Protocol of the Session on January 15, 2009

„Wir sprechen uns für einen Sozialstaat aus, der gegenüber Kindern und Familien mit möglichst wenig Sanktionsdrohungen und Pflichten auskommt und der stattdessen durch bedarfsdeckende Sozialleistungen sowie durch zuverlässige und beitragsfreie Infrastrukturprogramme das Kindeswohl sichert. Die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung würde eine Sozialpolitik einschließen, die die millionenfache Kinderarmut in die Geschichtsbücher verbannt.“

Nur um einmal zu präzisieren, was ich eingangs gesagt habe.

Genau das ist der springende Punkt auch bei der Bewertung des uns vorliegenden Gesetzentwurfes. Zu klären ist, wie wir einen Generalverdacht für die Erziehungsberechtigten vermeiden und dabei das Kindeswohl im Auge behalten. Das ist ja der Spagat, von dem ich eingangs gesprochen habe.

Auch die Linke denkt über die Verbesserung der Einflussmöglichkeiten von z. B. Jugendämtern und Kinderärzten oder Betreuungspersonen nach, keine Frage, damit bei diesen Vernachlässigungen unverzüglich eingegriffen werden kann. Zentral für die optimalen Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern ist aber der Ausbau unterstützender Angebote der Kinder- und Jugendarbeit, um den Zugang zu frühkindlicher Bildung zu gewährleisten. Hier haben Sie im Prinzip erst einmal den Stift anzusetzen. Aber Sie setzen dem - das ist der Verdacht - möglicherweise eine Law-and-Order-Politik entgegen. Das ist unsere Kritik an dieser Gesetzesvorlage.

Mehr Verbindlichkeit sowie inhaltliche und strukturelle Veränderungen bei den Vorsorgeuntersuchungen für Kinder können ebenfalls ein Mittel zur Stärkung des Kinderschutzes sein. Datenschützer wie der Leiter des unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein, Thilo Weichert, kritisieren, dass sich eine faktische Abschaffung sämtlicher datenschutzrechtlicher Schranken negativ auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Kindern und deren Eltern auswirken würde. Wenn man es pädagogisch betrachtet, ist dies aber eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit gerade zum Wohle des Kindes. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Erst wenn sich herausstellt, dass trotz des Einsatzes von größeren finanziellen Mitteln für Personal und Projekte im Zusammenspiel mit Früherkennungs- bzw. Vorsorgeuntersuchungen in Arztpraxen, Kindergärten und Schulen keine Verbesserung der Situation eintritt, darf über die Aufweichung des Datenschutzes diskutiert werden. Aber so weit sind wir nach unserer Auffassung noch lange nicht, gerade vor dem Hintergrund, dass gerade Sie von den Regierungsfraktionen eine Änderung unserer Landesverfassung hin zu einem einklagbaren Recht des Kinderschutzes seit Langem blockieren. Nehmen Sie lieber Ihr Erfolgsmodell der Familienhebammen zum Maßstab, und entwickeln Sie dieses Konzept zusammen mit den

Verbänden weiter, um ähnliche Projekte in der Kinder- und Jugendhilfe zu schaffen.

Die Linksfraktion wird während der weiteren Beratungen Vorschläge einbringen, wie wir den Kindesschutz und den Datenschutz in Einklang bringen können.

(Glocke der Präsidentin)

- Ich komme zum Schluss. - Dazu werden Sie von den Regierungsfraktionen sich bewegen müssen; denn auch Ihre niedersächsische Sozialpolitik steht Tag für Tag auf dem Prüfstand.

Ich hoffe auf eine konstruktive Debatte im Ausschuss und danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vielen Dank, dass ich zehn Sekunden überziehen konnte.

(Beifall bei der LINKEN)

Herzlichen Dank, Herr Humke-Focks. - Gerade noch in der letzten Sekunde hat sich Herr Kollege Schwarz von der SPD-Fraktion zu Wort gemeldet. Bitte schön!

