Protocol of the Session on June 21, 2000

republik auf die europäische Ebene, d. h. auf die Mitgliedstaaten, einfach zu übertragen, eher zu massiven Angstreaktionen führen. Stellen Sie sich vor, der spanische Ministerpräsident oder das spanische Parlament hätte dann mit einer Debatte um ein stärkeres Eigengewicht des separatistischen Baskenlandes zu kämpfen, oder wir würden mit einer solchen Debatte der Lega Nord in Norditalien helfen!

Meine Damen und Herren, bei einer Einführung des Mehrheitsprinzips in der Europäischen Union durch die Regierungskonferenz 2000 ohne eine klare Kompetenzabgrenzung droht die Länderposition allerdings noch schwächer zu werden. Um deshalb ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, verweisen die Länder auf die Zustimmungspflicht des Bundesrats zur laufenden Regierungskonferenz, und der Bayerische Ministerpräsident droht sogar mit ihrer Blockade. Der Bundesrepublik droht durch diese Drohung mit einer Blockade im Bundesrat eine innenpolitische Auseinandersetzung über die Zukunft der Europäischen Union und die Gefahr der außenpolitischen Handlungsunfähigkeit. Diejenigen, die ernsthaft erwägen, die Ergebnisse der Regierungskonferenz 2000 im Bundesrat scheitern zu lassen, machen Deutschland vom Motor zum Bremser der europäischen Einigung, wobei jedermann weiß, meine Damen und Herren, dass man leicht ins Schleudern geraten kann, wenn einem von rechts ins Steuer gegriffen wird.

(Beifall bei der SPD)

Wer diese drohende innenpolitische Auseinandersetzung und Blockade im Bundesrat nicht in Zukunft, sondern bereits Ende dieses Jahres im Sinne des notwendigen europäischen Einigungsprozesses verhindern und trotzdem die berechtigten Interessen der deutschen Länder vertreten will, wird seinen Blickwinkel verändern müssen. Die Diskussion der Länder mit der Bundesregierung und der EU-Kommission darf nicht länger aus der Froschperspektive heraus erfolgen. In Wahrheit geht es ja auch nicht allein um die Interessen der Länder, sondern zugleich um die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz eines immer größer werdenden Europa. Diese Adlerperspektive, also der Blick und die Vision für das zukünftige Europa, muss ins Zentrum auch der Diskussion der Länder rücken.

Seit der Rede des Bundesaußenministers Joschka Fischer an der Humboldt-Universität in Berlin habe ich jedenfalls den Eindruck, dass wir als

Länder in der Bundesregierung einen echten politischen Partner haben, der uns helfen kann, unsere berechtigten Interessen durchzusetzen; denn die europäische Vision des Bundesaußenministers ist zugleich auch der Ansatz für die Wiederbelebung des Föderalismus in Deutschland. In Wahrheit geht es zuerst einmal um eine verfassungsrechtliche Kompetenzabgrenzung zwischen Nationalstaaten und Europäischer Union und nicht zwischen Ländern und Europäischer Union. In diesem Rahmen entscheiden dann die Nationalstaaten, wie sie ihre innere Ordnung und Verfasstheit demokratisch legitimieren, in Deutschland föderal, in Frankreich und Spanien vermutlich zentral.

Meine Damen und Herren, wir brauchen eine grundlegende Reform der europäischen Verträge, und zwar nicht in dieser Regierungskonferenz, sondern in einer Folgekonferenz. Die Länder müssen ihre berechtigten Forderungen um diese europäische Perspektive ergänzen. Sie müssen dabei akzeptieren, dass auf der laufenden Regierungskonferenz 2000 bereits konkrete Schritte auf diesem europäischen Weg gemacht worden sind. Gleichzeitig muss die Bundesregierung verstehen, dass sich die Länder nicht auf den SanktNimmerleins-Tag vertrösten lassen können und dass eine kluge Rede des Bundesaußenministers noch keinen europapolitischen Sommer macht.

(Frau Harms [GRÜNE]: Das muss erst einmal in Niedersachsen stattfin- den!)

