Protocol of the Session on September 25, 2002

Ich sage Ihnen: Man muss einfach darüber reden, dass es dort eine zu starke ausschließliche Täterfixiertheit gibt. Für mich ist der Täter im Kinderund Jugendbereich gleichzeitig Opfer. Aber es gibt auch andere Opfer, die wir ebenfalls schützen müssen. Auch darum geht es in diesem Fall.

Nun sage ich Ihnen, wo das Problem bei Ihrer Debatte liegt: Was versteht man denn klassischerweise unter „geschlossener Heimunterbringung“? Ihr Fraktionsvorsitzender hat sich in der damaligen Debatte gegen unsere Vorschläge geäußert, diese geschlossene Heimunterbringung integrativ vorzunehmen. Er hat immer gesagt: Die meine ich nicht. Da gibt es Zwischenrufe im Protokoll. Da muss man doch die Frage stellen: Welche meinen Sie denn? Dazu sage ich Ihnen: Da meinen Sie andere als wir.

Wir wollen nicht zurück zu Großeinrichtungen; denn wenn Sie 30 oder 100 Kinder ausschließlich in einer solchen Einrichtung unterbringen, dann passiert Folgendes:

(Frau Vockert [CDU]: Das ist von uns niemals gefordert worden!)

- Dann müssen Sie sagen, was Sie wollen. Damals haben Sie zu unseren Vorschlägen gesagt, Sie wollten die nicht. Sie sind in Erklärungszwang, nicht wir. - Bei denjenigen, die früher in den geschlossenen Heimen waren, hat bei 100 Kindern das eine Kind von den anderen 99 noch das an krimineller Energie gelernt, was es noch nicht kannte. Deswegen wollen wir nicht in diese Zeiten zurück. Deshalb sind wir gegen diesen traditionellen Begriff von geschlossener Heimunterbringung. Wir haben einen anderen Begriff. Diese sieben Einrichtungen in den vier Bundesländern in Deutschland haben auch einen anderen Pädagogikbegriff von dieser Heimunterbringung. Deshalb glaube ich, dass es vernünftig ist, sich daran zu orientieren.

Ich führe mit Ihnen, Herr Klare - nun ist er weg -,

(Klare [CDU]: Nein, hier bin ich!)

gern auch eine pädagogische Debatte. Aber für mich zählt der Teil Repression mit zu der pädagogischen Seite. Das verbindet uns vermutlich in der ansonsten ein bisschen strittigen Situation. Ich vermute, am 3. Februar 2003 würden wir über diese Sache auch ruhiger reden können.

(Beifall bei der SPD)

Herr Kollege Wulff hat noch eine Zusatzfrage.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da uns die Landesregierung die von uns erbetene Regierungserklärung und die Debatte über die Regierungserklärung verweigert hat, besteht seit zweieinhalb Stunden nur die Möglichkeit, Fragen zu stellen, und deshalb stelle ich meine zweite Frage:

Halten Sie, Herr Ministerpräsident, es tatsächlich für einen Angriff auf Recht und Gesetz, insbesondere auf das Jugendhilferecht, dass das Land Bayern eine von uns besuchte und als vorzüglich bewertete Jugendhilfeeinrichtung, das Jugendheim Gauting bei München, sowohl für Kinder unter 14, als auch die geschlossene Heimunterbringung über 14 unterhält, mit 20,5 Millionen DM Investitionsmitteln gebaut, gefördert und mit Zuschüssen pro einzelnem untergebrachten Fall an die Kommune, die dort unterbringt, versehen und ausgebaut hat? Halten Sie das für einen Angriff auf die Rechtsordnung in Deutschland, für einen Verstoß gegen Recht und Gesetz oder für ein mustergültiges Verhalten eines Bundeslandes in diesem Themenfeld?

(Beifall bei der CDU)

Herr Ministerpräsident!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte es für einen wirklich unerträglichen Umgang mit Recht und Gesetz, wenn seitens der CDUFraktion der Eindruck vermittelt wird, erstens die Kinder- und Jugendkriminalität könne in Niedersachsen deshalb nicht gut genug bekämpft werden, weil wir keine Plätze für geschlossene Heimunterbringung hätten, und zweitens sei es die Schuld der

Landesregierung, dass es keine Plätze für geschlossene Heimunterbringung gebe.