Ich konnte das notleidende Gesicht von Frau Mundlos nicht mehr ertragen. Deshalb habe ich mich zuerst gemeldet.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier seit langer Zeit über unfassbare Kinderschicksale, über Verwahrlosung, Misshandlung und auch Kindesmord. Immer neue Fälle schrecken die Öffentlichkeit auf. Wir sind uns darin einig, dass wir ein Bündel von Maßnahmen brauchen, um Kinder wirkungsvoll zu schützen und Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken. Ich verzichte an dieser Stelle auf das regelmäßige Wiederholen unserer Positionen. Die sind hier hinlänglich bekannt.

(Zuruf von der CDU)

- Wenn Sie so dazwischen rufen, mache ich es vielleicht doch.

Vieles von dem, was die Ministerin hier zum Kinderschutz vorgetragen hat, ist zwischen uns in der Sache überhaupt nicht strittig. Das Problem ist nur: Das meiste von dem, was die Ministerin richtigerweise vorträgt, setzt sie in ihrem Verantwortungsbereich nicht um. Ich will vier Beispiele ansprechen.

Erstens. Frau Mundlos hat uns hier im Juli vergangenen Jahres vorgeworfen, wir würden in Sachen Kinderschutz an gestörter Wahrnehmung leiden. So war ihre wörtliche Formulierung. Sie sagte weiter: „Das Land richtet in Kürze ein Kindernotruftelefon ein, das 24 Stunden am Tag erreichbar ist.“ Die Wahrheit ist: 2009 haben Sie das Geld aus dem Haushalt wieder gestrichen. Die Wahlkampfpropaganda war damit erfüllt. - Nun frage ich mich, Frau Mundlos: Wer hat hier eigentlich Wahrnehmungsstörungen?

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Zweitens. Seit zwei Jahren kämpfen wir darum, dass Kinderrechte in der Landesverfassung verankert werden. Sie haben hier anderthalb Jahre lang auf der Bremse gestanden, haben jeden Antrag abgeschmettert oder liegen gelassen. Zwischenzeitlich warten wir auf ein Ergebnis des GBD. Im Deutschen Bundestag hat Ihre Partei dafür gesorgt, dass es auch dort nicht weitergeht. Und nicht zuletzt hat dieselbe Landesregierung, die hier wohlfeile Worte findet, gerade erst im September vergangenen Jahres einen Antrag der Länder Rheinland-Pfalz und Bremen auf Aufnahme des Kinderschutzes in die Verfassung verhindert. Meine Damen und Herren, das ist unglaubwürdig, das ist widersprüchlich. Was Sie hier treiben, ist im Prinzip scheinheilig.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Drittens. Niedersachsen ist - das haben wir gestern gehört - bundesweit das erste Land, das ein Spielplatzgesetz für Kinder ersatzlos abgeschafft hat.

(Zuruf von der SPD: Pfui!)

Da stehen Sie auf Platz eins. Auf der anderen Seite ist Niedersachsen eines der letzten Länder, wenn es darum geht, rechtliche Grundlagen für Kindervorsorgeuntersuchungen zu schaffen.

Viertens. Darauf hat Frau Staudte schon hingewiesen, deshalb sage ich es nur ganz kurz: Diese Mogelpackung Familienhebammen kann ich bald nicht mehr ertragen. Wir wissen, dass das ein ganz zwingendes Instrument ist. Sie machen damit monatlich Presse, aber dieses Land entzieht sich seiner Verantwortung, indem es die Kommunen bei der Finanzierung allein lässt.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

Es wird immer deutlicher, dass bei Ihnen Reden und Handeln in Sachen Kinderschutz nicht übereinstimmen. Das ist bei dem Thema besonders bitter.

Ich erkenne übrigens an, dass die Pressestelle des Sozialministeriums wirklich regelmäßig mühsam versucht, à la Rumpelstilzchen aus Stroh Gold zu machen. Aber bei der unendlichen Geschichte der Vorsorgeuntersuchungen funktioniert auch das nicht mehr. Seit Mai 2006 verkünden Sie, sehr geehrte Frau Ministerin, die Schaffung eines verbindlichen Einladungswesens. Im Abstand von drei Monaten haben Sie mit Bausteinen regelmäßig stupide diese Pressemitteilung wiederholt. Über drei Jahre war Ihr Ministerium nicht in der Lage, diese lächerlichen vier Seiten Gesetzestext zur Beratung ins Parlament einzubringen, obwohl Sie es im Kern eigentlich nur noch von anderen Bundesländern hätten abschreiben müssen. Am 2. April vorigen Jahres erklärte Ihr Pressesprecher noch: „Das Ministerium arbeitet auf Hochtouren, um ein entsprechendes Gesetz vorzulegen.“ Meine Damen und Herren, wenn das bei Ihnen hochtourige Arbeit ist, dann ist Schneckentempo Überschallgeschwindigkeit.

