Protocol of the Session on June 14, 2002

Meine Damen und Herren, die Landesregierung hat nach dieser Rede ihr Redezeitenkontingent um 21 Minuten überzogen. Der Ältestenrat war übereingekommen, sich bei der Bemessung der Redezeiten großzügig zu verhalten. Nach unserer Uhr stünden der CDU-Fraktion noch bis zu fünf Minuten zu. Ich erteile dem Kollegen Wulff das Wort. Sie haben bis zu 15 Minuten Redezeit.

(Zuruf von der SPD: Muss das sein?)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele von uns hatten nach den ersten Redeminuten des Ministerpräsidenten ohne Zweifel die Hoffnung, wir könnten eine seriöse Debatte über PISA und die Lage an den Schulen unseres Landes, was die Qualität betrifft, beginnen. Am Ende - niemand wird das bestreiten können war er wieder ganz der Alte, mit dem man eine seriöse Debatte in diesem Hause nicht führen kann.

(Beifall bei der CDU)

Ich habe hier des Öfteren die Probleme angemahnt: Leistungsschwächere fördern wir zu wenig; Leistungsstarke fordern wir zu wenig. Ich habe darüber gesprochen, dass wir Problemlösungskompetenzen wie Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen bei unseren Schülern fördern müssen. Einübendes Lernen müssen wir beispielsweise an den Grundschulen fördern. Der Ministerpräsident hat dazu auf dem SPD-Parteitag gesagt: Dass ich so etwas - beispielsweise das Auswendiglernen eines Gedichtes - propagiere, erinnere ihn an die Mullahs und Koranschulen und sei völlig untauglich für eine bildungspolitische Debatte.

Wer so mit Anregungen zur Gestaltung der Bildungslandschaft umgeht, sieht eben wirklich nur sich selbst und seine ideologischen Verbohrtheiten, nicht aber die Notwendigkeit einer bildungspolitischen Debatte, die wir in unserem Land zu führen haben.

(Beifall bei der CDU)

Herr Gabriel und Frau Ministerin Jürgens-Pieper, Kinder wollen etwas lernen, Kinder wollen etwas leisten, Kinder freuen sich, wenn sie Regeln ken

nen lernen, wenn Regeln wie z. B. das Einhalten von Redezeiten praktiziert werden. Das lernen Kinder gerne, weil sie dann wissen, woran sie sich orientieren können.

(Beifall bei der CDU)

Kinder haben erlebt, dass Sie Irrtümern aufgesessen sind und gesagt haben: Wir heben Regeln auf! Wir heben Notengebung auf! Wir überlassen die Kinder jahrelang einem Freiraum und konfrontieren sie nicht mit der Messung ihrer Leistungen. Die Kinder in den Grundschulen leiden darunter am allermeisten. Meine Tochter beispielsweise, die in das dritte Schuljahr kommt, wird wegen Ihrer Bildungspolitik ein halbes Jahr weniger Unterricht gehabt haben als ein Kind in Bayern, weil Sie die Anzahl der Unterrichtsstunden an den Grundschulen reduziert und einübendes Lernen, Lesen, Rechnen und Schreiben nicht propagiert haben.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Entscheidend in der Bildungspolitik unseres Landes ist die Unterrichtsversorgung. Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, die Zeit haben für junge Leute mit immer schwierigeren Anforderungsprofilen. Das ist am allerwichtigsten.

(Beifall bei der CDU)

Sie sind 1990 angetreten, im Bildungsbereich in Niedersachsen etwas verbessern zu wollen. Heute wissen wir: Alle Eckdaten haben sich verschlechtert. Die Zahl der Unterrichtsstunden je Schüler hat um 12 % abgenommen, die Schüler-Lehrer-Relation ist um 19 % schlechter geworden.

Herr Gabriel, spannend ist, dass Sie Vergleiche zu 1980 herstellen. Seinerzeit hatten wir gerade damit begonnen, die Defizite in der Bildungspolitik, die vor dem Jahre 1976 aufgelaufen waren, zu beseitigen.

(Beifall bei der CDU)

Außerdem verweisen Sie bei Ihren Ankündigungen auf die Zeit nach dieser Legislaturperiode. Sie haben 1990 die Regierungsverantwortung übernommen und müssen die Verantwortung für die letzten zwölf Jahre übernehmen. Auf dem Kernfeld der Bildungspolitik ist im Zusammenhang mit der Unterrichtsversorgung das Ergebnis für diesen Zeitraum mangelhaft.

