Protocol of the Session on May 15, 2002

Meine Damen und Herren, da wir schon mehrfach gehört haben und vielfach lesen können - Frau Harms hat es hier richtigerweise gesagt -, was uns alles empfohlen wird, möchte ich uns allen heute eine Empfehlung nicht ersparen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns wird allenthalben gesagt, junge Menschen brauchen Vorbilder, weil sie Orientierung brauchen. Wenn das richtig ist - ich glaube, es ist richtig -, dann müssen wir auch über uns reden. Ich habe mir lange überlegt, ob ich das sagen soll, was ich jetzt sagen werde. Als ich gestern aber die Zeitung aufgeschlagen habe, war ich der Meinung, dass ich es sagen müsste.

In der gestrigen Ausgabe der HAZ steht auf Seite 1 als Aufmacher ein Artikel zur Spendenaffäre der CSU. Auf der zweiten Seite wird rechts oben mitgeteilt, was mit dem Wuppertaler Oberbürgermeister geschieht und welchen Verdachtsmomenten er ausgesetzt ist. Auf der zweiten Seite unten wird getitelt: „Spendensumpf der Kölner SPD ist noch tiefer.“ Ich nenne dies nur beispielhaft, meine Damen und Herren. Wir als Politiker müssen in diesem Zusammenhang auch über uns und unser Erscheinungsbild reden; denn die Frage, inwieweit wir selbst Orientierung geben können, steht im Raum und wird von jungen Leuten massiv, vehement und auch zu Recht eingeklagt.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, wir erwarten viel von unseren Schulen und auch von unseren Lehrern. An dieser Stelle aber auch ein offenes Wort. Es nützt ja nichts, dass wir versuchen, nur drum herum zu reden. Wie sollen sich Lehrerinnen und Lehrer in der Grundschule selbst bei noch so gutem Willen, den ich allen Lehrerinnen und Lehrern unterstelle, bei einer Klassenstärke von 28 Kindern und womöglich auch noch Kindern verschiedener Nationalitäten dem einzelnen Kind wirklich ernsthaft zuwenden? Wer kann das eigentlich, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der CDU)

Ich sage das nicht anklagend, sondern die Aufgabe, diese hohen Klassenfrequenzen zu senken, geht uns alle an. Fest steht aber auch, dass dieser Problemkreis in den Gesprächen mit den Eltern immer wieder genannt wird.

Meine Damen und Herren, auch heute Morgen habe ich gehört: Wir brauchen Wertorientierung. Werte und Normen müssen auch in unseren Schulen vermittelt werden. Meine sehr verehrten Da

men und Herren, wie soll das aber - das frage ich ohne Anklage - geschehen? Wenn in Niedersachsen 60 % des Religionsunterrichts ausfallen, dann frage ich mich: Ist das nicht eine Herausforderung an uns alle? - Wenn es gilt, dass Werte und Normen für die Gestaltung des Lebensweges junger Menschen wichtig sind, dann können wir uns mit diesen 60 % nicht abfinden.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, es ist geradezu zynisch, dass wir in diesem Kontext darüber diskutieren, wie wir islamischen Religionsunterricht erteilen sollen. Ich bin sehr dafür, dass wir das tun, aus vielen Gründen, die ich an dieser Stelle gar nicht erläutern kann. Zunächst einmal wünsche ich mir aber, dass wir es schaffen, in Niedersachsen 80 % oder 90 % - vorsichtig gesagt - christlich orientierten Religionsunterricht zu erteilen. Dann wären wir schon eine Ecke weiter.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, die AmerikanischPhilosophische Gesellschaft - ich vermute, dass Sie, Herr Pfeiffer, sie kennen - berichtet: Ein Jugendlicher bis zum 15. Lebensjahr sieht durchschnittlich 8 000 Morde und 10 000 Gewalttaten und verbringt insgesamt mehr Zeit vor dem Fernseher als in der Schule. Marion Gräfin Dönhoff schreibt in ihrem Buch „Zivilisiert den Kapitalismus“ wörtlich:

„Die erschreckende Brutalität, die unser heutiges Leben und das Heranwachsen der Kinder charakterisiert, ist vor allem auf das Fehlen ethischer Formen und moralischer Barrieren zurückzuführen. Wenn diese Entwicklung Hand in Hand geht mit einer fortschreitenden Säkularisierung, bei der hergebrachte moralische Normen und ethische Gebote in Vergessenheit geraten, endet dieser Prozess zwangsläufig in Hedonismus und Nihilismus.“