(Beifall bei der SPD, bei den GRÜ- NEN und bei der LINKEN)

In Wirklichkeit ist das ein Offenbarungseid an Unentschlossenheit, Unvermögen und Lustlosigkeit, der nur schwer zu toppen ist. Das finde ich, gerade wenn es zulasten der Kinder geht, ziemlich unerträglich.

(Zustimmung von Ina Korter [GRÜ- NE])

Meine Damen und Herren, wer nun geglaubt hat, nach mehr als dreieinhalb Jahren Vorbereitung ein umfassendes Kinderschutzgesetz vorgelegt zu bekommen, der ist abermals bitter enttäuscht. Der mit Abstand stärkste Teil dieses Gesetzes ist die Begründung. Hätten Sie die Begründung zum Gesetzestext gemacht, hätten wir uns an der einen oder anderen Stelle vermutlich einigen können. Der eigentliche Gesetzestext ist nach meiner Auffassung nicht nur peinlich, sondern er ist - das wissen Sie auch - in Teilen verfassungswidrig. Sie schreiben in der Begründung: „Dieses Gesetz dient der Verbesserung der Kindergesundheit und dem Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung.“ Schön wär’s! Schon bei der Zielbeschreibung in § 1 kommt der Schutz vor Vernachlässigung und Misshandlung gar nicht mehr vor. Sie schaffen hier ein reines Meldegesetz. In

dem Gesetzentwurf findet sich nichts von dem, was Sie in der Begründung gesagt haben. Sie schreiben von der Notwendigkeit der Vernetzung von frühen Hilfen und verlässlichen und verbindlichen Kooperationen aller Institutionen. - Meine Damen und Herren, das fordern wir schon lange. Darin sind wir uns einig. In dem Gesetzentwurf aber steht dazu kein einziges Wort.

Sie schreiben in der Begründung von Gesundheitszielen und von der Bekämpfung von Übergewicht und Bewegungsmangel bei jungen Menschen. - Das sehen wir genauso; das ist richtig klasse. Aber im Gesetzentwurf steht dazu kein einziges Wort.

Meine Damen und Herren, die ersten Adressen, wenn es um Kinderschutz geht, nämlich die Ärzte des Kinder- und Jugenddienstes, die Kinder- und Jugendärzte, die Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die kommunalen Spitzenverbände, schreiben Ihnen ins Stammbuch, dass sie den Nutzen dieses Gesetzes für den Kinderschutz bezweifeln und dass in diesem Gesetz jede Regelung zur stärkeren Kooperation von Jugendhilfe und öffentlichem Gesundheitsdienst fehlt.

Es kommt noch etwas hinzu. Die Fachleute des öffentlichen Gesundheitsdienstes, mit deren Sachverstand Sie sich bei jeder Kinderschutzkonferenz schmücken, haben Sie sogar vergessen, zur Anhörung hinzuzuziehen. Sie mussten sich selbst einladen. Ich finde das nur noch peinlich. Das macht aber auch deutlich, wie ernsthaft Sie das Thema angehen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Die Kommunen werfen Ihnen zu Recht den Bruch der Verfassung vor. Erstens erwarten Sie, dass die Kommunen Ihnen unentgeltlich die Adressen melden. Das ist der erste Bruch hinsichtlich der Konnexität. Zweitens sind Sie auf die Idee gekommen, dass hierzu zweimal eingeladen wird. Wenn keine Rückmeldung erfolgt - übrigens an eine für betroffene Eltern völlig anonyme Behörde; Kinder werden zukünftig von einer völlig anonymen Behörde aufgefordert werden, zu einer Vorsorgeuntersuchung zu gehen -, werden die Adressen dem Jugendamt mitgeteilt, wobei dann noch nicht einmal sicher ist, ob überhaupt eine Untersuchung stattgefunden hat. Dazu steht in dem Gesetzentwurf - ich formuliere es jetzt etwas lax -: Was die Jugendämter damit machen, ist egal, die sollen das mal regeln.

