Protocol of the Session on May 15, 2002

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich zu erheben.

Am 2. Mai 2002 verstarb der ehemalige Abgeordnete des Niedersächsischen Landtages Herr Dr. Horst Engstler im Alter von 69 Jahren. Herr Dr. Engstler war von 1990 bis 1994 Mitglied der CDU-Fraktion des Niedersächsischen Landtages. Während dieser Zeit war er in verschiedenen Ausschüssen tätig.

Am 9. Mai verstarb der ehemalige Abgeordnete Wilhelm Meyer im Alter von 73 Jahren. Herr Meyer gehörte die Niedersächsischen Landtag als Mitglied der CDU-Fraktion von 1982 bis 1986 an und war in dieser Zeit in den Ausschüssen für Jugend und Sport sowie für Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler sowie Fragen des Zonenrandgebietes tätig. Herr Meyer war Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.

Wir werden beide Kollegen in guter Erinnerung behalten. - Ich danke Ihnen.

Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, stelle ich die Beschlussfähigkeit des Hauses fest.

Zur Tagesordnung: Die Einladung und die Tagesordnung für diesen Tagungsabschnitt liegen Ihnen gedruckt vor. Für die Aktuelle Stunde, die dieses Mal ausnahmsweise erst morgen stattfindet, liegen drei Beratungsgegenstände vor. Es liegen drei Dringliche Anfragen vor, die Freitag früh ab 9 Uhr beantwortet werden.

Im Ältestenrat sind für die Beratung einzelner Punkte bestimmte Redezeiten gemäß § 71 unserer Geschäftsordnung vereinbart worden. Diese pauschalen Redezeiten sind den Fraktionen und den Abgeordneten bekannt; sie werden nach dem im Ältestenrat vereinbarten Verteilerschlüssel aufgeteilt. Ich gehe davon aus, dass die vom Ältestenrat vorgeschlagenen Regelungen für die Beratungen verbindlich sind und darüber nicht mehr bei jedem Punkt abgestimmt wird. - Ich stelle fest, dass das Haus mit diesem Verfahren einverstanden ist.

Die heutige Sitzung soll gegen 18.45 Uhr enden.

In der SPD-Loge hat der Präsident der Vereinigung der freien Gewerkschaften Weißrusslands, Herr Nicolai Kanakh, Platz genommen. Herr Kanakh, ich begrüße Sie im Namen des Hauses herzlich und wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie noch auf eine Veranstaltung hinweisen. In der Wandelhalle präsentiert das Niedersächsischen Landesamt für Statistik die Ausstellung „Strukturdaten für die Landtagswahlkreise“. Die Statistiker dieses Amtes stehen auch für Auskünfte und Beratungsgespräche zur Verfügung. Ich empfehle diese Veranstaltung Ihrer Aufmerksamkeit.

An die rechtzeitige Rückgabe der Reden an den Stenografischen Dienst - bis spätestens morgen Mittag, 12 Uhr - wird erinnert.

Es folgen jetzt geschäftliche Mitteilungen durch den Schriftführer. Bitte schön, Herr Sehrt!

Es haben sich entschuldigt von der Landesregierung Ministerpräsident Herr Gabriel für nach der Mittagspause, von der Fraktion der SPD Herr Collmann, Herr Groth, Frau Merk und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau JanssenKucz für den Vormittag.

Schönen Dank, Herr Kollege Sehrt.

Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt die Punkte 1 und 2 unserer Tagesordnung auf, die vereinbarungsgemäß zusammen behandelt werden.

Tagesordnungspunkt 1: Erste Beratung: Erfurt und die Folgen - Ursachen erkennen, Gewalt vermeiden - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 14/3369

und

Tagesordnungspunkt 2: Erste Beratung: Allianz für Wertekonsens und zur Ächtung von Gewalt - Antrag der Fraktion der CDU Drs. 14/3373

Zu Wort gemeldet hat sich Herr Kollege Professor Wernstedt. Ich erteile ihm das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten uns im Ältestenrat darauf verständigt, unter Einbeziehung der beiden vorliegenden Anträge eine Grundsatzdebatte zu führen.