Ich füge hinzu: Er endet auch in der Gewaltanwendung. Anders ausgedrückt: Meine Damen und Herren, wo der Fernseher zum ständigen Wegbegleiter von Kindern wird und Rambos und Killer zu Babysittern mutieren, können konfliktfähige und friedfertige Kinder in Wahrheit nicht aufwachsen.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, deshalb müssen unsere Familien mehr sein als ökonomische Sozialverbände. Unsere Elternhäuser sind nicht nur dazu da, Kinder anzuspornen, sondern sie sind auch dazu da, sie aufzufangen, wenn sie versagen sollten. Wo für Kinder die Gewissheit, trotz persönlichen Versagens von den Eltern geliebt zu werden, verloren geht, müssen Kinder in ihrem Leben fast zwangsläufig scheitern.

Aber eine Frage bleibt: Hätte man diesen Amoklauf verhindern können, wenn alle Vorschläge, die bisher auf dem Tisch liegen, umgesetzt worden wären? - Ebenso wie meine Vorrednerin kann ich darauf keine Antwort geben. Aber eines muss klar sein, meine Damen und Herren: Eine bessere, stärkere und intensivere Vermittlung von Wertorientierung und die Hilfe für Elternhäuser - die manchmal hilflos sind - ist, wie ich finde, das Gebot der Stunde.

Helmut Schmidt hat im Zusammenhang mit der Problematik des Fernsehens einmal geschrieben - auch wenn ich ihm nicht allgemein zustimme, hat er im Kern Recht -:

„Die vom Fernsehen ausgehenden Einflüsse bedeuten in ihrer Gesamtheit nichts anderes als eine schleichende Verführung vor allem von Jugendlichen und Kindern zu Verbrechen und Gewalt.“

Neu ist diese Erkenntnis allerdings nicht. Man kann vermuten, dass die Gefahren gewaltverherrlichender Filme in Wahrheit auch nicht durch die Einrichtung von Runden Tischen vermindert werden können. Selbst wenn es gelänge, auf diesem Gebiet Fortschritte durch Runde Tische zu erzielen - was ich nachdrücklich begrüßen würde -, ist die Welt leider so, wie sie ist. Die Bilder von erschossenen und verbrannten Menschen, von zerbombten Häusern, von Krieg und Elend werden in jeder Nachrichtensendung gezeigt und machen auch vor Kinderaugen nicht Halt. Wenn diese sehen, dass Eltern in Irland und Palästina ihre Kinder geradezu dazu auffordern und ermuntern, an Gewaltaktionen teilzunehmen, und sie auch noch als Märtyrer feiern, wird uns klar, welche Dimension diese Aufgabe für uns hat.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Aufgabe geht weit über unsere nationalen Grenzen hinaus. Hans Küng hat einmal gesagt:

„In einer globalisierten, ökonomisierten Welt, die immer mehr zusammenrückt, reicht es nicht aus, gemeinsame ökonomische Strategien zu vertreten. Eine ökonomisierte, globalisierte Welt wird auf Dauer nur friedfertig miteinander umgehen können, wenn es ein globalisiertes Ethos gibt.“

Ich meine, dass manche Regierungskonferenz, die aus ökonomischen, finanzpolitischen Gründen sicherlich wichtig ist, gut beraten wäre, wenn sie sich auch einmal ethischen Fragen zuwenden würde.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, Otto Schily hat gefordert, das Alter für den Waffenbesitz auf 25 Jahre anzuheben. Ich möchte mich des Urteils, ob ich das für vernünftig halte oder nicht, enthalten. Was geht aus dieser Forderung hervor? - Andere haben sie ja auch erhoben. - Daraus geht hervor, dass diejenigen, die mit einem solchen Gerät umgehen, ein Stück weit Lebenserfahrung und Verantwortungsbewusstsein haben müssen. Ich meine, er hat Recht. Aber wie passt das mit den Debatten, die ich noch in Erinnerung habe, zusammen, in denen es um das Wahlalter 16 ging? - Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer zwischen Wahlfähigkeit und Waffenbesitzfähigkeit einen Zeitraum von fast zehn Jahren legt, der muss sich wirklich ernsthaft nach der Logik seiner Argumente fragen.