Gleichzeitig aber schreiben Sie in den Gesetzentwurf, dass, wenn eine Untersuchung nicht erfolgt ist, dies durchaus ein Indiz dafür sein kann, dass Eltern mit ihren Kindern nicht sorgfältig umgehen. Sie schreiben, das sei ein Indiz dafür, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte. Als Juristin wissen Sie nun ganz genau, dass die Jugendämter dann, wenn das der Fall ist, diesen Adressen zwingend nachgehen müssen. Tun sie es nicht und liegt auch in nur einem einzigen Fall tatsächlich eine Gefährdung des Kindeswohls vor, dann machen sich die Jugendämter strafbar.

Insofern drücken Sie den Kommunen auf eine ziemlich merkwürdige Art und Weise eine neue Aufgabe auf und entziehen sich wieder einmal komplett der Kostenbeteiligung. Ich halte das, was Sie an dieser Stelle machen, für unerträglich.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, wir reden hier auch nicht über Peanuts. Das Ministerium selbst geht davon aus, dass die Jugendämter mindestens bei 16 000 Adressen nachfassen müssen. Die kommunalen Spitzenverbände sprechen sogar von mindestens 21 000 Adressen. Das bedeutet für jeden Landkreis, dass er im Durchschnitt ungefähr 500 Adressen bearbeiten muss. Dort muss dann ein Hausbesuch durchgeführt werden, dort muss man gucken, was los ist. Und das, obwohl die Jugendämter schon heute weit über den Stehkragen hinaus voll mit Arbeit sind und ihre originären Aufgaben nicht wahrnehmen können.

Das Ministerium gönnt sich für seine Statistikstelle 13,5 neue Stellen. Aber von den Jugendämtern erwarten Sie, dass sie die Aufgabe kostenneutral wahrnehmen. Ich finde das unanständig. Mit Kinderschutz hat das nichts zu tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Warum verfahren Sie, wenn Sie so ein Gesetz verabschieden wollen, eigentlich nicht so wie andere Bundesländer? Warum beispielsweise geben Sie die Adressen nicht an den öffentlichen Gesundheitsdienst, vom Kinderarzt zum Gesundheitsdienst oder von Arzt zu Arzt? Wenn Sie so verfahren würden, würde ein Arzt dorthin gehen und an der Haustür klingen. Das hat bei den Eltern doch eine ganz andere Wirkung, als wenn das Amt an der Tür klingelt. Außerdem glaube ich, dass, wenn man das Gefühl hat, dass eine Gefährdung

des Kindeswohls vorliegt, ein Arzt des öffentlichen Gesundheitsdienstes dies im Zweifel besser erkennen kann als ein Sozialarbeiter. Der Arzt könnte auf der Ebene seiner Behörde auch gleich das Jugendamt einschalten.

Ich hielte das für einen rationaleren, aber auch für einen wesentlich vernünftigeren Weg. Ich weiß nicht, warum Sie sich dem verweigern. Alle Fachleute haben Ihnen diesen Weg angeraten. Aber Fachverstand wird bei Ihnen, meine Damen und Herren, in der Regel ja nicht zur Kenntnis genommen.

(Beifall bei der SPD - Glocke der Prä- sidentin)

- Letzter Satz, Frau Präsidentin! - Der Niedersächsische Städtetag sagt dazu: Mit diesem Gesetzentwurf wird Aktivität nur vorgetäuscht. - Er hat recht mit dieser Aussage. Dieses Gesetz hilft nicht den Kindern. Es beruhigt vielleicht Ihr Gewissen, aber es bringt uns keinen Millimeter weiter. Nach dreieinhalb Jahren hätten unsere Kinder in diesem Land mehr verdient, meine Damen und Herren.