Liebe Frau Rösler, ich habe nachher auch ein Beispiel zu dieser späten Stunde, und die legen wir dann mal nebeneinander. Aber in der Tat, was das Thema Progressionsvorbehalt angeht im deutschen Steuersystem, eine echte Delikatesse des deutschen Steuerrechts, gibt es viel zu diskutieren.
Fangen wir mal an mit den politischen Erklärungen dazu, nicht nur die Deutsche Steuer-Gewerkschaft aus naheliegenden Gründen, weil, ja, es wird wahrscheinlich vorübergehend mehr Steuererklärungen geben müssen aufgrund des Sachverhalts, sondern im Deutschen Bundestag – und da war ich dann ein bisschen überrascht – die FDP, die sich dagegen ausspricht, also stelle ich
Zunächst mal, Herr Ritter, muss man nüchtern feststellen, es gab entsprechende Anträge im Bundestag.
So, jetzt wollen wir uns mal mit dem Thema beschäftigen. Das Kurzarbeitergeld wird ja verlängert, das hat der Koalitionsausschuss auf Bundesebene beschlossen, zunächst einmal eine ganz hervorragende Maßnahme in dieser Krise. Und das Kurzarbeitergeld ist an sich wie das Arbeitslosengeld oder das Krankengeld eine steuerfreie Lohnersatzleistung. Das bedeutet, dass sich das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer eins zu eins um diese Summen erhöht, der Arbeitnehmerinnen natürlich auch, ohne dass sie das versteuern müssen.
Jetzt kommt aber das Prinzip des Progressionsvorbehalts zum Einsatz. Das heißt, es geht mit steigendem Einkommen darum, dass wir eine Steuerprogression haben zwischen 14 und 45 Prozent der Steuersätze, das kennen Sie, und es geht im deutschen Steuerrecht um die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen. Und der Grundsatz, dass stärkere Schultern mehr tragen sollen als schwächere, der dürfte auch in diesem Hause Konsens sein.
Und, meine Damen und Herren, mit der Abschaffung – ohne dass man was anderes machen würde – des Progressionsvorbehaltes würden wir diesen Grundsatz aber nun aufgeben. Und ob das gerecht ist, das mögen Sie dann selber beurteilen, meine Damen und Herren von der LINKEN, denn ein Bürger mit steuerpflichtigen Einkünften und zusätzlichen steuerfreien Einkünften ist leistungsfähiger als ein Bürger, der nur über die steuerpflichtigen Einkünfte verfügt. Da gibt es einen Unterschied, und das muss sich im Steuerrecht letztendlich auch abbilden. Und würden wir das abschaffen mit dem Progressionsvorbehalt, dann hätten wir eine paradoxe Situation, dass ein Vollzeitbeschäftigter steuerlich schlechtergestellt wäre als derjenige, der nicht in Vollzeit arbeitet. Aber auch an der Stelle – hatte ich ja schon angekündigt – mal ein Beispiel.
Ein alleinstehender Angestellter in einem Unternehmen erhält für neun Monate ein steuerpflichtiges Bruttogehalt von 30.000 Euro, anstatt wie üblich 40.000 Euro Jahresgehalt für zwölf Monate. Am Ende des Jahres müsste der Angestellte zunächst 30.000 Euro versteuern, sein Steuersatz auf die 30.000 Euro läge bei 17 Prozent. Nun hat er aber während der Corona-Krise dankenswerterweise für drei Monate das steuerfreie Kurzarbeitergeld von insgesamt 6.000 Euro erhalten. Dieses zusätzliche Einkommen muss natürlich auch berücksichtigt werden, denn der Angestellte hat in diesem Jahr insgesamt 36.000 Euro Einnahmen, und er war somit natürlich finanziell leistungsfähiger als jemand, der nur die 30.000 Euro insgesamt im Jahr bekommen hat.
Und nun greift der Progressionsvorbehalt. Ausschließlich für Zwecke der Steuersatzermittlung wird das Kurzarbeitergeld mit einbezogen, es wird also der Steuersatz angewandt, der bei Einkünften in Höhe von 36.000 Euro zu
berücksichtigen ist. Das sind 17 Prozent bei 30.000 Euro, bei 36.000 Euro durchschnittlich 20 Prozent. Und am Ende, weil der Anteil des Kurzarbeitergeldes steuerfrei ist, werden aber nur die steuerpflichtigen 30.000 Euro, das vom Arbeitgeber bezahlte Bruttogehalt in dem Beispiel, mit den 20 Prozent (statt ohne Kurzarbeitergeld 17 Prozent) versteuert. Und im Ergebnis zahlt unser Beispielangestellter statt 5.100 Euro ohne Kurzarbeitergeld nunmehr 6.000 Euro Steuern. Der Unterschied macht in der Tat 900 Euro mehr aus, aber er hat eben auch insgesamt 6.000 Euro auf das Jahr gerechnet mehr bekommen. Das heißt, er ist anders zu behandeln, als hätte er das nicht bekommen, und das, meine Damen und Herren, ist gerecht.