(Zuruf von der CDU: Das ist ja auch so!)

Vielmehr müssen Sie einfach zur Kenntnis nehmen: Es gibt Plätze. Wir haben doch Plätze, in die wir einweisen können.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt niemanden - und das ist das Problem - -

(Zuruf von Wulff (Osnabrück) [CDU])

- Sie wollen ja noch nicht einmal zuhören. Können Sie mir erklären, warum wir auf Ihre Anforderung eine Regierungserklärung abgeben sollen, wenn Sie mir, wenn ich auf Ihre Fragen antworte, noch nicht einmal zuhören?

(Beifall bei der SPD)

Übrigens hätte es Ihnen völlig freigestanden, zu dem Thema eine Aktuelle Stunde zu beantragen.

(Beifall bei der SPD - Möllring [CDU]: Innerhalb von fünf Minuten?)

- Nein, wir haben in diesem Landtag auch schon Möglichkeiten gefunden, stattdessen auf andere Themen zu verzichten. Wir haben überhaupt kein Problem damit, mit Ihnen über das Thema Kinderund Jugendkriminalität zu diskutieren.

(Beifall bei der SPD - Wulff (Osna- brück) [CDU]: Sie haben es verweigert, Herr Gabriel, schriftlich verweigert!)

- Sie merken doch gerade, welchen Erfolg Sie damit erzielen. Ich habe damit überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich sage Ihnen nur: So geht das nicht. Wenn Sie im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität wirklich etwas verändern wollen, dann müssen Sie dort ansetzen, wo die ursprünglichen Zuständigkeiten liegen. Das ist keine formale Debatte. Es nützt Ihnen im Kampf gegen Kinderund Jugendkriminalität gar nichts, wenn Sie das Thema auf der Landesebene ansiedeln. Die Kinder leben vor Ort. Dort sind diejenigen, die die Familienverhältnisse und die Kinder gut kennen und mit denen die Zusammenarbeit in weiten Teilen Niedersachsens auch gut funktioniert. Dort müssen Sie ansetzen. In der Sekunde, in der jemand anzeigt,

dass es eine bestimmte Anzahl von Kindern gibt, die in geschlossenen Heimen untergebracht werden müssen und für die er keine Plätze findet, sind wir dabei und werden dafür sorgen, dass die Plätze bereitgestellt werden.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: Indem Sie auf Bayern zurückgreifen!)

- Natürlich! Die Bayern sind doch auch froh darüber, dass ihre Einrichtungen ausgelastet sind.

(Plaue [SPD] - zur CDU -: Ein solcher Unverstand, der durch Ihre Reden zum Ausdruck kommt! - Anhaltende Zurufe von der CDU)

- Herr Wulff, glauben Sie ernsthaft, dass das Land Bayern froh wäre, wenn dort der Landeszuschuss steigen müsste, weil aus anderen Ländern keine Belegung und damit keine Finanzierung mehr gewährleistet sind? - Das ist doch wirklich Unsinn. Wir haben doch auch Heime, die andere Länder nutzen. Also bitte schön! Das ist doch nicht wahr.

(Wulff (Osnabrück) [CDU]: In München sind die Kinder dann ja besonders nahe bei den Familien!)

Bitte tun Sie nicht so, als sei der Ansatz zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendkriminalität bei der Frage zu suchen, wie viel Geld das Land für leer stehende Plätze zur geschlossenen Heimunterbringung bereitstellt.

(Lebhafter Beifall bei der SPD - Wulff (Osnabrück) [CDU]: Null!)

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu Tagesordnungspunkt 21 b liegen mir nicht mehr vor. Bevor ich den Tagesordnungspunkt 21 c aufrufe, wäre ich dankbar dafür, wenn sich die Fraktionen einmal darüber verständigen würden, wie wir hier fortfahren wollen; denn wir sind zeitlich gewaltig im Verzug.

