Herr Kollege Dr. Biester, ich glaube, ich habe mich in der Tat missverständlich ausgedrückt. Darum bin ich Ihnen dankbar, dass Sie darauf hinweisen.
Erstens sollten wir es uns nicht zu leicht machen und alle Schuld oder Verantwortung für mögliche Fehler im Zusammenhang mit dem NSU beim Verfassungsschutz suchen, sondern wir sollten sehr genau hinschauen, ob und wo es auch in anderen Behörden Versäumnisse gegeben hat.
Zweitens sollten wir die Frage stellen - Sie haben recht, es wurde von mir fälschlicherweise als Feststellung formuliert -, ob an der einen oder anderen Stelle auch institutioneller Rassismus mit dafür verantwortlich war. Bei den Ermittlungen in Köln und z. B. auch bei der Staatsanwaltschaft wurde und wird noch heute gesagt, es habe Indizien gegeben, dass Organisierte Kriminalität im Türken- und Kurdenmilieu verantwortlich war. Da sollten wir schon die Frage stellen, ob institutioneller Rassismus die Ermittlungen in diesem Fall beeinträchtigt hat. Aber ich habe es nicht als Feststellung gemeint, Herr Dr. Biester, insofern herzlichen Dank für die Frage.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich stelle fest, dass die Besprechung der Großen Anfrage damit abgeschlossen ist.
Wir sind am Ende der Tagesordnung für den Vormittag und treten in die Mittagspause ein. Wir setzen die Tagesordnung nach einer eineinviertelstündigen Pause um 14.45 Uhr mit den Dringlichen Anfragen fort.
Es liegen drei Dringliche Anfragen vor. Die für die Behandlung Dringlicher Anfragen geltende Geschäftsordnungsbestimmung setze ich als allgemein bekannt voraus. Ich weise wie üblich besonders darauf hin, dass einleitende Bemerkungen zu den Zusatzfragen nicht zulässig sind, also auch bitte nicht diese übliche Mehrfacheinleitung „Vor dem Hintergrund …“.
Um dem Präsidium den Überblick zu erleichtern, bitte ich Sie außerdem, sich nach wie vor schriftlich zu Wort zu melden, wenn Sie eine Zusatzfrage stellen möchten.
Sicherheitsüberprüfungen von niedersächsischen Atomanlagen - Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 16/4763
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung hat kurz nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 bei der Reaktor-Sicherheitskommission eine Untersu
chung über die Sicherheit von Atomkraftwerken und anderen Atomanlagen in Auftrag gegeben. Die EU-Kommission will dem Rat für Verkehr, Telekommunikation und Energie am 15. Juni 2012 eine umfassende Sicherheits- und Risikobewertung aller europäischen Atomkraftwerke - in der Öffentlichkeit diskutiert unter dem Stichwort „Stresstests“ - vorlegen. Die Überprüfungen umfassen jedoch nicht alle denkbaren Störfallszenarien, die nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima diskutiert wurden.
In Niedersachsen sind zurzeit noch zwei Atomkraftwerke, und zwar in Lingen und in Grohnde, am Netz. Außerdem gibt es eine Reihe von Zwischenlagern für hoch radioaktiven Atommüll, ein havariertes Lager in der Asse, eine Brennelementefertigungsanlage in Lingen und zahlreiche Zwischenlager für mittel- und schwach radioaktiven Atommüll.
1. Welche Störfallszenarien und Gefahrenprognosen haben a) die Atomaufsicht selbst, b) die Reaktor-Sicherheitskommission und c) die EU-Kommission ihren Prüfungen zur Reaktorsicherheit zugrunde gelegt?
2. Welcher Nachrüstungsbedarf besteht nach der Ansicht der Landesregierung für die Atomkraftwerke in Lingen und Grohnde, die dortigen Brennelementezwischenlager, das Brennelementezwischenlager am AKW Unterweser und das Castorlager Gorleben, um die Sicherheit nach Kriterien der praktischen Vernunft gewährleisten zu können, und bis wann muss die Nachrüstung erfolgt sein bzw. welche Maßnahmen sind bereits umgesetzt?
3. Halten die Betreiber der Atomkraftwerke E.ON und RWE an den Anträgen zur Erhöhung der Reaktorleistung für die AKW Lingen und Grohnde fest?
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der folgenschwere Unfall am 11. März 2011 im japanischen Kernkraftwerk Fukushima
wurde durch ein starkes Erdbeben und einen nachfolgenden Tsunami hervorgerufen. Unmittelbar danach wurden Maßnahmen auf regulatorischer und politischer Ebene getroffen, die die Überprüfung der Sicherheit der in Betrieb befindlichen deutschen Kernkraftwerke und die zukünftige Nutzung der Kernenergie in Deutschland betrafen.