- Frau Harms, ich rate manchmal dazu, nicht immer nur zuerst die Gemeinde, den Wohnort, den Kirchturm und das Land zu sehen und dann vielleicht zu schauen, was in Deutschland passiert, und danach zu schauen, was in Europa passiert, sondern im Niedersächsischen Landtag auch einmal die umgekehrte Perspektive einzunehmen.

(Beifall bei der SPD)

Das führt natürlich dazu, Frau Harms, dass wir hier nicht immer nur über Kampfhunde, über die Größe von Hühnerkäfigen und über andere zentrale und wichtige Themen unseres Landes reden, sondern vielleicht auch einmal darüber, welche Auswirkungen es hat, wenn die Europäische Union beispielsweise das System der deutschen Sparkassen zerschlagen kann, und was das bezüglich der Arbeitslosigkeit in ihren Ländern bedeutet.

(Lebhafter Beifall bei der SPD)

Ich begreife, dass Sie hier lieber gern gelegentlich die Debatte klein-klein führen möchten, weil Sie dann immer einen Beitrag dazu leisten können.

(Unruhe bei den GRÜNEN)

Aber ich glaube wirklich, es macht Sinn, über das, was auf der Ebene der Länder beredet wird, ab und zu auch hier im Landtag zu diskutieren. Es kann doch nicht Ihr Wunsch sein, dass hierüber ausschließlich Landesregierungen sprechen. Als Parlamentarier wollen Sie doch wohl, dass auch der Landtag daran beteiligt ist.

(Beifall bei der SPD)

Ich hatte gedacht, ich tue Ihnen einen Gefallen, wenn ich Sie als Parlament in die Debatte zwischen Regierungen einbinde. Ich wusste nicht, dass Sie diese Abstinenzprobleme haben.

(Frau Harms [GRÜNE]: Ich habe das jetzt begriffen: Sie sind Fischers E- ckermann!)

Wie also könnte eine Lösung aussehen?

Erstens. Bund und Länder formulieren eine gemeinsame europapolitische Perspektive, die neben der Kompetenzabgrenzung zwischen europäischer und nationaler Ebene auch die föderalen Interessen der Länder aufnimmt. Die europapolitischen Grundsätze des Bundesaußenministers wären dafür eine gute Grundlage.

Zweitens. Bund und Länder erklären übereinstimmend, dass die laufende Regierungskonferenz wegen der zeitlichen Begrenzung bis zum Abschluss in Nizza und wegen des sehr eng begrenzten europäischen Mandats auf die drei left overs von Amsterdam nicht dazu geeignet ist, das Thema Kompetenzabgrenzung jetzt, zu diesem Zeitpunkt hinreichend zu klären.

Drittens. Wir schlagen ein zweistufiges Verfahren zwischen Bundesregierung und Ländern vor, bei dem erstens im europäischen Rat in Nizza in diesem Jahr rechtlich verbindlich eine Vereinbarung über eine zweite Regierungskonferenz getroffen wird mit einer klaren zeitlichen Vorgabe für einen Abschluss z. B. für das Jahr 2004. Diese Regierungskonferenz muss das Thema Kompetenzabgrenzung behandeln. Es geht dabei um eine grundlegende Reform aller bisherigen europäischen Verträge. In Vorbereitung dieser Regierungskonferenz wird zweitens in der Bundesrepublik eine breit angelegte öffentliche Debatte zur

Zukunft der Europäischen Union und zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen in Deutschland geführt. Meine Damen und Herren, das haben wir, wie wir miteinander zugeben müssen, in den letzten 20 Jahren nicht getan, sondern wir haben uns darauf beschränkt, unsere Bevölkerung jeweils vor vollendete Tatsachen zu stellen. Es macht aber Sinn, in Deutschland mit den Menschen über die Zukunft Europas und damit übrigens auch über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze in Niedersachsen zu reden.