Ich rufe auf:

c) Suche der SPD-Landesregierung nach dem Weg aus der Finanzkrise - Teures Gutachten als Alibi für jahrelange Versäumnisse - Anfrage der Fraktion der CDU Drs. 14/3710

(Unruhe)

- Wenn die Damen und Herren den Plenarsaal verlassen haben, werde ich dem Redner das Wort erteilen. Können wir dahinten die Unterhaltungen einstellen? Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dürfen Unterhaltungen draußen führen. Frau Pothmer, Sie sind von uns sehr geschätzt, aber die Unterhaltung setzen Sie bitte draußen fort. Das Gleiche gilt für die Kollegen Stumpf und für andere auf der linken Seite des Hauses.

(Frau Stokar von Neuforn [GRÜNE] wird zur Wahl in den Bundestag be- glückwünscht)

- Ich habe zwar nichts gegen Küssen - im Gegenteil -, aber das können Sie auch draußen machen.

(Heiterkeit)

Die sind so fasziniert, dass sie das gar nicht merken. Ist ja auch schön; das muss man zugeben.

Meine Damen und Herren, der Kollege Rolfes hat das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Landesregierung hat nach eigenen Angaben im Rahmen ihrer Vorarbeiten für die Mittelfristige Planung die Unternehmensberatungsgesellschaft Roland Berger & Partner für ein Honorarvolumen von 600 000 Euro mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, in welchem für die dringend gebotene Sanierung des Landeshaushaltes mit einem jährlichen Handlungsbedarf von ca. 1 000 Millionen Euro erste Aussagen für die notwendigen Sanierungsschwerpunkte gemacht werden sollten. Dieses Gutachten ist dann am 27. August 2002 in Gestalt eines 19-seitigen „Konsolidierungskonzeptes 2003 bis 2007“ der Öffentlichkeit präsentiert worden. Dem Leser drängt sich angesichts der geringen Detailtiefe und Allgemeinheit der Aussagen die Vermutung auf, dass ein Großteil des für dieses Gutachten verausgabten Honorarvolumens dafür eingesetzt worden ist, dass die Gutachter ihrerseits auf Kosten des Steuerzahlers einen zeitaufwendigen Lernprozess zur Erfas

sung des Status quo des niedersächsischen Landeshaushaltes und der Landesverwaltung durchlaufen durften.

Darüber hinaus zeichnet sich die veröffentlichte Unterlage durch ein beachtliches Maß an Wiederholung von längst anderweitig vorgeschlagenen Konsolidierungsideen aus, für die es ausgereicht hätte, einen der vielen tüchtigen Bediensteten des Landes mit einer Synopse dieser diversen bereits vorliegenden Gutachtenergebnisse zur Personalkostenreduzierung und Aufgabenkritik zu betrauen. Auf diese Weise hätten wahrscheinlich 90 % der Arbeit von Roland Berger & Partner erspart werden können und hätte zugleich die Landesverwaltung den Nachweis angetreten, dass sie deutlich wertvollere Arbeit leisten kann, als die Landesregierung es offensichtlich glaubt.

Sollte dagegen das Roland Berger-Gutachten überzeugende weitergehende Vorschläge zur Konsolidierung des Landeshaushaltes enthalten - über die veröffentlichte Version des „Konsolidierungskonzeptes 2003 bis 2007“ hinaus -, dann wäre an die Landesregierung die Frage zu stellen, ob sie nicht in Wahrheit die in ihrer Presseerklärung am 27. August 2002 so pointiert herausgestellte Transparenz scheut und die weitergehenden Vorschläge von Roland Berger & Partner entweder gar nicht übernehmen oder jedenfalls bis zur Landtagswahl am 2. Februar 2003 unter der Decke halten möchte.

Die Presseinformation der Landesregierung vom 27. August 2002 und das so genannte „Konsolidierungskonzept 2003 bis 2007“ von Roland Berger zeigen eines deutlich auf: Die Landesregierung ist mit ihrem Latein am Ende; sie traut sich selber und dem von ihr demotivierten Verwaltungsapparat nichts mehr zu. Sie sucht ihr Heil beim Propheten aus dem fernen Land. 1 000 Millionen Euro Defizit pro Jahr sind eine Last, die mit dem Begriff „Handlungsbedarf“ nur beschönigt wird: Der Haushalt ist an die Wand gefahren, und nun sollen, ohne dass es der Wähler merken soll, möglichst alle denkbaren Reißleinen gleichzeitig gezogen werden.