(Beifall bei der CDU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt 4,5 Millionen registrierte legale Schusswaffen. In dem SPD-Antrag wurde richtig beschrieben, dass es 20 Millionen illegale Schusswaffen gibt. Die Probleme bereiten nicht diejenigen, die legal im Besitz von Schusswaffen sind. Denn wenn ich den Statistiken des Innenministers und des Justizministers Glauben schenken darf, sind diese an den Straftaten mit nur 0,01 % beteiligt. Worum geht es also, meine Damen und Herren? - Es geht - ich unterstütze das nachdrücklich - darum, dass wir diejenigen schärfer bestrafen, die sich illegal in den Besitz von Schusswaffen bringen.

(Beifall bei der CDU)

Ich sage klipp und klar: Das kann nicht mehr als Vergehen durchgehen, sondern nur als Straftat bewertet werden, die mindestens mit einem Jahr Freiheitsstrafe belegt werden sollte.

Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich etwas zitieren, was einmal jemand geschrieben hat:

„Ich wünsche mir einen Aufbruch der vielen, bei dem sich der einzelne selbst wieder auf die Werte und Tugenden besinnt, auch auf die Sekundärtugenden, denen unser Volk den Wiederaufstieg nach der Katastrophe verdankt.“

Das war Hans-Jochen Vogel. Ich glaube, er hat Recht. Eine Gesellschaft, in der der Einzelne in weiten Teilen - auch der Wirtschaft - nur noch nach seiner ökonomischen und intellektuellen Verwertbarkeit beurteilt wird, wird zunehmend eine kalte und unsoziale Gesellschaft, in der wir nicht leben sollten und in der solche Ereignisse, wie wir sie in den vergangenen Monaten zur Kenntnis nehmen mussten, sicherlich kein Ende finden.

Wir haben gemeinsam viel zu tun und sollten das parteiübergreifend versuchen, denn die Dimension, um die es hier geht, ist mit Parteibüchern nicht einzufangen. - Herzlichen Dank.

(Starker Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, jetzt hat sich Herr Ministerpräsident Gabriel zu Wort gemeldet.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich auch vor dem Parlament für die Gesprächsbereitschaft der Fraktionen und der Fraktionsvorsitzenden bedanken. Ich habe gestern zu einem Gespräch eingeladen und u. a. den Vorschlag gemacht, die Initiative, die wir im Jahr 2000 zum Thema Rechtsradikalismus und Gewalt - ich meine, mit großem Erfolg - in Niedersachsen ins Leben gerufen haben, zu erweitern und neu zu beleben.

Gemeinsam mit dem Landtagspräsidenten Herrn Wernstedt und den Fraktionen werden wir - wie in den vergangenen beiden Jahren - die Vereine und

Verbände aus Niedersachsen aus dem Ehrenamtsbereich sowie den Landespräventionsrat einladen. Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass sie für die Projekte, die unter dem Thema „Zukunft für Kinder - Ächtung von Gewalt“ überall im Land gefördert werden sollen, sicherlich auch die Finanzmittel bereitstellen werden - so wie es uns damals gelungen ist. Ich möchte daran erinnern, dass wir über 90 - fast 100 - Projekte in ganz Niedersachsen ins Leben gerufen haben, die sich mit diesem Themenfeld auseinander gesetzt haben und die bis heute bestehen. Der große Unterschied zu früheren Debatten über Rechtsradikalismus war, dass sich alle gesellschaftlichen Gruppen - z. B. die Feuerwehr, der Sport und das Rote Kreuz - daran beteiligt haben, und es nicht nur ein Thema der Politik gewesen ist. Ich fand es sehr ermutigend, was wir dort erlebt haben.

Ich weiß auch, dass das nur ein Mosaikstein ist. Er wird nicht das ersetzen, worüber hier eben debattiert worden ist. Anknüpfend an den Beitrag von Herrn Kollegen Gansäuer stelle ich fest: Wenn es uns nicht gelingt, in breiten Teilen der Bevölkerung die Zeit und die Räume zu organisieren, die Kinder - und zwar in der Familie und auch mit der Familie - in Institutionen, in Vereinen, in Verbänden, in Städten, in Gemeinden und Orten brauchen, dann werden unsere Aktivitäten immer ein Stück Hilflosigkeit beinhalten. Wir brauchen den Zugang in unserer Gesellschaft. Das ist kein Thema - das haben alle heute gesagt -, das nur die Politik bewältigen kann. Ich bin froh, dass wir das sehr schnell- wie damals auch - einvernehmlich geschafft haben.

