Protocol of the Session on March 30, 2000

Wir müssen die Formeln für ein bürgernahes Europa entwickeln und uns auch daran orientieren. Formeln müssen aufgebaut werden mit der Fragestellung: Darf die Union tätig werden, und – wenn ja – soll sie tätig werden, und – wenn diese Frage bejaht wird – in welchem Umfang und auf welche Weise soll sie tätig werden? Ich finde, diese Fragen müssen gleichberechtigt mit den Reformen der EU formuliert und beantwortet werden.

Meine Damen und Herren, der zweite Punkt, den wir ansprechen müssen, ist, neben der Aufgabenund Zuständigkeitsabgrenzung für die Kommission, für den Ministerrat und auch für das Europäische Parlament, die Stärkung und der Umfang des Parlamentes an sich. Schon heute - Herr Plaue hat darauf verwiesen - umfasst das Europäische Parlament mehr als 200 Abgeordnete.

(Mientus [SPD]: Was, 200?)

Bei der Erweiterung auf zwölf Mitgliedstaaten und damit der Vertretung von mehr als 500 Millionen Einwohner würden fast 1.000 Abgeordnete im Europäischen Parlament sein. Die Begrenzung auf 700 mag eine richtige Zahl sein, denn das Europäische Parlament soll keinen Volksauflauf darstellen, und jeder einzelne Abgeordnete soll dort nicht nur Zuschauer sein. Das Europäische Parlament muss aber den Charakter einer Volksvertretung behalten. Ein einzelner Abgeordneter soll nach wie vor die Chance haben und diese dann auch wahrnehmen, die Bürgernähe zu pflegen. Der Bürger muss nicht nur das Gefühl haben, sondern er muss auch tatsächlich erkennen, dass der einzelne Abgeordnete die Interessen der Bürger im Parlament vertreten und umsetzen kann.

Ich will damit sagen: Wenn es eine Erweiterung gibt, dann werden sich auch die Einzugsbereiche, sozusagen die Wahlkreise der einzelnen Abgeordneten, vergrößern. Damit ist selbstverständlich die Gefahr gegeben, dass sich die Distanz zwischen den Abgeordneten und den Bürgern weiter erhöhen wird. Das wollen wir nicht. Darauf müssen wir achten.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, entscheidend für die Anerkennung und für die Mitwirkungsmöglichkeiten des Europäischen Parlaments und damit seiner Mitglieder ist, ob künftig das Europäische Parlament ein gleichberechtigtes, ein gesetzgebendes Organ der Europäischen Union sein kann. Das wollen wir. Ich glaube, hier ziehen wir an einem Strang.

Meine Damen und Herren, zu den einzelnen Punkten, die darüber hinaus im Entschließungsantrag genannt werden, gehört auch das vielschichtige Regelwerk von Abstimmungsverfahren. In wichtigen Kompetenzbereichen - wir wissen es ist das Erfordernis der Einstimmigkeit gegeben. In den letzten Jahren ist aber der Bereich für Mehrheitsentscheidungen ausgeweitet worden. Mit der Erweiterung der Europäischen Union kann es, wenn die Einstimmigkeitsregelung in dieser Form beibehalten wird, unter Umständen zur Selbstblockade führen. Die Union würde dann ein Kollos sein. Sie kann nicht mehr gelenkt werden und hat nicht mehr die Fähigkeit, zu reagieren, geschweige denn, die Fähigkeit, zu agieren. Wir sähen dann staunend zu, wie sich andere Völker, andere Regionen der Welt entwickelten, wie sie die Richtung und das Tempo vorgäben und wie Europa in einem

Stillstand verharren würde, ein zahnloser Tiger bliebe und gegebenenfalls hinterher hecheln würde. Ich meine, der Katalog der Mehrheitsentscheidungen muss ausgeweitet werden. Wenn wir aber die Ausweitung des Katalogs der Mehrheitsentscheidungen wollen, dann müssen wir auch deutlich machen, dass damit die Mitbestimmungsrechte des Europäischen Parlaments verbunden werden müssen. Ansonsten wird es eine bürgernahe, effiziente und demokratische Union nicht geben.

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich werde es versuchen, Herr Präsident.

(Heiterkeit)

Nein, das reicht leider nicht. Sie haben Ihre Redezeit schon beträchtlich überzogen.

Ich werde versuchen, gleich zum Abschluss zu kommen, damit die Kolleginnen und Kollegen in die Mittagspause eintreten können.

Ich will die anderen Punkte, die im Entschließungsantrag genannt sind, hier nicht mehr behandeln. Die werden wir sicherlich im Ausschuss behandeln.