(Beifall bei der CDU)

Wir wollen an unseren Schulen mehr Nachmittagsangebote. Dazu haben wir einen Antrag „Lernen plus - das Nachmittagsprogramm in der Schule“ in den Landtag eingebracht. Einbezogen haben wir dabei die Musikförderung, Kunstschulen, Vereine und Verbände sowie Lehrer, die dort Unterrichtsangebote an allen Schulformen unterrichten. Sie haben diesen Antrag im Plenum abgelehnt und Lehrerstunden, die für Arbeitsgemeinschaften zur Verfügung gestanden haben, in den Zuweisungserlassen für Lehrerstunden an Schulen gestrichen. Schulorchester und andere arbeiten auf Eigeninitiative.

(Beifall bei der CDU)

Sie als Ministerpräsident fordern Redlichkeit ein. In Ihrem Beitrag haben Sie, wenn ich mich recht erinnere, zehnmal den Begriff „redlich“ verwandt und darauf hingewiesen, zuhören sei eine gute Eigenschaft. Aber Sie besitzen diese Eigenschaft überhaupt nicht. Das ist Ihr Problem, Herr Gabriel.

(Beifall bei der CDU)

Sie lesen noch nicht einmal die Anträge, die wir hier eingebracht und die Sie als Abgeordneter Gabriel abgelehnt haben. Für das Haushaltsjahr 2002 haben wir 2 500 neue Stellen für Lehrerinnen und Lehrer für das neue Schuljahr beantragt und auch einen Finanzierungsvorschlag unterbreitet, und zwar ohne zusätzliche Nettoneuverschuldung.

(Beifall bei der CDU - Widerspruch bei der SPD - Zuruf von Plaue [SPD]: Sie reden wieder besseres Wissen die Unwahrheit! Das haben Sie nicht ge- tan!)

Noch schlimmer: Wir haben einen Entschließungsantrag zur Einstellung von 2 500 Lehrern zum Schuljahresbeginn 2002/2003 samt Finanzierungsvorschlag eingereicht. Wir haben Einsparvorschläge mit einer entsprechenden Vollfinanzierung eingereicht. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. In der nächsten Plenarsitzung werde ich Ihnen das in einer persönlichen Erklärung nachweisen und zitieren, damit Sie den Vorwurf der Unwahrheit hier öffentlich zurücknehmen können, Herr Plaue. Irgendwann muss das mit Ihnen einmal aufhören.

(Beifall bei der CDU)

Wir haben die Lehrerstellen beantragt und einen Finanzierungsvorschlag gemacht. Wir haben Anträge zur Stärkung von Hauptschule, Realschule

und Gymnasium und zu Nachmittagsangeboten sowie zu vielen anderen Themen, auf die ich noch zurückkommen werde, gestellt.

Zum Schulgesetz, wie Sie es jetzt durchpeitschen wollen, haben Sie die Stellungnahmen aller wichtigen Verbände und deren einhellige Ablehnung vorliegen. Das Handwerk hat Sie darauf hingewiesen, dass eine Förderstufe ohne jede Finanzierungsmöglichkeit ab Klasse 5 nicht auf die einzelnen Schulformen vorbereitet und insofern gegenüber der gescheiterten Orientierungsstufe keine Verbesserung darstellt. An der Stelle haben wir also nicht den Bündnispartner, den wir brauchen, um Nachwuchsmangel zu beseitigen und die von die Wirtschaft dringend benötigten Fachkräfte im Bildungsbereich zu qualifizieren.

Herr Gabriel, Ihr Problem ist, dass Sie nicht auf die Probleme der Wirtschaft hören, nicht darauf, welche Bedürfnisse das Handwerk und der Mittelstand haben, sondern Sie räumen Probleme immer erst dann ein, wenn sie durch andere - z. B. PISA unabweisbar nachgewiesen sind. Sie haben eben Fehler wie z. B. die Kürzung bei den Mitteln für die Lehrerfortbildung eingeräumt. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass Sie durch die Nichteinstellung von Lehrern die Verantwortung für einen gigantischen Lehrermangel in wenigen Jahren tragen, weil wir jetzt in Niedersachsen nicht Lehrer in ausreichender Zahl ausbilden.