Bei der Durchsicht der Meinungsäußerungen, die als Folge des Massenmordes eines Erfurter Gymnasiasten zu hören oder auch zu lesen waren, fällt auf, dass es keine angemessene Sprache für derartiges Tun gibt. Die öffentliche Erwartungshaltung an die Politik, möglichst fix und möglichst perfekte Lösungen für Probleme anzubieten, kam in diesem Fall deutlich und sehr schnell an ihre Grenze. Glaubwürdigkeit in der Rede konnte nur erringen, wer erkennbar nach Worten rang und sich auch nicht scheute, etwas von Ratlosigkeit spüren zu lassen. Mancher hätte deswegen dazu besser geschwiegen.

In etwa 40 000 Schulen in Deutschland lernen und arbeiten knapp 10 Millionen Schülerinnen und Schüler, die auch bei individuellen Problemen nicht dazu greifen, wahllos Menschen zu töten oder gar gezielt ihre Lehrerinnen und Lehrer umzubringen. Die wenigen Fälle in den letzten Jahren in Sachsen, Bayern und jetzt in Thüringen sind dennoch Veranlassung genug, über Gewalt in unserer Gesellschaft neu nachzudenken.

Die vorliegenden Anträge greifen die in den letzten Tagen gemachten Vorschläge auf. Sie sind im Einzelnen sinnvoll, obwohl wir alle sehen, dass sie letztlich das Verbrechen von Erfurt nicht vollständig ausgeschlossen hätten.

Mich beunruhigt, dass wir an sich vernünftige Vorstellungen normalerweise so schwer durch den politischen Prozess bekommen. Es ist in diesem Sinne natürlich fragwürdig - im wörtlichen Sinne des Wortes -, dass es erst des Amoklaufs in Erfurt bedurfte, um genauer hinzusehen, welche Auswüchse im geltenden Waffenrecht möglich sind,

obgleich die Experten so lange darüber beraten haben.

Es ist genauso kein Ruhmesblatt unserer politischen Kultur, dass wir erst jetzt offenbar und Gott sei Dank einhellig der Meinung sind, dass so genannte extreme Gewaltvideos verboten gehören. Seit Jahren kann man feststellen, welch ein unglaubliches Reservoir an Gewalt, an Scheußlichkeiten, an Menschenverachtung und Perversitäten im Namen der Freiheit angeboten und konsumiert wird. Die Ächtung dieser Tendenz hätte längst vor Erfurt einsetzen müssen, weil die Geschäftemacherei und der Kundenfang mit dieser Art von kriminellen Verhaltensmustern nichts, aber auch gar nichts mit den Wertevorstellungen, wie sie uns das Grundgesetz zeigt, zu tun haben.

(Beifall bei der SPD und bei Abge- ordneten der CDU und der GRÜNEN)

Für mich - ich sage das auch als ehemaliger Bildungspolitiker - ist es genauso unverständlich, dass die gedankenlose und die Würde Heranwachsender verletzende Regelung des Thüringer Schulrechts, dass man nach der 11. Klasse eines Gymnasiums ohne jeglichen Schulabschluss dastehen kann, erst nach Erfurt revidiert werden soll.

(Beifall bei der SPD und bei den GRÜNEN und von Klare [CDU])

Aber gleichwohl ist die wirksame Art, in unserer Gesellschaft Gewalt einzudämmen und womöglich zu verhindern, ein viel schwierigeres und komplizierteres Geschäft, als dass sie durch schnelle und vielleicht auch sinnvolle Einzelmaßnahmen kurzweg erreicht werden kann.

Ich möchte das an dem Beispiel der einleuchtenden und so leicht klingenden Forderung nach mehr Wertevermittlung erläutern. Darüber reden wir ja alle, auf allen Seiten des politischen Spektrums. Unser einhelliges Entsetzen am 26. April gründete, glaube ich, in dem ungeheuren Tabubruch aller für selbstverständlich gehaltenen Grundregeln: der Regel des Tötungsverbots, des Ehrlichkeitserfordernisses, der Feigheitsverachtung und des offenen Menschenvernichtungswillens. Der Erfurter Schüler ist offenbar aus allen vernünftigerweise erwartbaren Verhaltensregelungen und Regeln und Lebensmustern herausgefallen.