Zum Abschluss möchte ich Folgendes feststellen: Es ist sicherlich unsere Aufgabe, die Spielregeln für die Entscheidungsträger auf der europäischen Ebene zu entwickeln und zu formulieren, und zwar so zu formulieren, dass zwar die Identität der Mitgliedstaaten und der Völker nicht verwischt wird, dass wir aber im Wettbewerb mit anderen Regionen mithalten können. Wir wollen und sollten dort mitwirken, und zwar heute und sicherlich auch in den Fachausschüssen. - Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Herr Minister Senff, Sie haben jetzt das Wort. Mit einer langen Rede kann man sich jetzt sehr beliebt machen.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will versuchen, mich mit einer langen Rede beliebt zu machen. Zwischen Ihnen und dem Mittagessen liegen ungefähr 45 Minuten.

(Zuruf von der SPD: Bravo!)

Ich weiß: Wir reden über Erweiterung und Vertiefung. Sie wissen: Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union sind zwei unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille. Ich will zu der Erweiterung nur Folgendes sagen: Die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten liegt im niedersächsischen Interesse, egal was heute, wo auch immer, debattiert wird. Sie liegt im deutschen Interesse. Die europäische Einheit hat uns Frieden und Wohlstand gebracht, und die Erweiterung der Europäischen Union wird uns weiterhin Frieden und Wohlstand bringen.

(Beifall bei der SPD)

Ihnen und uns ist gewiss, dass die Erweiterung, was Niedersachsen in seiner speziellen Lage angeht, unseren geistigen und kulturellen Horizont erweitern wird. Darüber sollten wir uns freuen.

Meine Damen und Herren, aktuell - auch hier und heute im Landtag - wird die Debatte über die Erweiterung und der Vertiefung u. a. an der Verteilung der Kompetenzen zwischen Europa, Bund und Ländern festgemacht. Ich kann Ihnen sagen - Sie kennen mich als überzeugten Föderalisten und als Vertreter einer bürgernahen Europapolitik -: Es ist richtig, im europäischen Einigungsprozess auf unsere Spielräume, auf die Spielräume der Länder, zu achten und darauf zu achten, dass diese Spielräume erhalten bleiben.

(Beifall bei der SPD)

Aber das ist natürlich eine Plattheit, denn dazu verpflichtet uns unsere Verfassung.

Meine Damen und Herren, es ist aber nicht richtig, zu glauben, dass die Debatte um die Kompetenzen der Bundesländer eine zentrale Frage der europäischen Politik ist. Das interessiert in Frankreich, in den Niederlanden, in Italien und in den anderen europäischen Ländern niemanden. Denen stellt sich das Problem der Kompetenzverteilung zwischen Ländern und Bund überhaupt nicht. Das ist ein Problem, das sich uns in der Bundesrepublik stellt. Deshalb müssen wir auch auf dieses Problem

eingehen. Wenn es aber so ist, wie ich es vorhin gesagt habe, dann dürfte auch klar sein, dass Drohungen unsererseits, die Regierungskonferenz scheitern zu lassen, ein unscharfes Schwert sind. Sie sind kein Instrument, mit dem man Erfolg haben kann. Unsere bundesinterne Diskussion, die Diskussion zwischen Bund und Ländern, ist eine Diskussion, bei der wir uns selber als Partner betrachten. Allerdings ist das auch eine Diskussion, bei der uns unsere europäischen Partner amüsiert betrachten.

Meine Damen und Herren, richtig ist, wenn wir uns dagegen wehren, dass die Europäische Union bestimmen will, wo und wie bei uns Regionalförderung betrieben wird. Wir wissen alle Male besser, wo uns der Schuh drückt. Deshalb müssen wir auch dafür sorgen, dass wir zu Ergebnissen kommen, mit denen wir die Freiheit der Entscheidung in so wichtigen Bereichen behalten.

Nicht richtig ist, daraus gleichzeitig ein Gespenst des europäischen Zentralismusses zu machen. Darum geht es gar nicht. Die EU will Kontrollen, wie Geld verwendet wird. Meine Damen und Herren, wir in unserem Lande wollen das auch, und zwar gemeinsam.

Richtig ist wiederum, wenn wir uns in dieser Debatte vor unsere Landesbanken stellen und dafür sorgen, dass wir ihre Kompetenzen wahren.

Es ist aber falsch, so zu tun, als ob die Europäische Kommission die Macht hätte, Beschwerden von Privatbanken - so ist die Geschichte in Gang gekommen - einfach zu negieren und ihnen nicht mit einer sorgfältigen Prüfung nachzukommen. Wir werden nach der Mittagspause über dieses Thema noch weiter zu reden haben.