(Beifall bei der CDU)

42 % aller Lehrerinnen und Lehrer, die heute noch an unseren Schulen unterrichten, werden in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen. Weil Sie jetzt nicht die Lehrerinnen und Lehrer, die zur Verfügung stehen und die wir dringend bräuchten, einstellen, werden wir sie in einigen Jahren auch nicht mehr als Bewerber haben, weil sie dann schon in andere Bundesländer abgewandert sind. Dafür tragen Sie und niemand anderes in diesem Land die Verantwortung.

(Beifall bei der CDU)

Der Landeselternrat hat erklärt, dass Schuleinzugsbereiche, Kapazitätsbeschränkungen und Losverfahren keine Mittel seien, die Qualität von Schule zu verbessern, und haben dem Schulgesetz, das Sie hier und heute durchpeitschen wollen, eine eindeutige Absage erteilt. So sieht die Wahrheit Ihrer Bildungspolitik aus.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von der SPD: Diese Probleme wollen Sie jetzt lösen?)

Meine Damen und Herren, in dem DIPF-Gutachten der Landesregierung steht der Satz:

„Ein integratives Schulsystem in Deutschland ist nicht mehrheitsfähig. Im Gegenteil: Längst überwundene bildungspolitische Konflikte würden wieder aufleben. Ein Schulkrieg

- so schreiben es Ihre Gutachter

ließe sich kaum vermeiden.“

Dann haben Sie in das Schulgesetz integrative und kooperative Konzepte als Leitbild der Bildungspolitik hineingeschrieben, und dann haben Sie in Ihren Leitantrag auf dem SPD-Parteitag hineingeschrieben: Flächendeckende Entwicklung der Gesamtschule ist unser Ziel der Bildungspolitik. - Das ist die Wahrheit. Wer darauf hinweist, verbreitet nicht Angst und Schrecken, sondern die Leute bekommen Angst und Schrecken vor dieser Politik gegen die Interessen der Bevölkerung.

(Beifall bei der CDU - Plaue [SPD]: Auch das ist selektive Wahrnehmung! Mehr können Sie auch nicht!)

Sie sind noch beim Neujahrsempfang der Industrie- und Handelskammer Hannover-Hildesheim angetreten und haben dort unter dem Beifall von 1 500 Unternehmern erklärt, Sie wollten die Hauptschule stärken, Sie wollten das Abitur nach Klasse 12, und Sie wollten die Orientierungsstufe abschaffen. Heute, am Tage der Verabschiedung des Schulgesetzes, wissen wir: Sie stärken die Hauptschule nicht, sondern Sie schaffen sie faktisch ab. Sie schaffen nicht das Abitur nach Klasse 12, sondern Sie lassen das in einigen wenigen Ausnahmefällen zu - weil Sie das natürlich auch gar nicht machen können -,

(Plaue [SPD]: Sie haben nichts ver- standen!)

und Sie schaffen die Orientierungsstufe nicht ab, sondern Sie etikettieren Sie um. Das ist die Wirklichkeit Ihrer Ankündigungen und der Umsetzung!

(Beifall bei der CDU - Plaue [SPD]: Das sind die Reden der letzten Jahr- zehnte und keine neuen Reden! Das ist alles kalter Kaffee!)

- Herr Plaue, Sie hier in Hannover haben dieses Problem nicht, weil Sie hier keine Landesgrenze in der Umgebung haben. Schauen Sie sich aber einmal im Landkreis Osnabrück an, wie viele Eltern ihre Kinder bei Gymnasien, Hauptschulen oder Realschulen in Nordrhein-Westfalen anmelden, wie viele Kinder aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg auf Gymnasien in Mecklenburg-Vorpommern gehen und wie viele Kinder an der Elbe nach Schleswig-Holstein gehen, weil sie das gegliederte, begabungsgerechte Bildungswesen wollen und in Niedersachsen nicht vorfinden.

(Beifall bei der CDU - Plaue [SPD]: Was für eine Wahrnehmung haben Sie eigentlich?)

- Herr Plaue, es fiel schwer, Ihnen eben zuzuhören, aber ich habe das trotzdem bewerkstelligt. Dann sollten Sie das auch können oder zumindest versuchen, Herr Plaue.

(Plaue [SPD]: Gerne! Sie waren bei meiner Rede doch gar nicht da!)