Protocol of the Session on March 23, 2023

Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich zu Sinn und Zweck des Projekts:

„In den Sicherheitsgesetzen von Bund und Ländern wird seit Jahrzehnten ‚aufgerüstet‘, d.h. der Fundus an bereichsspezifischen Ermächtigungsgrundlagen für Grundrechtseingriffe von Polizei, Staatsanwaltschaft und Nachrichtendiensten ausgeweitet. Motor für diese Gesamtentwicklung ist dabei insbesondere der Fortschritt im Bereich von Digitalisierung und Informationstechnologie. Dieser führt gerade zwangsläufig zu einem massiven Druck auf die Entscheidungsträger aus Rechts- und Innenpolitik, den Sicherheitsbehörden auch einen ausreichenden Rahmen für den Einsatz neuer Ermittlungs- und Überwachungstechnologien zur Verfügung zu stellen.“

Es hat sich somit „auch für den Bund und die Länder die Schlagzahl für die Reformgesetzgebung im Bereich von Straf- und Strafprozessrecht, Polizeirecht und Nachrichtendienstrecht massiv erhöht. Dabei ist ein erheblicher“ – ein erheblicher! – „Qualitätsverlust bei der Gesetzgebungspraxis zu beobachten.“ Das könnten wir auch hier bei uns im Land beobachten. „Viele Gesetzesvorhaben verlieren sich in einem Geflecht aus Gesetzgebungskompetenzen, Bestimmtheits- und Verhältnismäßigkeitsanforderungen.

Rechtsstaatliche Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsgerichtshöfe der Länder oder gar auf europäischer Ebene durch den Gerichtshof der Europäischen Union … können häufig erst Jahre später und dann meist auch nur marginal erfolgen.

Besonders besorgniserregend erscheint die Tatsache, dass Überlegungen zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit neuer Eingriffsbefugnisse meist nur isoliert auf sich selbst bezogen sind. Der Frage, wie sich etwa neue Überwachungsbefugnisse in die bereits bestehende Landschaft an Eingriffsmaßnahmen auf Bundes- und Landesebene in zahlreichen Spezialgesetzen einfügen, wird regelmäßig auf politischer Bühne keinerlei Bedeutung geschenkt.“ Zitatende.

Das Zitat war etwas länger, aber ich hätte es nicht anders oder besser sagen und formulieren können, nachdem ich das gelesen habe und ohne dass das irgendein Plagiatsjäger nicht auch sofort ermittelt hätte. Das Thema hatten wir ja heute kurz.

Wie auch immer, Sie merken, dass ich die Grundproblematik sehe und teile. Für den Antrag kann ich das leider nicht so uneingeschränkt behaupten.

Erstens.

(René Domke, FDP: Das wäre jetzt auch ein Ding gewesen.)

Ja. Nein, nein, so weit sind wir nicht weg.

(Heiterkeit vonseiten der Fraktion der FDP – Zuruf von David Wulff, FDP)

Erstens. Wie ich dargelegt habe, gibt es noch gar keine halbwegs verbindliche Idee, wie eine Überwachungsgesamtrechnung aussehen kann.

(David Wulff, FDP: Das ist falsch.)

Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts geben dafür zwar Hinweise, aber die Rechtswissenschaft kämpft sozusagen noch um ein wirkliches Konzept.

Der von Ihnen – zweitens –, der von Ihnen zugrunde gelegte Zeitrahmen ist schlichtweg nicht realisierbar.

Drittens brauchen wir sicher keine Kommission – die Kollegin Oehlrich übernimmt die Funktion in persona –,

(Heiterkeit bei Constanze Oehlrich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

was wir brauchen, ist die politische Weitsicht und Umsicht, auch das, was in Experten- und Sachverständigenanhörungen erklärt wird, so aufzunehmen und umzusetzen, dass es keiner Gerichtsverfahren und erst recht keiner stattgebenden Urteile bedarf.

