Protocol of the Session on November 16, 2000

Um Klarheit zu schaffen: Wenn wir von Analphabetismus sprechen, meinen wir in erster Linie nicht jemanden, der überhaupt nicht lesen und schreiben kann. Sicherlich gibt es auch diese Art der Analphabeten, aber das ist sehr selten. In einem modernen Industriestaat gibt es vorrangig funktionale oder sekundäre Analphabeten. Das sind Jugendliche und Erwachsene, die zwar ihre Schulpflicht erfüllt haben, aber dennoch kaum lesen und schreiben können.

Diese Menschen haben nach wenig erfolgreichem Erwerb der Schriftsprache das Wenige, was sie konnten, mehr oder weniger verlernt. Es handelt sich um eine Lese- und Rechtschreibschwäche in unterschiedlichen Schweregraden. Der Verlust dieser Kenntnisse und Fähigkeiten beschränkt die Wahrnehmung weiterer Rechte, so z. B. das Recht auf ungehinderte Information aus allgemein zugänglichen Quellen oder etwa - was uns in diesem Hause betrifft - das Petitionsrecht. Vor allem aber werden die Rechte in Artikel 12 des Grundgesetzes eingeschränkt - das Recht, das freie Wahl von Beruf, Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz garantiert.

Des Weiteren schränkt fehlende sprachliche Kompetenz die Berufsmöglichkeiten ein. Damit verschlechtert sich die soziale und materielle Lebenssituation der Analphabeten beträchtlich. Denn nur wer lesen und verstehen kann, was er liest, nur wer sich schriftlich verständlich machen kann, ist fähig zu einem eigenständigen, nicht fremdbestimmten Leben.

(Beifall bei der CDU)

Wer nichts kann und weiß, wer nichts nachlesen und damit nachprüfen kann, muss glauben, was man ihm sagt.

(Frau Pawelski [CDU]: So ist es!)

Das kann bis zur Einschränkung demokratischer Rechte gehen. Was glauben Sie wohl, meine Damen und Herren, wie sich ein Mensch fühlt, der in Schrift und Sprache unsicher ist, der aus Angst, etwas Falsches zu schreiben und dabei aufzufallen, lieber gar nichts schreibt? – Wenn dann eigene Kinder da sind, die wiederum lesen und schreiben

lernen, dann haben diese Menschen Angst vor Entdeckung, haben Angst aufzufallen und dann auch noch ihre Autorität als Vater oder Mutter einzubüßen.

Betroffen von einem derartigen funktionalen Analphabetismus sind nach Schätzungen aus den 80erJahren – Sie hören richtig: aus den 80er-Jahren; neuere Daten liegen nicht vor – ca. 1,75 % bis 3 % der erwachsenen Bevölkerung über 15 Jahre. Die Landesregierung mutmaßt, dass es in Niedersachsen ca. 47.000 Betroffene gibt. Eine Länderstudie der OECD zur Lesefähigkeit lässt die Befürchtung zu, dass es jedoch weit mehr sein könnten. 20 Länder wurden untersucht und in unterstes, einfaches, mittleres, höheres und höchstes Verständnisniveau unterschieden. Dabei kam heraus, dass das Leseverständnis der Deutschen nicht ohne Fehl und Tadel ist und die Bildungspolitiker, die in den letzten zehn Jahren regiert haben, ihre Hausaufgaben zur Vorbereitung der Menschen auf eine gute sprachliche Kompetenz für die Wissensgesellschaft nicht gemacht haben.

(Frau Pawelski [CDU]: Oh, oh!)

So bewertet das jedenfalls der Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft.

Deutschland landet in der Rangliste der untersuchten 20 Länder weltweit auf Rang 11. Das heißt: Nur gut 50 % der Testpersonen schafften beim Leseverständnistest die mittleren bis höchsten Anforderungen der Bildungsforscher. Oder umgekehrt: Fast 50 % der Testpersonen verfügten nur über ein unteres bis einfaches Leseverständnis. – Ich finde, dass diese Zahlen erschreckend sind und verantwortungsbewusste Politiker umtreiben sollten.

(Zustimmung von Hoppenbrock [CDU] und von Frau Pawelski [CDU])

Dieses Ergebnis verstärkt die Befürchtungen von ungezählten Erzieherinnen und Erziehern und Lehrkräften, die uns in Gesprächen immer wieder darauf aufmerksam gemacht haben, dass ihrer Meinung nach die sprachliche Kompetenz unserer Heranwachsenden in bedenklichem Umfang gesunken ist.

Ähnlich sorgenvoll klingen dann auch die Ausbildungsinstitutionen und –betriebe. Auch sie beklagen zunehmend Probleme der Heranwachsenden beim Beherrschen der elementaren Kulturtechni

ken Lesen, Rechnen und Schreiben. Betriebe sind auch längst dazu übergegangen, eigene Eignungstest durchzuführen, um dieses Sprachverständnis der Jugendlichen zu überprüfen. So gibt es Betriebe, die das seit 20 Jahren machen, das vergleichen können und bei diesen Vergleichen feststellen, dass die Ergebnisse deutlich schlechter geworden sind.