Herr Kollege Gansäuer, an einer Stelle Ihres Redebeitrags bin ich etwas nachdenklich geworden, nämlich als Sie gesagt haben, dass eigentlich die Familien diesen Auftrag haben. Damit haben Sie Recht. Wenn aber jemand formuliert „Wir müssen Werte vermitteln“, dann muss er auch wissen, dass das nicht Staat und Politik allein leisten können. Vielmehr ist das natürlich auch Aufgabe der Erwachsenenwelt.

Gestatten Sie mir folgende Fragen: Was ist eigentlich, wenn das nicht gelingt? Was sind die Gründe dafür, dass es nicht gelingt?

(Zuruf von Busemann [CDU])

Was ist, wenn Eltern zwar Werte vermitteln, aber nicht jene, die in unserer Verfassung stehen? - Ich habe einmal gesagt, dass sich die einzige Leitkul

tur, die wir in Deutschland brauchen, aus den ersten 20 Artikeln unserer Verfassung ergibt. Man kann auch die zehn Gebote nehmen. Das ist sprachlich, nicht aber im Kern ein Unterschied. Was ist eigentlich, wenn wir im Alltagsleben in unserer Gesellschaft - aus welchen Gründen auch immer - diese Werte offenbar nicht vorleben? Auch Erwachsene lernen in unserer Gesellschaft. Es gab schon einmal eine Initiative unter der Überschrift „Mut zur Erziehung - geistige moralische Wende“. Ende der 70er-Jahre ist auf vielen Seiten viel Kluges geschrieben worden. Manches von dem, was damals geschrieben wurde, was damals, auch von Sozialdemokraten, kritisiert und was an Sekundärtugenden diffamiert worden ist, ist für den Erhalt einer funktionsfähigen Gesellschaft notwendig. Manches von dem, was damals geschrieben wurde, hat aber in den 80er-Jahren zu dem Begriff der Ellenbogengesellschaft geführt.

Die ausschließliche Orientierung unter der Überschrift der geistig-moralischen Wende an dem Leistungsgedanken, daran, dass nur noch das ökonomische Prinzip gilt, erleben wir heute daran, dass viele von uns den Eindruck haben, in Artikel 14 Abs. 2 des Grundgesetzes stünde, Eigentum verpflichte zu möglichst hohen Börsenkursen. Wir alle wissen, dass das nicht so ist, aber wir leben eine andere Welt vor.

Sie fordern zu Recht ein, dass Erwachsene zu Hause im Umgang mit Kindern bestimmte Werte vermitteln sollen - auch in Vereinen, im Sport, in der Nachbarschaft, in der Verwandtschaft, im gesamten Umfeld von Familie. Wir alle müssen uns aber fragen, ob wir nicht gerade ein Europa und eine Bundesrepublik Deutschland organisieren, bei denen das Ellenbogenprinzip zum ausschließlichen Prinzip der Durchsetzungsfähigkeit in unserer Gesellschaft wird. Wenn das so ist, dann müssen wir aufpassen, dass wir mit dem, was wir im Alltag tun, in der Erwachsenenwelt nicht das Gegenteil dessen vermitteln, was wir an Vermittlung von Werten durch Eltern in der Familie verlangen.

Dazu zählt auch, dass die Kritik an den Medien wohlfeil ist, wenn man nicht gleichzeitig auch bereit ist, Konsequenzen zu ziehen. Es gibt durchaus einen Unterschied zwischen den Programmangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und dem, was zur Primetime an bestimmten Filmen von anderen Sendern gezeigt wird. Schon die Erwähnung dieses Sachverhalts führt u. a. zu der Drohung, man werde in Zukunft keine Lizenz mehr in dem Land beantragen, das bereit ist, über

Derartiges zu diskutieren. Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht dem ökonomischen Prinzip beugen,

(Gansäuer [CDU]: Leider richtig!)

sondern wir müssen sagen, dass wir darüber offen diskutieren wollen. Das ist keine Diffamierung von Privatfernsehen. Wir wollen privates Fernsehen in Deutschland! Aber wir wollen über Inhalte, die unsere Gesellschaft prägen, offen in einer freien Gesellschaft diskutieren, ohne ausschließlich ökonomische Interessen in den Vordergrund zu stellen.