(Beifall bei der SPD)

Im Rahmen dieses Verfahrens hätte einerseits die Bundesregierung ausreichend Spielraum, um sowohl ihre eigenen europapolitischen Perspektiven zu verankern als auch die innerdeutsche Diskussion produktiv einzubringen. Das wäre für die anderen Mitgliedstaaten eben kein deutscher Sonderweg, wie ihn die Ministerpräsidenten der Länder gelegentlich formuliert haben. Ich bin sicher, dass z. B. unsere französischen Partner für einen solchen Weg eher zu gewinnen wären, weil er letztlich die Funktionsfähigkeit der Europäischen Union auch für den Fall der Erweiterung im Auge hat. Dabei muss auch die geplante Erweiterung der Europäischen Union nach Osteuropa beraten werden. Zur Erweiterung der EU nach Osteuropa gibt es keine Alternative. Dies gilt sowohl für einen dauerhaften Frieden als auch für das gewaltige wirtschaftliche Potential, das in diesem Raum - ohne die Türkei - mit bereits 105 Millionen zusätzlichen Einwohnerinnen und Einwohnern vorhanden ist.

Die Frage ist allerdings, auf welchem Wege und in welchen Zeiträumen sich diese Erweiterung vollziehen soll; denn natürlich gibt es bei mehr als 3,5 Millionen Arbeitslosen in unserem Land und bereits erheblichen Nettobelastungen in der Europäischen Union Sorgen, dass die Tragfähigkeit des deutschen sozialen Sicherungssystems überfordert würde. Diese Sorgen und Fragen müssen von uns beantwortet werden, meine Damen und Herren. Die Menschen wollen Sicherheit im Wandel und nicht Sicherheit vor dem Wandel.

Wer diesen Weg verweigert, wer dabei bleibt, im Bundesrat Ende dieses Jahres die Zustimmung zur Regierungskonferenz verweigern zu wollen, und weiterhin damit droht, die Handlungsunfähigkeit Deutschlands herbeizuführen, wie es vorzugsweise der Bayerische Ministerpräsident tut, der hat entweder ein sehr unrealistisches Bild über die Situa

tion auf europäischer Ebene, oder er will die innenpolitische Konfrontation über Europa bewusst herbeireden, um sich ein parteipolitisches Schlachtfeld für die Bundestagswahl 2002 zu erobern.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die zweite Vermutung über die Strategie von CSU und CDU ist nicht ganz unrealistisch; denn natürlich ist zumindest Edmund Stoiber die politische Diskussion in den anderen europäischen Staaten durchaus bekannt. Warum also trotzdem der Widerstand? - Ich meine, dass die Art und Weise des Abgangs von Helmut Kohl nun eine weitere Wirkung innerhalb der Union zeigt. War bislang der große Europäer Helmut Kohl das unüberwindliche Bollwerk gegen Euro-Skeptiker und euro-kritische Populisten innerhalb der Union, so kann nun offenbar das, was bislang eher eine folkloristische Neigung der Bayern war, offizielle Linie dieser großen konservativen Volkspartei werden. Es ist innerhalb von CDU/CSU offenbar keine Frage der Political Correctness mehr, ob man die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands aufs Spiel setzen darf, indem man die Europapolitik zum innenpolitischen Schlachtfeld erklärt. Dies erscheint aus Sicht von CDU und CSU umso wichtiger, als offenbar in den anderen Feldern - glaubt man den Prognosen für Wirtschaft und Beschäftigung in Deutschland keine Erfolg versprechenden Angriffsflächen mehr vorhanden sind.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, wir werden sehen, wie sich CDU und CSU zu einer gemeinsamen europäische Perspektive von Bund und Ländern verhalten, ob sie nicht nur mit einer Stärkung der Länderkompetenzen, sondern auch mit einer der europäischen Kompetenzen einverstanden sind, z. B. in der Wirtschafts- und Steuerpolitik oder in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich bin gespannt, ob die Vision eines kooperativen Föderalismus in Europa auch die Zustimmung Bayerns erhält, während dieses deutsche Land gerade innerhalb der Bundesrepublik für einen Wettbewerbsföderalismus plädiert. Die Niedersächsische Landesregierung wird ihr Abstimmungsverhalten im Bundesrat jedenfalls von der Bedeutung abhängig machen, die diese Entscheidung Ende des Jahres nicht nur für Niedersachsen, sondern für ganz Deutschland haben wird.