Vor diesem Hintergrund haben wir diese Große Anfrage gestellt, wie es die CDU-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag bereits vor ca. zwei Jahren getan hat. Interessant war für uns vor allem, dass die Landesregierung das wusste, aber trotzdem, trotz aller mahnenden Hinweise, offenbar zwei Jahre lang geschlafen hat und keinen Handlungsbedarf sah. Im Gegenteil: In der Antwort auf die Große Anfrage wimmelt es von Formulierungen wie: Wir kennen keine einzige empirische Untersuchung zu dem Thema; Zahlen können nicht genannt werden; negative Entwicklungen sind nicht belegbar; Statistiken liegen nicht vor; keine Angaben; Untersuchungen gibt es nicht. – Meine sehr geehrten Damen und Herren, statt für fast 1 Million DM einen überflüssigen Strukturdiskurs zu finanzieren, hätte die Landesregierung besser daran getan, die vielfältigen Wahrnehmungen zu einem wachsenden funktionalen Analphabetismus zu untersuchen

(Zuruf von der SPD: Das meinen Sie aber nur!)

und Gegenmaßnahmen einzuleiten;

(Beifall bei der CDU)

denn die Erfahrungen in Volkshochschulen und anderen Weiterbildungseinrichtungen, in privaten Initiativen und auch in Justizvollzugsanstalten fordern Reaktionen und lassen es nicht zu, von Einzelfällen zu sprechen.

Besonders schwer wiegt meiner Ansicht nach auch, dass der Bundesverband Alphabetisierung davon spricht, dass sich die Landkarte des Analphabetismus mit der Karte der Armut deckt und dass Analphabetismus als soziales Problem vererbbar ist. Ziel muss es deshalb sein, das geschilderte Problem bewusst zu machen und Gegenmaßnahmen einzuleiten.

(Zustimmung von Frau Pawelski [CDU] und von Schünemann [CDU])

Es gibt zwei besonders problematische Phasen in der Entwicklung zum Analphabeten: zum einen die frühkindliche Kindergarten- und Grundschulzeit, zum anderen die ersten zwei Jahre nach Verlassen der Schule. Wer als Kleinkind den Einstieg in die Sprache schlecht schafft und keine Frühförderung erfährt, startet in der Schule mit einem mangelhaften Wortschatz und unzureichend ausgebildetem Sprachgefühl. Folglich ist dann auch ein Versagen beim Lesenlernen und Schreibenlernen in der Grundschule fast vorprogrammiert. Hier ist der Kindergarten gefordert, allerdings nicht – wie die Landesregierung das in der Antwort auf die Große Anfrage vermutet – in der Weise, im Kindergarten Lesen und Schreiben zu lehren; denn das ist Aufgabe der Grundschule, und das soll auch so bleiben. Wohl aber soll der Kindergarten die Entwicklung von Sprachgefühl und altersgemäßem Sprachvermögen helfend unterstützen. Auch die Verbände der Erzieherinnen haben mehr als einmal darauf hingewiesen, dass sie sehr wohl in der Lage sind, solche Kinder frühzeitig zu erkennen und darauf einzugehen, und dass sie es begrüßen würden, wenn es zu Änderungen bei der Ausbildung käme und sie dann gemeinsam mit Eltern, Sozialeinrichtungen und Kinderärzten darauf hinwirken könnten, diesen Kindern vor der Schule so zu helfen, dass Defizite zum Schulstart fast ausgeglichen oder ganz ausgeglichen sind.

(Zustimmung bei der CDU)

Die Förderung muss dann in der Grundschule altersgemäß fortgesetzt werden. Wenn Sie lobend Ihre so genannte Verlässliche Grundschule unterstreichen, dann muss ich sagen: Ich habe einfach Zweifel, ob dies an einer solchen so genannten Verlässlichen Grundschule wirklich erfolgreich geschehen kann; denn dort wird der Förderunterricht in Pausenhäppchen organisiert werden dürfen, und pauschale Betreuung ist wichtiger als effektiver Förderunterricht. Deshalb bezweifele ich die Effizienz bei der Förderung der sprachlichen Kompetenz.

Neben Prävention im Kindergarten- und Grundschulalter ist es notwendig, den Jugendlichen zu helfen, die die Schulen verlassen und in Deutsch eine mangelhafte Leistungsfähigkeit bescheinigt bekommen. Wenn an der Nahtstelle von Schule und Beruf keine Maßnahmen zur Verbesserung dieser unzureichenden Fähigkeiten angeboten werden, ist leider die Gefahr groß, dass diese Jugendlichen zu funktionalen Analphabeten werden. Die Bestrebungen der Landesregierung, Leselust

zu fördern, u. a. über Lesebusse, sind lobend zu erwähnen und heben sich bei der hilflos wirkenden Antwort der Landesregierung zum Thema insgesamt wohltuend ab. Diese Bestrebungen begrüßen wir. Sie wären durchaus ausbaufähig.

