denn diese Studie richtet - das scheint in der Debatte überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen zu werden - über das gesamte deutsche Bildungssystem, sowohl das dreigliedrige als auch das niedersächsische System mit der OS.
Es ist interessant, dass die Debatte so verläuft, dass diejenigen, die mit ihren Glaubenssätzen der letzten 30 Jahre das verheerende Ergebnis von PISA mit zu verantworten haben, jetzt die Zukunft bestimmen wollen. Das gilt für beide Seiten, meine Damen und Herren. Das gilt für diejenigen, die nicht zur Kenntnis nehmen, dass PISA auch ein vernichtendes Urteil über das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland und über die Sortierung nach Klasse 4, Herr Busemann, ist und insofern ein vernichtendes Urteil für diejenigen ist, die zurück in die 50er-Jahre wollen.
Aber, meine Damen und Herren, diese Fragen richten sich gleichzeitig - lassen Sie uns doch insoweit nichts vormachen - auch an das niedersächsische Schulsystem. Wir sind doch Bestandteil dieser Auseinandersetzung. Uns wird im Herbst des kommenden Jahres ein Gutachten über den Ländervergleich vorliegen. Frau Harms, dieses Gutachten wird doch nicht ergeben, dass sich die niedersächsische Schullandschaft mit der Orientierungsstufe sozusagen lichtvoll vom Rest der PISAStudie abheben wird. Die Bedingungen, die vor 25 Jahren zur Einführung der Orientierungsstufe geführt haben, haben sich doch verändert. Die Orientierungsstufe war vor 25 Jahren die richtige Antwort auf eine Situation, in der Eltern ihre Kinder im Wesentlichen entsprechend der eigenen Schullaufbahn zur Schule geschickt haben und in der sehr viele Menschen auf einem schweren Gang über den zweiten Bildungsweg das nachholen mussten, was sie eigentlich schon erreicht hätten, wenn sie von Anfang an besser gefördert worden wären.
schaft hat sich aber Gott sei Dank im Laufe der Jahre verändert. Die Lehrerausbildung hat sich leider nicht verändert, ebenso wenig wie das Thema Fort- und Weiterbildung. Aber das Bildungsbewusstsein von Eltern hat sich verändert. Kinder sind Reizüberflutungen usw. ausgesetzt, wir erleben den Verlust der Funktion der Familie, all das, worüber wir sonst debattieren. Wir haben auf diese gesellschaftliche Veränderung nicht durch eine Veränderung unseres Bildungssystems reagiert. Das ist das eigentliche Problem.
Es geht in der Debatte nicht darum, die Erfahrungen der letzten 25 Jahre, auch die negativen Erfahrungen, die sich bei PISA und bei dem OS-Gutachten niederschlagen, sozusagen über Bord zu werfen und so zu tun, als müsse man in die Situation zurückkehren, in der nach Klasse 4 sortiert wird. Die Landesregierung und die SPD - das will ich ausdrücklich sagen – wollen das nicht! Das ist nicht Bestandteil unserer Schulreform.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir haben etwas mehr Phantasie als Sie. Sie glauben, dies sei ausschließlich entweder so wie im dreigliedrigen Schulsystem oder mit der OS bzw. mit der Gesamtschule zu gestalten. Es gibt auch kreative Modelle.
Wir wollen erstens eine bessere Förderung in den Klassen 5 und 6. Der schlimmste Umgang mit der Wahrheit kam hier von Herrn Klare und Herrn Busemann, indem sie gesagt haben, dass wir die Klassen 5 und 6 nicht mehr fördern wollten. Auch von den Grünen und Herrn Schwarzenholz ist das gesagt worden. Wir aber geben 30 Millionen DM mehr in die Förderstufen 5 und 6, meine Damen und Herren!
Zweitens wollen wir endlich ein gymnasiales Angebot in der Fläche. Es müsste doch den Vertretern der CDU-Landkreise die Schamesröte ins Gesicht treiben, dass sie das ihren Kindern in den letzten Jahren nicht ermöglicht haben, meine Damen und Herren.
Noch viel wichtiger in der Diskussion ist, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass unsere Debatten in der Vergangenheit zu kurz gesprungen waren. Anscheinend ist es nicht die Anzahl der Lehrer, die allein die Qualität von Schule ausmacht.
Ich glaube, dass wir beachten müssen, dass alles, was wir in der Vergangenheit in Deutschland für wichtig befunden haben, scheinbar nicht dafür gereicht hat, unserem Bildungssystem eine bessere Zukunft zu geben. In einem hat Frau Harms Recht: PISA belegt die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems für die Schwächeren, aber, meine Damen und Herren, für die Stärkeren ganz genauso.