Also wir lehnen Ihren Antrag ab, aber ich freue mich auf die Forschungsergebnisse der Ludwig-Maximilians-Universität und insbesondere Ihrer Freiheitskommission im Bund und auf die anschließende Diskussion zu unserem SOG, das wir selbstverständlich – der Minister hat dazu ausgeführt – evaluieren werden und dann auch alles auf den Prüfstand stellen werden. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und DIE LINKE – Zuruf von René Domke, FDP)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter!

Das Wort hat jetzt für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Abgeordnete Frau Oehlrich.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleg/-innen! Es ist ja hier schon zitiert worden, in dem Koalitionsvertrag auf Bundesebene von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP wurde sich darauf verständigt, eine Überwachungsgesamtrechnung zu erstellen „und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen“ vorzulegen.

Und um es jetzt noch mal weniger abstrakt zu machen, weiter heißt es in dem Koalitionsvertrag, jede zukünftige Gesetzgebung müsse „diesen Grundsätzen genügen“. Also die Überwachungsgesamtrechnung dient der Überprüfung jedes neuen Gesetzes. Dafür werde ein unabhängiges Expertengremium, eine Freiheitskommission, geschaffen – netter Titel –, die bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben berate und Freiheitseinschränkungen evaluiere. In dieselbe Richtung geht auch der Antrag der FDP hier bei uns im Landtag.

Seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 wurden die Befugnisse der Sicherheitsbehörden in Deutschland und auch in Europa immer mehr erweitert. Die Regelungsdichte in der Sicherheitsgesetzgebung hat dadurch enorm zugenommen. Das merken wir auch hier bei uns im Land. Auch bei uns geht diese Entwicklung nicht vorbei. Mit den letzten SOG-Novellen hat die Polizei eine Vielzahl zusätzlicher Befugnisse erhalten, unter anderem zur Onlinedurchsuchung, zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung, zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung sowie zum Einsatz von Bodycams und Drohnen.

In seinem Volkszählungsurteil von 1983 hat das Bundesverfassungsgericht aufgezeigt, was gerade für demokratische Gesellschaften auf dem Spiel steht, wenn der Trend eben eher zu mehr Überwachung geht als zu weniger. Ich möchte es noch mal wörtlich zitieren, kann man nicht oft genug tun:

„Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm … dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies“, und das ist wichtig, „würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.“

Und in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung vom 2. März 2010 wies das Bundesverfassungsgericht

darauf hin, dass die Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten nicht als Schritt hin zu einer Gesetzgebung verstanden werden darf, die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten ziele. Eine solche Gesetzgebung wäre unabhängig von der Gestaltung der Verwendungsregelungen von vornherein mit der Verfassung unvereinbar.

Und ich möchte noch mal wörtlich zitieren: „Die Einführung der Telekommunikationsverkehrsdatenspeicherung kann damit nicht als Vorbild für die Schaffung weiterer vorsorglich anlassloser Datensammlungen dienen, sondern zwingt den Gesetzgeber bei der Erwägung neuer Speicherungspflichten oder -berechtigungen in Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen zu größerer Zurückhaltung.“ Und aus der Rezeption dieses Urteils in der Rechtswissenschaft ging der Begriff „Überwachungsgesamtrechnung“ hervor.

Künftig sei, so der frühere Universitätsprofessor und jetzige Hessische Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Alexander Roßnagel, eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig. Zum einen sei auf der Grundlage der Wirkung eines neuen Überwachungsinstruments dessen verhältnismäßiger Einsatz zu bewerten, und zum anderen sei aber zusätzlich auf der Basis einer Gesamtbetrachtung (Überwachungsgesamt- rechnung) aller verfügbaren zusätzlichen Überwachungsmaßnahmen die Verhältnismäßigkeit der Gesamtbelastung bürgerlicher Freiheiten zu prüfen.

Und in seiner Kommentierung zu Paragraf 113a Telekommunikationsgesetz macht es der Landesbeauftragte für Datenschutz noch mal ganz plastisch. Der Gesetzgeber könne Überwachungsmaßnahmen austauschen, aber nicht kombinieren. Und ich zitiere wörtlich: Wenn der Gesetzgeber eine Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten auf Vorrat für notwendig hält, „darf er nicht zugleich“ eine Speicherung von „Daten über den Straßen- und Luftverkehr und den Energieverbrauch“ auf Vorrat anordnen. Er muss das für den verfolgten Zweck „effektivste Mittel auswählen und in anderen Gesellschaftsbereichen auf Überwachung verzichten“.

