Protocol of the Session on November 16, 2007

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie ernst die Lage der niedersächsischen Justiz mittlerweile ist, zeigt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. September. Das

höchste deutsche Gericht hat festgestellt, dass es den Angeklagten nicht anzulasten sei, wenn sich ihr Prozess in die Länge ziehe, nur weil der Staat die Justiz nicht mit dem erforderlichen richterlichen Personal ausstattet.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vermutlich kennen Sie alle die oft etwas verklausulierte Sprache der Juristen und Juristinnen. Wenn also das Bundesverfassungsgericht einer Landesregierung das Versagen bei der Personalausstattung in derartig unverblümter Deutlichkeit ins Stammbuch schreibt, dann müssten eigentlich bei der Fachministerin, aber auch beim Ministerpräsidenten die Alarmglocken läuten.

(Beifall bei der SPD)

Das ist jedenfalls die einzige vernünftige Reaktion auf solche höchstrichterliche Schelte.

Doch was macht die Landesregierung? - Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vom 5. Oktober die Behauptung der Justizministerin lesen durfte, die niedersächsische Justiz sei nicht überlastet. Bei dem Bundesverfassungsgerichtsurteil handele es sich um einen hannoverspezifischen Einzelfall, aus dem keine Rückschlüsse auf das ganze Land gezogen werden dürften.

Frau Heister-Neumann, was machen Sie eigentlich den ganzen Tag? Wenn sich die Überlastung der

niedersächsischen Justiz tatsächlich noch nicht bis ins Justizministerium herumgesprochen hat, dann hätten Sie doch einfach zum Telefonhörer greifen und sich bei den Gerichten im Lande erkundigen können. Stattdessen behaupten Sie ungeprüft,

Niedersachsens Justiz sei nicht überlastet.

Es wundert mich vor diesem Hintergrund nicht, dass der Niedersächsische Richterbund mit einer ungewöhnlich deutlichen Presseerklärung reagiert hat, ja reagieren musste. Die Überschrift lautet in aller Deutlichkeit:

„Justizministerium verleugnet die landesweite Überlastung der Gerichte

und Staatsanwaltschaften“

(Zuruf von der SPD: Was ist mit Os- nabrück?)

In der Presseerklärung heißt es wortwörtlich:

„Der Niedersächsische Richterbund … nimmt die … Auffassung der Justizministerin Elisabeth Heister-Neu

mann, die Justiz in Niedersachsen sei nicht überlastet, mit großem Befremden zur Kenntnis. Der NRB hat erst im Mai dieses Jahres in seiner Landesvertreterversammlung aufgrund der

auch dem Justizministerium vorlie

genden, belastbaren Statistiken festgestellt, dass in Niedersachsen allein in der ordentlichen Gerichtsbarkeit

300 (dreihundert) Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Richterinnen und Richter fehlen.“

Frau Ministerin, wenn die Zahlen schon im Ministerium vorliegen, warum ignorieren Sie sie dann?

Wenn Ihnen die Belastungszahlen zu abstrakt sind, dann werfen Sie doch einfach einen Blick in die Presse. Am 25. Oktober schreibt das Stader Tageblatt:

„Stader Justiz vor dem Infarkt

Prozesse satt - Die drei Strafkammern des Landgerichts arbeiten im roten Bereich“

Oder schauen Sie in die Braunschweiger Zeitung vom 6. November! Dort heißt es:

„Die Richter des Amtsgerichts Wolfenbüttel sind überlastet. ‚Die Folge

ist, dass sie zunehmend anfällig und krank werden’,“

sagt die dortige Amtsgerichtsdirektorin. Trotz allem lehnen Sie eine Personalaufstockung ab. In dieser Ausgabe der Braunschweiger Zeitung steht auch, dass Sie versprochen haben, keine Stellen abzubauen.

Frau Heister-Neumann, wenn Sie wirklich meinen, Sie könnten dem eklatanten Personalmangel in der Justiz durch den Verzicht auf weitere Stellenkürzungen abhelfen, dann sind Sie in der Tat auf dem Holzweg.