Deshalb ist es wichtig, dass wir die Debatte führen, und sie darf auch strittig geführt werden. Ich kenne eine Partei in Deutschland, die in anderen Bereichen viel größere Streitereien hat, die unwichtiger sind als das deutsche Bildungssystem, z. B. bei ihrer Kanzlerkandidatur.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal vermutet man hellseherische Fähigkeiten, beispielsweise bei wichtigen und kompetenten Lehrerverbänden. Im Gegensatz zu Ihnen lesen wir deren Stellungnahmen und nehmen sie auch ernst. Der Verband Bildung und Erziehung hat vor wenigen Tagen eine Presseerklärung herausgegeben. Diese könnte eine Erwiderung darauf sein, was der Ministerpräsident hier ins Feld geführt hat. Dort heißt es:
„Die Verantwortlichen in der Landesregierung müssten sich, bevor sie nun markige Sprüche in die Öffentlichkeit trügen, an die eigene Nase fassen und erklären, weshalb sie unter anderem das Förderprogramm der vollen Halbtagsgrundschule, die Integrationszuschläge für Ausländerkinder und die Zahl der Unterrichtsstunden für die Grundschule in den letzten zwölf Jahren minimiert haben.“
„Heute hätten die niedersächsischen Grundschulkinder Ende der 4. Klasse fast ein halbes Jahr weniger Unterricht im Vergleich zu den bayerischen Schülerinnen und Schülern. Dies räche sich nun nicht nur in den Ergebnissen der PISA-Studie, sondern viel schlimmer in der steigenden Zahl der Schulabgänger und Schulabbrecher sowie Schulschwänzer.“
Wir haben in den letzten Jahren mehrfach darauf hingewiesen, dass es auf Inhalte und auf Qualität ankommt, dass den Kindern in jungen Jahren Lesen, Schreiben, Rechnen, Sozialverhalten und Multimedia-Kompetenz beigebracht wird. Dazu gehören Fleiß, Disziplin, Leistung und Anstrengung, damit junge Menschen so auf das Leben
vorbereitet werden, dass sie aus eigener Initiative heraus später Ausbildung und Arbeit finden können.
Sie haben allein auf Strukturen geschaut, auf Gesamtschulideologien und nicht auf die Qualität der einzelnen Schule. Das rächt sich heute, deswegen stehen wir gut da.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es zeigt sich in dieser Diskussion deutlich, dass wir in Deutschland zu einem neigen, wenn uns ein Problem vorgestellt wird: Stellvertreterdebatten zu führen.
Die Sündenbockdiskussion ist auch ganz wichtig. Wer ist der Sündenbock? - Ich habe klargestellt, dass die Vereinfachungen meiner Presseerklärung in der Presse unzulässig und sehr verkürzt waren.
Wenn ich mit Journalisten anderthalb Stunden lang sehr intensiv über die Ergebnisse der PISA-Studie rede und dann eine derartige Verkürzung dabei herauskommt, weiß ich nicht, was hier los ist. Dann wird in Deutschland eine Stellvertreterdebatte geführt.
(Beifall bei der SPD – Wulff (Osna- brück) [CDU]: Wie war das denn mit den Gänsen über Weihnachten?)
Ich habe nicht die Lehrkräfte beschuldigt. Ein Befund in der PISA-Studie ist ganz klar: Die Lesekompetenz von Kindern in der 4. Klasse wird nur zu 11 % erkannt. Das heißt, wir brauchen diagnostische Angebote. Diese sind in Deutschland gar nicht vorrätig. Darüber waren wir uns in der Diskussion mit den Gutachtern einig.
(Zuruf von der CDU: Wenn kein Un- terricht stattfindet, können sie auch nicht lesen lernen! – Möllring [CDU]: Die Lehrer können doch schon lesen! Die Kinder müssen lesen lernen!)
Das Gleiche trifft auf die Fortbildung zu. Lassen Sie uns darüber sprechen, wie wir eine verpflichtende Fortbildung erreichen, sodass das, was wir in Rahmenrichtlinien und in Aufgabenveränderungen erarbeitet haben, in die Schule integriert werden kann. Das hat doch nichts mit Sündenbockdiskussion zu tun. Wir haben mit der GEW-Spitze und der Beamtenbundspitze in Bonn genau das diskutiert. Wir waren uns an dieser Stelle einig. Dort verlaufen die Debatten offensichtlich anders als bei Ihnen. Wir führen keine Stellvertreterdiskussion, sondern wir wollen in Deutschland wirklich besser werden,
und zwar alle gemeinsam. Alle Kultusminister, ganz gleich, ob sie von CDU- oder SPD-Seite sind, haben sich an dieser Stelle geeinigt, nicht die Systemfrage zu stellen.
Jetzt kommt die Scheinheiligkeit in dieser Diskussion. Wenn Sie sagen, Ihr angeblich so schönes und einfaches Modell, das alle Menschen verstehen, mit Klasse 5 an allen Schulformen könne sofort eingeführt werden, machen Sie der Öffentlichkeit und den Schulträgern etwas vor.