Und jetzt hat im vergangenen Jahr mit dem Überwachungsbarometer – der Kollege Noetzel hat es schon erwähnt – das Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht ein theoretisch und empirisch unterlegtes Konzept entwickelt, mit dem sich eine Überwachungsgesamtrechnung operationalisieren lässt, übrigens auf Auftrag der Friedrich-NaumannStiftung. Die Erstellung dieses Überwachungsbarometers erfolgt in sechs Schritten.

Erstens. Identifizierung der einzubeziehenden Datensammlungen, Überwachungsszenarien.

Zweitens. Rechtliche Analyse, welche Sicherheitsbehörden auf Basis welcher rechtlichen Grundlagen und unter welchen Bedingungen Zugriff auf die Datensammlungen nehmen können.

Drittens. Ermittlung spezifischer Zugriffszahlen für jeden der ausgewählten Zugriffssachverhalte, Gewichtung der Zugriffe nach verfassungsrechtlichen Kriterien. Für jeden Zugriffspfad wird somit ein spezifischer Intensitätswert errechnet.

Fünftens. Errechnung der spezifischen Indexwerte für die einzelnen Überwachungsszenarien. Und hierfür wurde eine Formel entwickelt, die die Anzahl der Zugriffe, das ist eine quantitative Komponente, ebenso wie ihren jeweiligen Intensitätswert, das ist eine qualitative Komponente, berücksichtigt.

Und sechstens. Errechnung von Überwachungsindizes für einzelne Zugriffspfade, ganze Überwachungsszenarien, die Überwachungslandschaft im Allgemeinen oder eben nach regionalen Schwerpunkten.

Wenn nun die FDP die Landesregierung zur Entwicklung eines Konzepts für eine Überwachungsgesamtrechnung auffordern will, so ist zu konstatieren, dass es ein solches Konzept längst gibt. Es kann also jetzt nur noch darum gehen, dieses Konzept auch anzuwenden und ganz konkret für Mecklenburg-Vorpommern eine oder mehrere Überwachungsgesamtrechnungen zu erstellen. Die Zuständigkeit dafür sehe ich nicht bei einer unabhängigen Expertenkommission, sondern jeweils bei dem Gremium, das einen Gesetzentwurf mit neuen Überwachungsmaßnahmen in den Landtag einbringt, also entweder bei der Landesregierung oder eben bei einer der einbringenden Fraktionen, denn jedes Gremium, was einen Gesetzentwurf hier in den Landtag einbringt, ist letztlich für dessen Verfassungsmäßigkeit verantwortlich.

Meine Fraktion wird sich daher zu dem Antrag der FDPFraktion enthalten – bei aller Sympathie. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Abgeordnete!

Das Wort hat jetzt für die Fraktion der SPD der Abgeordnete Herr Lange.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Über den ersten Teil Ihres Antrags, Herr Wulff, ich spare mir das, haben alle schon geschimpft. Ich lasse es sein.

(David Wulff, FDP: Hier schimpft doch gar keiner.)

Ich komme gleich zum Rechtsvehikel Überwachungsgesamtrechnung. Ich fand den Begriff so toll.

(Vizepräsidentin Elke-Annette Schmidt übernimmt den Vorsitz.)

Manchmal hatte ich beim Lesen der Ausführungen und Aufsätze das Gefühl, dass hier eher Rechtsesoterik im Raum stand als Gefahrenabwehr oder Schutz von Bürgerrechten.

(Constanze Oehlrich, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Na, na, na! Esoterik!)

Der additive Grundrechtseingriff wurde vom Bundesverfassungsgericht erstmalig in seiner Entscheidung zur GPS-Ortung erwähnt. Ausgangspunkt war dort, dass eine Überwachung mittels GPS-Ortung neben mehreren anderen kumulativ angeordneten Überwachungsmaßnah