiben, sind die Hauptursache von Suiziden gerade im höheren Alter.“
Hinzu kommt die nach wie vor unterschiedliche gesellschaftliche Akzeptanz von körperlichen und psychischen Erkrankungen. Nicht selten ist das öffentliche Bekanntwerden psychischer Erkrankungen mit der Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden. Gerade die heute Hochbetagten verbinden psychische Erkrankungen immer noch mit dem Weg zum Irrenarzt und lehnen diesen ab.
Meine Damen und Herren, vor allem der Verlust des Partners, Isolation und Einsamkeit sind bei alten Menschen häufig Auslöser für einen Selbstmord. Zusätzlich zum Alleinsein kommt die Aufgabe, das Leben neu organisieren und ordnen zu müssen. Männer stehen dabei in der praktischen Lebensführung in der Regel vor wesentlich größeren Problemen als Frauen.
Präventivmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Alterssuizid finden in Deutschland bisher kaum statt und sind - das füge ich hinzu - zugegebenermaßen auch sehr schwierig. Zuallererst müssen wir für eine Enttabuisierung dieses Themas sorgen. Während das Problem der Suizide bei jungen Menschen im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen ist, gilt dies für Alterssuizide zweifellos nicht. Dabei sind wir uns sicherlich darin einig, dass der Grad an Respekt, Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht vom Lebensalter abhängen darf. Nur ein verändertes gesellschaftliches Bewusstsein ermöglicht überhaupt erst neue Wege zu einer
Wir brauchen den Aufbau von wohnortnahen Netzwerken und Anlaufstellen für ältere Menschen. In diesem Zusammenhang weist Professor Dr. Spengler darauf hin, dass die Unübersichtlichkeit der Beratungsangebote schon jetzt für die Betroffenen eine extrem hohe Hürde darstellt. Wir brauchen außerdem eine Verbesserung der Versorgungsstrukturen und auch in diesem Punkt eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung des medizinischen Personals, des pflegerischen Personals sowie vor allem von Psychotherapeuten und Psychiatern.
Insbesondere in der ambulanten psychiatrischen Versorgung ist eine stärkere Ausrichtung auf die Gerontopsychiatrie notwendig. Dies unterstützte auch Professor Dr. Spengler in der Anhörung ausdrücklich, indem er darauf hinwies, dass selbst in psychiatrischen Kliniken in Niedersachsen überwiegend keine eigenen alterspsychiatrischen Abteilungen vorhanden sind und dass auch in psychiatrischen Institutsambulanzen meistens keine Alterssprechstunden angeboten werden.
Der Niedersächsische Pflegerat machte deutlich, dass der Ausbildungsstand bei beruflich Pflegenden zum Thema Alterssuizid völlig unzureichend ist. Die Themen Altersdepression und Alterssuizid kommen in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflege praktisch nicht vor. Hier ist es dringend erforderlich, stärker in die Aus- und Fortbildung zu investieren.
Dem Hausarzt, meine Damen und Herren, kommt eine zentrale Präventionsfunktion zu. Es dürfen eben nicht nur körperliche Symptome behandelt werden, sondern der Patient muss ganzheitlich betrachtet werden. So liegen wissenschaftliche Studien vor, nach denen ca. 75 % der Älteren, die einen Suizid begingen, zuvor ihren Hausarzt aufsuchten, ohne dass dieser die depressive Erkrankungen erkannt hat.
Im Zusammenhang mit der ambulanten hausärztlichen Versorgung spielt gerade für ältere Menschen der Bereitschaftsdienst am Wochenende eine wichtige Rolle. Die jetzt von der Kassenärztlichen Vereinigung fast landesweit umgesetzte Regelung der hausärztlichen Bereitschaftsdienste mit deutlich größeren Einzugsbereichen entspricht der Interessenlage von älteren und nicht mobilen Menschen in keinster Weise. Auch hier sind Korrekturen zwingend notwendig.
Wir brauchen beim Thema Alterssuizid eine bessere wissenschaftliche Grundlage. Deshalb fordern wir die Einrichtung eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes des Landes Niedersachsen, um die Ursachen von Alterssuiziden so weit wie möglich zu erfassen und Handlungsnotwendigkeiten aufzuzeigen. Es ist unsere gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Menschen im Alter ihr Selbstbestimmungsrecht behalten und im wahrsten Sinne des Wortes in Würde altern können.
Deshalb, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, hoffen wir auf eine konstruktive und zielorientierte Beratung unseres Antrages. Wir betreten damit zweifellos Neuland. Ich glaube aber, es könnte sich lohnen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat: Das Thema Suizid im Alter gewinnt immer mehr an Brisanz. Wie im Antrag der SPD-Fraktion schon ausgeführt, stirbt fast alle zwei Stunden ein Mensch von über 60 Jahren durch die eigene Hand. Dieser traurige Trend wird wegen des demografischen Wandels noch zunehmen.