Wahr ist, meine Damen und Herren: Wir, und zwar die Bundesrepublik und alle unsere europäischen Partner, haben das alles gewollt. Wir haben es sogar vorangetrieben, und wir waren und sind stolz darauf, dass wir das gemeinsam getan haben. Die nationalen Zustimmungsgesetze zu den EU- und EG-Verträgen wurden mit einhelliger Zustimmung des Bundesrates gefasst. Wenn ich „einhellig“ sage, dann meine ich auch mit bayerischer Zustimmung, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollten und wir wollen - ich habe keinen Zweifel daran, dass das für dieses ganze Haus gilt ein gemeinsames Haus Europa. Wenn es irgendwo

mal welche gibt, für die das nicht gilt - selbstverständlich außerhalb des Hauses -, dann sollen sie es sagen.

Meine Damen und Herren, meine Devise lautet: Wir sollten nicht über Europa jammern, sondern mit der Arbeit bei uns selbst beginnen. Da haben wir eine Menge zu tun.

Gestatten Sie mir wegen der Kürze der Zeit, die mir zur Verfügung steht - ich habe zusammen mit den Grünen die wenigste Zeit, und ich will versuchen, sie einzuhalten -, dass ich auf die einzelnen Punkte zur Zusammensetzung der Kommission nicht eingehe, dass ich auf die Stimmengewichtung im Rat und die Neuordnung des Entscheidungsverfahrens, Herr Eveslage, nicht eingehe. Aber, meine Damen und Herren, nach unserer Auffassung muss die Reform auch die von mir genannten Aspekte der Kompetenzverteilung mit auf die Tagesordnung setzen. Was Brüssel besser kann - so will ich mal anders formulieren, als es bislang formuliert wurde -, das soll Brüssel machen. Aber was wir besser können, dass wollen wir bitteschön auch machen.

(Beifall bei der SPD)

So sollte es dann sein.

Die Ministerpräsidenten der Länder haben genau diese Orientierung zu einer gemeinsamen deutschen Position der Ministerpräsidenten besprochen. Präsident Prodi und Kommissar Monti haben in den Gesprächen, die Ministerpräsident Gabriel und ich mit ihnen geführt haben, ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie an einer verstärkten Dezentralisierung brennendes Interesse haben. Es wurde ja auch schon hier in der Debatte deutlich gemacht, dass wir uns in die Diskussion über das Weißbuch von Prodi einschalten wollen und einschalten werden. Ich sage allerdings an diesem Punkt auch ganz klar: Uns, den Ländern, und auch uns in Niedersachsen reicht eine bloße Beschränkung auf die Rolle des Umsetzens, auf die Rolle des Ausführens europäischer Beschlüsse nicht aus. Was wir verlangen, ist: Dort, wo das Definitionsrecht über Qualitäten möglich ist, ist dieses Definitionsrecht auch dort zu lassen, wo es nach unserer Meinung hingehört. Das sind die Länder, und das sind die Kommunen in unserem Lande, die meistens in dieser Debatte vergessen werden.

(Beifall bei der SPD - Eveslage [CDU]: 46 Minuten!)

Wir waren und wir sind uns einig, Herr Eveslage trotz Ihrer sehr intelligenten Zwischenrufe, in welcher Zeiteinteilung wir uns gerade befinden; ich kann Ihnen auch das Datum sagen, falls Sie das vergessen haben -, dass die Kernkompetenzen bei der EU klarer herausgearbeitet werden müssen. Mit dieser Haltung werden wir den genannten und von Präsident Prodi angestoßenen Diskussionsprozess nicht nur begleiten, sondern wir wollen in diesem Diskussionsprozess unsere eigenen niedersächsischen Standorte und Standpunkte bestimmen und versuchen, sie durchzusetzen.

Dazu brauchen wir Gemeinsamkeit, dazu brauchen wir Übereinstimmung. Der Antrag der SPDFraktion kommt daher zur richtigen Zeit, um diese Debatte in diesem Haus zu führen. Wir freuen uns darauf. - Ich wünsche Ihnen guten Appetit.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht mehr vor.

Ich kann Ihnen noch mitteilen, dass die Fraktionen übereingekommen sind, dass die Mittagspause um 15 Uhr beendet wird. Wir sehen uns also um 15 Uhr wieder. Ich unterbreche die Sitzung.

(Zurufe: Ausschussüberweisung!)

- Entschuldigung. Darf ich noch einmal formell eröffnen? - Es widerspricht auch niemand, wenn ich feststelle, dass der Ausschuss für Bundes- und Europaangelegenheiten federführend und die Ausschüsse für Rechts- und Verfassungsfragen und für innere Verwaltung mitberatend beteiligt werden? Kein Widerspruch; danke schön. Guten Appetit.

Unterbrechung: 13.44 Uhr.

Wiederbeginn: 15.01 Uhr.