Die millionenfache Anteilnahme zeigt aber, dass man so etwas natürlich nicht will, sondern dass Werte und Normen und Ideale gelten sollen. Dabei

sollten wir uns allerdings auch nichts vormachen. Kinder und Jugendliche haben einen untrüglichen Sinn für Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit und auch dafür, wenn sie verletzt werden. Unsere Gesellschaft und auch die Erwachsenen sind im ethischen Sinne nicht widerspruchsfrei, auch wir nicht. Das war und ist für viele, gerade junge Leute, ein echtes Problem.

Werteerziehung im Sinne eines puren Appells ist ziemlich wirkungslos. Das fängt schon bei der Warnung vor Drogenkonsum an, die Jugendliche mit dem Hinweis auf Alkohol sehr leicht parieren können. Aber wir signalisieren durch die Unvollkommenheit der Welt, auch durch so etwas wie Tschernobyl oder Terrorangriffe, durch Klimakatastrophen, Kriege und Weltarmut, dass die verantwortlichen Erwachsenen diese Welt nicht im Griff haben und auch nur bedingt haben können.

Die ethische Forderung nach Friedfertigkeit wird konterkariert durch die Beteiligung auch im eigenen Land an Waffenproduktion und Waffenexport. Der ethisch durchaus vertretbare Wunsch nach Mehrung und Sicherung des Wohlstandes, für den wir alle stehen und jahrzehntelang kämpfen, gerät bei geringem Nachdenken schon in Widerspruch zum täglichen Hungertod tausender Kinder in der Dritten Welt. Die Grundvorstellung, dass Freiheit sein soll, wird konterkariert durch diejenigen, die sie zulasten anderer ausnutzen. Das erhabene Ziel, soziale Gerechtigkeit anzustreben, kontrastiert auch hier zu Lande mit der teilweise unvorstellbaren Kluft von Reich und Arm. Man denke nur an die große Zahl der von der Sozialhilfe abhängigen Kinder.

Der von uns allen gewünschte und ersehnte Gemein- und Solidaritätssinn erlebt täglich seine Widerlegung in der Ellenbogengesellschaft, in der Egoismus und rücksichtslose Durchsetzungskraft regieren und häufig auch erfolgreich sind. Wir sprechen von Empathie, stoßen aber auf weit verbreitete Gleichgültigkeit. In Hannover-Stöcken hat sich vor einigen Wochen ein 17-Jähriger das Bein gebrochen, lag am Straßenrand und flehte einen vorbeigehenden Fußgänger im Alter von 50 bis 60 Jahren an, er möge doch Hilfe holen. Seine Antwort war: „Was geht mich das an?“

Die Sensibilität mit Schwachen, Kranken und Niedergedrückten gilt als vorbildlich. Aber wir beobachten eine ständig sich ausbreitende Unfähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen. Die Würde und die Unverletzlichkeit der Person will jeder

hoch halten. In Wahrheit sind Übergriffe grober, aber auch subtiler Art wie Mobbing am Arbeitsplatz und in der Schule alltäglich.

Wir fordern und erwarten harten Wettbewerb und feiern die Sieger, haben aber keinen Sinn und auch keine Instrumente, wie wir mit der Mehrzahl der so genannten Verlierer umgehen. Wir bejubeln die Eliten, erkennen aber die Leistung der Normalbevölkerung nicht an. Wir kennen den Wert von Verlässlichkeit, von Höflichkeit und Ehrfurcht, erleben aber im Erwachsenenleben Verschlagenheit, taktisches Verhalten und subkutane oder offene Häme.

Diese Gesellschaft weiß, dass sich die Menschen zum großen Teil über Arbeit definieren. Sie bekommt aber seit mehr als 20 Jahren die Arbeitslosigkeit nicht in den Griff. Wir erwarten voneinander Aufrichtigkeit, sind aber konfrontiert mit millionenfacher Steuerhinterziehung, die als Kavaliersdelikt gilt, und Parteispendenaffären. Wir zeichnen Mut und Zivilcourage aus, erleben aber Feigheit im Kleinen und im Großen. Nach Großmutterart heben wir die Tugend der Bescheidenheit hervor, wissen aber, dass angeheizter Konsum Arbeitsplätze schafft; und dann gefällt uns auch Protzerei und Großkotzigkeit. Junge Mädchen merken schon sehr früh, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht überall gelebt wird.