Einen Dank möchte ich an dieser Stelle auch dem Bundesverband Alphabetisierung aussprechen, der das Problem immer wieder anspricht und ohne eine Förderung aus öffentlichen Mitteln unterschiedliche Hilfsangebote für Betroffene bereithält.

(Zustimmung bei der CDU)

Ganz klar muss hier eines festgehalten werden: In der Überschrift der Großen Anfrage heißt es „Bestandsaufnahme, Situationsanalyse und Konsequenzen für Niedersachsen“. Wenn man die Antwort auf diese Große Anfrage liest, stellt man fest, dass sich sowohl das eine als auch das andere recht mager ausnimmt. Wenn man um diese Probleme weiß und man sich dieses Themas nicht konsequent annimmt, dann ist das meines Erachtens für ein hoch industrialisiertes Land – dazu gehört ja auch Niedersachsen – ein Armutszeugnis.

(Zustimmung bei der CDU)

Da reicht es auch nicht, wenn am Weltalphabetisierungstag mehr oder weniger nette Presseerklärungen abgegeben werden. Das hilft den Betroffenen gar nicht. Niedersachsen könnte diese Große Anfrage zum Anlass nehmen, z. B. einen Forschungsauftrag zur Situation und Entwicklung sprachlicher Kompetenz und zur Konzeptionierung einer verbesserten Förderung zu erteilen, damit den funktionalen Analphabeten eine klare Hilfe zuteil werden kann, damit Prävention greifen kann, diese jungen Menschen dann auch einen Zugang zu ihren demokratischen Rechten erhalten und das gewährleistet bleibt.

(Zustimmung bei der CDU)

Analphabetismus isoliert und macht einsam. Lesen und Schreiben verbinden und eröffnen neue Horizonte. Schaffen wir deshalb gerade in einem hoch zivilisierten Land wie Niedersachsen mehr Chancengerechtigkeit durch Steigerung der sprachlichen Kompetenz, damit von unseren Heranwachsenden nicht irgendwer Gefahr läuft, zu einer Risikogruppe zu gehören und irgendwann zu einem funktionalen Analphabeten zu werden!

(Zustimmung von Frau Pawelski [CDU])

Machen wir gemeinsam betroffenen Menschen Mut, sich ihre Situation einzugestehen, und helfen wir ihnen, konsequent und nachhaltig diese Situation zu ändern, denn sprachliche Kompetenz gehört ganz entscheidend zur Lebensqualität. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Ministerin Jürgens-Pieper.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mundlos, mein Interesse - Sie hatten sich darüber Sorgen gemacht - an diesem Thema ist groß. Wie groß Ihr Interesse ist, weiß ich allerdings nicht so genau.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Was soll das jetzt?)

Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Anfrage aus Schleswig-Holstein, die Sie genannt haben, fast wortwörtlich - in der Schule nennt man das so - abgeschrieben worden ist.

(Frau Pawelski [CDU]: Machen Sie doch auch! - Frau Mundlos [CDU]: Was haben Sie denn gemacht?)

Wir haben uns allerdings vorgenommen, für Niedersachsen unsere eigenen Antworten zu geben. Das haben Sie ja festgestellt. Sie haben den Bundesverband Alphabetisierung zitiert. Ich gehe einmal davon aus, dass Sie auch die Broschüre dieses Bundesverbandes „Ihr Kreuz ist die Schrift“, die anlässlich des Weltalphabetisierungstages am 8. September 2000 auf der EXPO präsentiert wurde, gelesen haben. Ich möchte daraus Folgendes zitieren:

„Von den Flächenländern führt Niedersachsen die Spitze in der Versorgung mit Kursen an, gefolgt von Schleswig-Holstein. Das ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass in diesen beiden Bundesländern der Professionalisierungsgrad in der Alphabetisierung auch im Ländervergleich am höchsten ist.“

So weit der Verband, den Sie zitiert haben.

(Beifall bei der SPD)

Das ist nachzulesen, wenn Sie das wollen, auf der Seite 126. Sie haben sich also mit SchleswigHolstein und Niedersachsen ausgerechnet die Länder herausgesucht, die besonders viel in dieser Hinsicht tun.

(Frau Mundlos [CDU]: Wir haben auch viele Aussiedler! - Zuruf von der CDU: Sie ruhen sich auf den Lorbee- ren aus!)

- Wir ruhen uns nicht auf Lorbeeren aus, im Gegenteil. Ich wollte nur einmal mitteilen, was dieser Bundesverband, den Sie angeführt haben, zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein sagt.

Die von der CDU-Fraktion eingebrachte Anfrage ist nicht die erste zu diesem Thema. Wir haben uns mit diesem Thema schon mehrmals in den Landtagssitzungen befasst. Das begann mit einem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD aus dem Jahre 1981. Ferner gab es Kleine Anfragen der Abgeordneten Bruns und Wernstedt und im Jahre 1991 eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Pörtner zu diesem Thema. Ich habe schon erwähnt, dass Ihre Große Anfrage wortgleich mit der Anfrage aus Schleswig-Holstein ist. Ich möchte aber jetzt auf die niedersächsischen Verhältnisse eingehen.