Suizid im Alter geht, wie es ein Wissenschaftler ausdrückte, mit der Entwertung des Altseins einher. So ist das Ganze auch ein kulturspezifisches Phänomen. So gibt es in den Selbsttötungsstatistiken ein Nord-Süd-Gefälle. Beispielsweise im Mittelmeerraum, wo die Familien noch intakter zusammenleben, werden deutlich weniger Suizide verzeichnet als im nördlichen Europa. Traurige Spitzenreiter sind zurzeit die baltischen Staaten.
Deutschland liegt im Mittelfeld. In einer gesamtdeutschen Betrachtung liegt Niedersachsen ebenfalls im Mittelfeld.
In Deutschland sterben jährlich - Herr Schwarz, ich habe auch so recherchiert - ungefähr 11 000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr als durch Verkehr, Drogen, Mord oder Aids zusammen. Fachleute gehen zudem von einer 20-prozentigen Dunkelziffer aus, was die unerkannten Suizide betrifft.
Die Zahl der Suizidversuche ist schätzungsweise 15 bis 20 Mal so hoch. Zwei von drei Suiziden werden von Männern verübt. Insbesondere ältere Männer haben ein erhöhtes Risiko. Bei den Suizidversuchen sind besonders junge Frauen gefährdet.
Nun erschrickt es mich, dass der Ausgangspunkt für jede Art der Beschäftigung mit diesem Thema entweder die eigene Betroffenheit ist oder, wie jetzt, die Beschäftigung mit den Fakten und Statistiken. In der Tat: Suizid im Alter ist ein Tabuthema. Man spricht nicht darüber. Es wird nicht wahrgenommen oder nicht ernst genommen.
Wir müssen uns aber immer wieder vergegenwärtigen, dass sich hinter diesen statistischen Zahlen Menschenleben verbergen. Insbesondere nach einem Suizid gibt es geschockte Angehörige, Freunde, Verwandte oder Nachbarn. Kinder, Nachbarn oder Freunde z. B. erinnern sich erst nachträglich an Äußerungen wie: „Ich bin ja doch nur eine Last, es wäre besser für euch, wenn ich gar nicht mehr da wäre!“, oder: „Ein Leben unter den gegebenen Umständen ist einfach nicht mehr lebenswert für mich.“ - Die beste Prävention, so sagen Betroffene, sind Gespräche. In einer Überschrift las ich: Suizid ist die Abwesenheit der anderen.
Obwohl die Zahl der Suizide seit den 90er-Jahren insgesamt rückläufig ist, muss man sich mit der Thematik auseinandersetzen. Wir hörten eben, dass sich bei der Alterspyramide der Schwerpunkt in die höheren Altersstufen verlagert. Auch bei den Suizidfällen liegt der Schwerpunkt im Bereich jenseits des Alters von 60 Jahren. Dies wird sich demografiebedingt natürlich noch stärker niederschlagen. In der Summe müssen wir also über Menschen reden, die Hilfe benötigen.
Menschen in unserer Gesellschaft haben, wenn sie an das Sterben denken, nachvollziehbare Angst vor Schmerzen, Angst, allein gelassen zu werden, oder auch Angst vor einer nicht würdevollen Behandlung. Übrigens folgt erst danach die Angst vor einer nicht mehr loslassenden Medizin. Die Angst vor der Zukunft im Alter, nämlich nur eine Last zu sein, ist ein großes und sicher zunehmendes Problem in unserer Gesellschaft.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns alle in dieser Gesellschaft fragen: Wird in unserer Gesellschaft das Alter - warum ist das gegebenenfalls so - immer weniger mit Würde, Weisheit und sozialer Kompetenz gleichgesetzt? - Das ist in Staaten mit weniger Alterssuizidfällen übrigens
Wenn sich ein älterer Mensch umbringen will, liegt der Grund vor allen Dingen in fehlenden Ressourcen, um die seelischen Krisen zu bewältigen. Die Menschen, die sich in diesen Lebensphasen befinden, sind dann überfordert. Sie sind allein gelassen und können die Krise allein nicht bewältigen. Meist werden soziale Bedingungen als Auslöser für den Alterssuizid genannt: Tod des Partners, Auseinandersetzungen im Familienverband, Umzug in ein Altenheim, mangelnde soziale Integration, Isolation und Einsamkeit. Diese Faktoren führen zu Depressionen. Depressive Erkrankungen sind bei Suiziden die entscheidenden Faktoren, egal ob bei jungen oder alten Menschen.