Mit dieser Aufstellung soll nun keineswegs gesagt sein, dass es sinnlos ist, auf Werteerziehung keinen Wert zu legen. Vielmehr wird es nur einen Hauch von Erfolg geben, wenn der Erzieher - und das sind wir alle - weiß, dass auch er selbst erzogen werden muss. Denn Eines ist auch klar: Freiheit, Wahrheit, Toleranz, Gerechtigkeit und Gemeinsinn und andere Werte beginnt man erst dann zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind oder zu schwinden drohen. Deshalb ist nicht die Regelverletzung eines Einzelnen das wirklich gravierende Problem, sondern die schleichende und massenhafte Erodierung des Grundwertebewusstseins in der Gesellschaft überhaupt.

Jugendliche neigen häufig dazu, mit dem Hinweis auf den Missbrauch von Werten diese selbst infrage zu stellen und für sich nicht gelten lassen zu wollen. Das ist ein Denkfehler; denn das Unvollkommene zu denken und in Rechnung zu stellen, bedeutet nicht, Ideale und Werte zu denunzieren und ihre Geltung infrage zu stellen. Die Abwesenheit von Normen und Herrschaft bringt nicht Freiheit und Toleranz hervor, sondern mafiose Strukturen und mörderische Verhältnisse, wie wir in Tei

len des zusammengebrochenen Sowjetimperiums sehen können. Der Rechtsstaat ist deswegen der Versuch, nicht die Garantie, Gerechtigkeit für jeden Mann und jede Frau gelten zu lassen. Normen und Werte gelten auch dann, wenn wir in Rechnung stellen, dass sie nicht vollkommen durchsetzbar sind und sich nicht alle daran halten mögen.

Diesen Widerspruch, der auch in jeder Einzelperson stecken kann, auszuhalten, ist ein wichtiges Ziel von Erziehung, ohne dass die Werte aufgegeben werden. Die Beobachtung, dass es in unserer Leistungsgesellschaft massenhaft leistungsloses Einkommen gibt und viele mit möglichst wenig Leistung viel Geld erhalten, kann nicht dazu führen, dass man selbst keine Leistung mehr erbringen will.

Es könnte daher ein didaktisches Prinzip sein, ein erzieherisches Prinzip sein, auf die dilemmatischen Situationen, also die widersprüchlichen Situationen in einem selbst hinzuweisen, in denen sich auch Jugendliche befinden, wenn sie z. B. an die Erwachsenen den Anspruch auf Unversehrtheit und Gesundheit stellen, aber zugleich das Rauchen kultivieren; oder indem sie gleichzeitig Respekt und Anerkennung für sich einfordern, narzisstisch verliebt, sie aber anderen nicht gewähren wollen.

Ich behaupte, dass die Frage danach, was diese Gesellschaft zusammenhält, keine erzieherische Frage allein ist und auch keine nur belehrende Konsequenz haben kann. Werteproblematiken zeigen sich im praktischen Verhalten. Deshalb ist es so wichtig, auch in unseren Erziehungseinrichtungen auch die Gelegenheiten zu vergrößern, Selbständigkeit einzuüben und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

In Erfurt hat offenbar der Schüler weder für sich noch für andere Verantwortung zu übernehmen gelernt, aber auch die Schule und die Eltern ihm gegenüber nicht. Deswegen braucht unsere Gesellschaft eine Rücknahme des allein rhetorischen Werteappells zugunsten des Nachdenkens.

Hartmut von Hentig hat vorgestern in der „Süddeutschen Zeitung“ geschrieben:

„Menschen mögen nach eigenem Maß stark oder schwach, faul oder feige, naturliebend oder kunstliebend sein. Sofern sie aber nicht für Argumente zugänglich und mit einer aufgeklärten Vorstellung von gemeinsamen Le

bensbedingungen versehen sind, gefährden sie viele andere.“