(Beifall bei der SPD)

Die Wahrheit ist vielmehr, dass 300 Stellen gestrichen wurden, weil die Justizministerin einmal angekündigt hatte, die Handelsregister an die IHKs zu verlagern und das Gerichtsvollzieherwesen zu privatisieren. Bei dieser Ankündigung ist es dann auch geblieben. Doch die Stellen sind weg, leichtfertig geopfert von der Ministerin, die sich bekanntlich nicht für die Justiz interessiert.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie dramatisch die Lage in der niedersächsischen Justiz mittlerweile ist, ging gestern bundesweit durch die Medien. Ich zitiere aus Spiegel online:

„Unglaubliche Panne in der Staatsanwaltschaft Osnabrück: Ein verurteilter Kinderschänder durfte seine Sozialstunden im Kindergarten ableisten. Die zuständige Mitarbeiterin war zu gestresst, um in die Akte zu gucken.“

Auf eines möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen: Für die derzeitigen desolaten Zustände in der niedersächsischen Justiz, die bereits zur Freilassung von Sexualstraftätern und zur Entlassung von mutmaßlichen Drogentätern aus der Untersuchungshaft geführt haben, tragen keineswegs die überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatsanwaltschaften und der Gerichte Verantwortung. Die Verantwortung für den eklatanten Personalmangel in der niedersächsischen Justiz trägt niemand anders als der Niedersächsische Ministerpräsident, der, gemessen an dem Anspruch, den er selbst formuliert hat, die Hände in den Schoß legt.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU: Bösartig!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit unserem Entschließungsantrag wollen wir einen dringend notwendigen Kurswechsel in der niedersächsischen Justizpolitik anmahnen. Selbstverständlich werden wir diesen Antrag durch einen entsprechenden Änderungsantrag zum Haushalt untermauern. Wir beantragen insgesamt 145 zusätzliche Stellen für die niedersächsische Justiz,

(Beifall bei der SPD)

die wir entsprechend aufteilen werden.

Oft vergessen, aber dramatisch überlastet sind die niedersächsischen Amtsanwälte. Sie haben sich jüngst mit einem Hilferuf in Form einer Petition an uns, an den Rechtsausschuss gewandt. Diese Amtsanwälte sind bei den Staatsanwaltschaften angesiedelt und klagen immerhin Delikte bis zur mittleren Kriminalität an. Hier wollen wir aufstocken.

(Ernst-August Hoppenbrock [CDU]: Wir auch!)

Schließlich möchte ich auf einen Bereich in der Justiz zu sprechen kommen, der hoch überlastet ist und geradezu sträflich vernachlässigt wird. Ich spreche von den Sozialgerichten. Vor einem Monat haben wir hier über eine Petition geredet, in der bei einer Rentenstreitigkeit die einzige Handlung des Gerichtes in mehreren Jahren war, eine Aktenanforderung durchzuführen. Der Bund Niedersächsischer Sozialrichter spricht davon, dass Kläger an den Sozialgerichten im Vergleich zu anderen Gerichten in der Tat benachteiligt seien.

Wer nimmt die Hilfe der Sozialgerichte in Anspruch? - Wir reden von Hartz IV, wir reden von Renten, wir reden von Kindergeld, wir reden von Elterngeld, von der Beschädigtenrente, von Berufsschadensausgleich, von Hinterbliebenenver

sorgung; es geht um die Feststellung des Grades einer Behinderung und um die Fragen der gesetzlichen Rentenversicherung. Ich könnte diese Aufzählung fortsetzen. Aber ich denke, es ist deutlich geworden, dass die Klägerinnen und Kläger vor den Sozialgerichten diesen Rechtsschutz doch wohl eher aufgrund existenzieller Notlagen und nicht aus Streitlust in Anspruch nehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD-Fraktion hält jahrelange Verfahrensdauern in diesen für die Betroffenen so wichtigen sozialgerichtlichen Verfahren für schlichtweg skandalös.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb werden wir im Haushalt 2008 deutlich aufstocken. Unser Haushaltsantrag wird 35 neue Stellen für die niedersächsische Sozialgerichtsbarkeit - davon 30 für die acht Sozialgerichte in Aurich, Braunschweig, Hannover, Hildesheim, Lüneburg, Oldenburg, Osnabrück und Stade sowie fünf für das Landessozialgericht - beinhalten.

(Bernd Althusmann [CDU]: Sie müs- sen sie ja nicht bezahlen!)

Rein vorsorglich weise ich schon an dieser Stelle darauf hin, dass ich gleich weder von der Landesregierung noch von den Regierungsfraktionen

hören möchte, wie viele zusätzliche Stellen in den vergangenen Jahren in der Sozialgerichtsbarkeit geschaffen wurden.

(Bernd Althusmann [CDU]: Das wer- den Sie aber ertragen müssen!)

Wir können gerne über den Unterschied zwischen einer nominellen und einer tatsächlichen Verstärkung der niedersächsischen Sozialgerichte diskutieren.

(Zuruf von der CDU: Na, dann mal los!)