Die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Bundesländer mit Kernkraftwerksstandorten haben am 14. März 2011 beschlossen, die Sicherheit aller Kernkraftwerke in Deutschland im Lichte der Ereignisse in Japan zu überprüfen. Sie beschlossen ferner, die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke im Rahmen eines Moratoriums für einen Zeitraum von drei Monaten vom Netz zu nehmen. Mit dem Inkrafttreten der AtG-Novelle im November 2011 ist die Genehmigung zum Leistungsbetrieb für die sieben ältesten Anlagen und auch für das Kernkraftwerk Krümmel erloschen.
Mit der Aufgabenstellung und der abschließenden Bewertung der als Robustheitstest angelegten Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Kernkraftwerke wurde die aus anerkannten Experten bestehende unabhängige Reaktor-Sicherheitskommission beauftragt. Gemäß dem von der RSK erstellten Anforderungskatalog für die anlagenbezogenen Überprüfungen der deutschen Kernkraftwerke war insbesondere zu ermitteln, inwieweit die drei übergeordneten Schutzziele Abschaltbarkeit, Kühlung der Brennelemente im Reaktordruckbehälter sowie im Brennelementelagerbecken und Begrenzung der Freisetzung radioaktiver Stoffe bei über die bisher angesetzten Auslegungsanforderungen hinausgehenden Einwirkungen von außen eingehalten werden. Ebenso untersucht wurden zivilisatorisch bedingte Ereignisse, wie z. B. Flugzeugabsturz, Explosionsdruckwellen, terroristische Einwirkungen und mögliche Beeinflussungen durch Nachbarblöcke.
Die Sicherheitsüberprüfung ist von den Betreibern der deutschen Kernkraftwerke anhand des Fragenkatalogs der RSK durchgeführt worden und auf Basis der von den atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden der Länder und den Expertenorganisationen geprüften Unterlagen durch die RSK entsprechend bewertet worden.
Zusammenfassend konnte die RSK am 16. Mai 2011 in ihrer Stellungnahme zunächst feststellen, dass im Vergleich mit dem Kernkraftwerk in Fukushima hinsichtlich der Stromversorgung und der Berücksichtigung von Hochwasserereignissen für
Weitere Robustheitsbewertungen zeigten, dass kein einheitliches Ergebnis in Abhängigkeit von Bauart oder Alter auszuweisen ist. Bei älteren Anlagen mit ursprünglich geringeren Auslegungsanforderungen waren in der Vergangenheit zur Sicherstellung der notwendigen Sicherheitsfunktionen Notstandssysteme nachgerüstet worden. Dies führte punktuell zu hohen Robustheitslevels auch bei älteren Anlagen.
Dennoch wurde von der RSK weiterer Untersuchungs- und Bewertungsbedarf ausgewiesen. Die RSK hatte in ihrer 438. Sitzung am 9. Juni 2011 konkrete Beratungsthemen identifiziert. Hierbei handelte es sich beispielsweise beim Thema Erdbeben um die Ermittlung von Überschreitenswahrscheinlichkeiten für die Erdbebenbeschleunigung an konkreten Standorten, die möglicherweise zu höheren Bemessungserdbeben führen können. Beim Thema Hochwasser sollen etwa der Schutz von Kanälen und Gebäuden hinsichtlich des Eindringens von Wasser und die Aufschwimmsicherheit bei höherem Hochwasser sowie die Frage der Zugänglichkeit des Anlagengeländes bei längerfristiger Überflutung beraten werden. Für das Thema Station Blackout werden der Nichtleistungsbetrieb und die Kühlung der Brennelemente im Lagerbecken überprüft.
Nach dem bislang bekannten Fahrplan der RSKBeratungen ist mit der abschließenden Stellungnahme der RSK zu diesen Themen im Herbst dieses Jahres zu rechnen. Die RSK hat sich aber vorbehalten, beim Vorliegen neuer Erkenntnisse zum Unfall am Standort in Fukushima zusätzliche Forderungen zur Optimierung der Anlagen oder zur Anpassung des kerntechnischen Regelwerks zu formulieren. Die Aufgabenstellung für diese Überprüfung sowie die Stellungnahme der RSK sind veröffentlicht und auf den Internetseiten des BMU einsehbar.
Auf der europäischen Ebene hat der Europäische Rat am 24./25. März 2011 erklärt, dass „die Sicherheit aller kerntechnischen Anlagen der EU mittels einer umfassenden und transparenten Risikosicherheitsbewertung (‚Stresstest’) überprüft werden sollte“. Für diese EU-Stresstests erarbeitete die European Nuclear Safety Regulators Group (ENSREG) die Methodik, den Umfang und den Ablaufplan der Überprüfungen. Die Erklärung der ENSREG wurde am 25. Mai 2011 veröffentlicht.
Detaillierte Anforderungen zu Inhalt und Struktur der nationalen Berichte sowie zu den Überprüfungsmissionen wurden am 11. Oktober 2011 von ENSREG verabschiedet. Die Peer Reviews wurden im Verlauf des Frühjahrs 2012 durchgeführt. Dieser EU-Stresstest ist in Deutschland zusätzlich zu der bereits beschriebenen Sicherheitsüberprüfung der RSK durchgeführt worden. Auch das im Nichtleistungsbetrieb befindliche Kernkraftwerk Unterweser wurde vollumfänglich in alle Überprüfungen mit einbezogen.