Meine Damen und Herren, Tatsache ist allerdings auch, dass wir unsere Hausaufgaben in Deutschland zwischen Bund und Ländern noch nicht gemacht haben. In Wahrheit fordern wir von der Europäischen Union heute etwas, was wir selbst in der föderalen Ordnung der Bundesrepublik nur unzureichend leisten, nämlich eine Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern. Wir erleben ja auch bei uns eine immer stärker werdende Verflechtung von Bundes- und Landespolitik, die, jedenfalls im Einzelfall, immer gut begründet wird. In ihrer Gesamtheit aber engt sie die Spielräume der Länder immer weiter ein. Es geht also auch um die Vitalisierung des Föderalismus in Deutschland.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Rückwirkend betrachtet hat sich die föderale Ordnung der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg bewährt. Wir brauchen keine radikale Neuordnung. Wir wollen keinen Wettbewerbsföderalismus süddeutscher Prägung, der nichts anderes beinhaltet als eine finanzielle Umverteilung zugunsten Bayerns, Baden-Württembergs und Hessens, z. B. im Falle Bayerns eines Landes, das in der Vergangenheit von diesem Föderalismus finanziell massiv profitiert hat.

(Beifall bei der SPD)

Wir plädieren für eine Modernisierung des föderalen Systems. Kooperativer Föderalismus heißt auch Festhalten am bundesstaatlichen Solidarprinzip und damit an dem für unsere bundesstaatliche Ordnung zentralen Begriff der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Ich hoffe, meine Damen und Herren, dass dies die Unterstützung des ganzen Hauses erhält, und nicht, wie gestern bei der Atomdebatte, in Teilen die Politik der süddeutschen Länder im Niedersächsischen Landtag betrieben wird.

(Beifall bei der SPD - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Wo kommt denn das Endlager hin?)

- Herr Wulff, Sie können dabei schwerlich mitreden. Sie haben den gestrigen Vormittag nicht hier verbracht. Sie hielten es ja für besser, woanders zu sein.

(Beifall bei der SPD)

Sie müssen schon kommen, wenn Sie sich um niedersächsische Interessen kümmern wollen. So geht es nicht.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Wo sind Sie denn heute Nachmittag, Herr Gabriel?)

- Herr Wulff, der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass ich im Landesinteresse unterwegs war und Sie die Termine für Ihre Partei in Berlin für wichtiger gehalten haben als die im Landtag.

(Beifall bei der SPD)

Herr Wulff, ich bin ja im Übrigen auch von Ihren Kollegen gefragt worden, ob ich heute Nachmittag Leute mitnehmen kann, weil dieses Kulturprojekt in der Grafschaft Bentheim offensichtlich aus ihrer Sicht - Sie haben dort ja auch hinreichend Mehrheiten - wichtig ist. Aber um es freundlich zu formulieren: Ich bin ja froh, dass Sie einmal da sind. Dann können wir ein bisschen miteinander diskutieren.

(Beifall bei der SPD)

Das sind ja Probleme, die Sie von daher in Ihrer - -

(Frau Hansen [CDU]: Unverschämt- heit!)

- Dem, der da „Unverschämt“ ruft, will ich sagen: Dass Leute von Ihnen zu uns kommen, um uns zu erklären, sie könnten auch nichts dafür, dass der Oppositionsführer uns für Debatten nicht zur Verfügung stehe, das halte ich schon für eine merkwürdige Form des innerparteilichen Umgangs bei Ihnen.

(Beifall bei der SPD)

Wir können und müssen unseren Begriff von Föderalismus neu und anders definieren. Die föderale Einheit mit dem Ziel, zu gleichwertigen Lebensverhältnissen zu gelangen, muss dabei gewährleistet bleiben. Gleichwertigkeit des Ziels und der Ergebnisse, nicht Gleichartigkeit und Uniformität des Weges dorthin ist das Gebot der Stunde. Niedersachsen wird sich diesem Wettbewerb der Ideen für diese Modernisierung des föderalen Gedankens stellen.

Erstens, meine Damen und Herren, geht es um einen fairen Finanzausgleich. Ich habe bereits darauf hingewiesen,