Der EU-Stresstest zeigt auf, dass für die drei zentralen Sachthemen, nämlich externe Ereignisse wie z. B. Erdbeben oder Hochwasser, den Ausfall von Sicherheitsfunktionen - das sind z. B. der Ausfall von Strom oder Kühlwasser - sowie Notfallmaßnahmen, bereits bei der Errichtung der niedersächsischen Anlagen konservative und robuste Designanforderungen verwirklicht wurden.
Die für Deutschland ausgesprochenen Empfehlungen der Experten zur weiteren Verbesserung betreffen die stärkere Berücksichtigung internationaler Vorgehensweisen zur Bewertung von Erdbeben und extremen Unwettern. Dabei geht es nicht um technische Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit, sondern um wissenschaftliche Annahmen. Dies wird derzeit in der RSK diskutiert.
Schon die RSK hatte festgestellt, dass die deutschen Anlagen für konkrete, ausgewählte Aspekte zum Teil hohe Robustheitsgrade aufweisen. Der Bericht zeigt aber auch Möglichkeiten für sicherheitstechnische Verbesserungen der Kraftwerke insbesondere im Bereich des Notfallschutzes auf.
Für den Fall eines auslegungsüberschreitenden Störfalls sind bei den deutschen Kernkraftwerken anlageninterne Notfallmaßnahmen vorgesehen. Hierzu zählen die Druckentlastung mit Filterung der abgeführten Gase für den Sicherheitsbehälter, zusätzliche Stromversorgungen, Druckentlastung für den Reaktordruckbehälter und Möglichkeiten für zusätzliche Kühlwassereinspeisung. Zur Vermeidung von Wasserstoffexplosionen werden bei den Druckwasserreaktoren im Sicherheitsbehälter sogenannte Rekombinatoren eingesetzt, die den Wasserstoff abbauen.
Alle diese Notfallmaßnahmen sollen das Eintreten einer Kernschmelze verhindern oder, falls diese nicht abgewendet werden kann, die Auswirkungen auf die Umgebung vermindern. In allen deutschen Kernkraftwerken sind für solche Notfälle die Vorgehensweisen und Strategien im Notfallhandbuch des jeweiligen Kernkraftwerks beschrieben.
Die Umsetzung dieser Möglichkeiten für sicherheitstechnische Verbesserungen werden die Aufsichtsbehörden überprüfen. Das BMU hat die RSK aufgefordert, die Ergebnisse des EU-Stresstests bei ihren weiteren Beratungen zur möglichen Verbesserung der Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke zu berücksichtigen. Auch diese Aspekte sollen in der für den Herbst angekündigten Stellungnahme enthalten sein.
Im Rahmen des EU-Stresstests wurden im deutschen Nationalbericht neben Untersuchungen zu den drei Schwerpunktthemen auch die Aussagen der RSK zu zivilisatorischen Einwirkungen wie Flugzeugabsturz, Gasexplosionen außerhalb der Anlage und terroristische Angriffe dargestellt. Die Darstellungen gingen damit deutlich über den in der EU festgelegten Rahmen und die für eine Übertragbarkeitsprüfung des Ereignisses in Fukushima notwendigen Sachthemen hinaus.
Der deutsche Nationalbericht zum EU-Stresstest ist auf den Internetseiten des BMU und zusätzlich - wie die Berichte weiterer EU-Mitgliedsstaaten - auf den Internetseiten der ENSREG eingestellt und damit für die Öffentlichkeit zugänglich.
Seit dem 26. April 2012 liegt der Bericht der ENSREG über die Bewertung des deutschen Nationalberichts zum EU-Stresstest öffentlich zugänglich auf den Internetseiten der ENSREG vor. Zudem haben die deutschen Kernkraftwerksbetreiber ihre Berichte zu den EU-Stresstests auf ihren eigenen Internetseiten veröffentlicht. Die Verknüpfungen sind in der Anlage zum deutschen Nationalbericht zum EU-Stresstest enthalten.
Die Reaktor-Sicherheitskommission hat aus den Ergebnissen der anlagenspezifischen Überprüfung im Rahmen der deutschen Stresstests erste Empfehlungen für weitere Betrachtungen abgeleitet. Einige anlagenspezifische Verbesserungsmaßnahmen sind bereits umgesetzt oder in Planung. Die Ergebnisse des EU-Stresstests werden in die weiteren Bewertungen der RSK einfließen.
Die Betreiber der niedersächsischen Kernkraftwerke haben den Prozess der europäischen Sicherheitsüberprüfung aktiv unterstützt. Sie haben darüber hinaus auch geprüft, inwieweit Maßnahmen geeignet und sinnvoll sind, die nukleare Sicherheit der Anlagen im Sinne einer Abmilderung von Unfallfolgen, beispielsweise durch die Erstellung von sogenannten Severe Accident Management Guidelines und ihre Aufnahme in das Betriebsreglement, zu verbessern.