Beispiele sind zu später Stunde natürlich immer ein bisschen schwierig zu vermitteln. Ich hoffe, ich konnte Ihnen vermitteln, worum es hier geht. Der Progressionsvorbehalt ist kein Teufelszeug, um Bürgerinnen und Bürger in einer schwierigen Situation das Leben zusätzlich zu erschweren, sondern – in der Philosophie des deutschen Steuerrechts – um über die Leistungsfähigkeit und deren Besteuerung mehr Gerechtigkeit zu erzeugen.
Nun gebe ich zu, Frau Rösler – ich habe das auch mit Herrn Eigenthaler von der Deutschen Steuer-Gewerkschaft diskutiert vor Kurzem –, nichts ist perfekt. Es gibt in der Tat Fälle, wo Steuernachzahlungen erforderlich wären, vor allen Dingen in den Fällen – das sind aber nicht so viele, wie Sie jetzt dargestellt haben –, wo zum Beispiel ein Kurzarbeitergeld in Höhe von 50 Prozent gezahlt wird. Und die Tatsache ist auch da, dass wir mehr Steuererklärungen von denjenigen benötigen, die das vielleicht bisher nicht gemacht haben, weil sie eben diesen Effekt mit dem Kurzarbeitergeld berücksichtigen müssen. Das muss man in der Tat festhalten.
Dafür aber den Progressionsvorbehalt abzuschaffen, geht viel zu weit, denn das ist ein wichtiges Element im deutschen Steuersystem und das sollten wir wegen dieser einen Geschichte beim Kurzarbeitergeld nicht verändern. Dass man sich generell mit dem deutschen Steuersystem beschäftigen kann und befassen sollte und wie man das vereinfachen sollte, das ist, glaube ich, unstrittig, gilt dann auch für die Progressionszone, aber ich warne davor, dass es einfache und populistische Erklärungen gibt. Da gab es einen bekannten CDU-Politiker,
der gesagt hat, das kann man doch alles auf einem Bierdeckel machen. Und in diesen Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass ausgerechnet dieser Herr erklärt hat, er hat das auf dem Bierdeckel mal skizziert, aber dabei hat er sich sogar noch mal verrechnet. Also, meine Damen und Herren, auch das kann schiefgehen. – Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!
Wertes Präsidium! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Verehrte Gäste und Zuschauer! Zumindest gastronomisch bin ich offenbar mit dem Finanzminister auf einer Ebene, auch ich habe hier das Stichwort „Delikatesse des Einkommensteuerrechts“ stehen. Die Progression ist Folge eines Steuergrundsatzes, wonach die Höhe der zu entrichtenden Abgaben an die individuelle Leistungsfähigkeit des Einzelnen gekoppelt ist, im Gegensatz übrigens zur regressiven Kopfsteuer, bei der jeder Bürger den gleichen Steuerbetrag zu entrichten hat und hohe Einkommen damit begünstigt werden würden. Daneben gibt es dann noch die dritte gängige Variante, das ist die sogenannte „Flat Tax“, bei der alle Steuerpflichtigen ihre Einkommen zum gleichen Prozentsatz entrichten müssen.
In Deutschland wurde erstmals 1893 eine progressive Kommunalabgabe eingeführt. Matthias Erzberger hat dann vor fast genau 100 Jahren mit seiner Reform den Weg unseres heutigen Steuerrechts geebnet und die Progression verankert. Kernargument des Gesetzgebers ist, dass geringe Einkommen zur Erfüllung von Basisbedürfnissen gebraucht werden. Dementsprechend sind sie niedrig besteuert und bis etwas mehr als 9.000 Euro im Jahr sogar gänzlich steuerfrei. Sind die Basisbedürfnisse befriedigt,
Bei den höheren Einkommenssphären greift der Staat natürlich kräftiger zu, bis hin zum Spitzensteuersatz von 45 Prozent
für jeden zu viel verdienten Euro. Rechtlich gesehen erfolgt die Besteuerung des Einkommens in fünf Stufen, beginnend mit dem Bereich des Grundfreibetrages zu null Prozent bis hin zu Stufe 5, ab der der eben erwähnte Spitzensteuersatz greift. Als mathematischer Graph gesehen entsteht damit eine konkave Kurve, die nach dem Grundfreibetrag mit zunehmendem Einkommen relativ stark ansteigt
und sich asymptotisch an den Spitzensteuersatz annähert. Aus dieser Kurve ergibt sich dann der Durchschnittssteuersatz, mit dem das gesamte Einkommen zu versteuern ist.
Und mein Beispiel ist etwas kürzer. Vereinfacht gesagt, im Fall von Einzelveranlagten ist die Steuerbelastung bei
Herr Abgeordneter, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? Ich bitte Sie, dass Sie jetzt doch auf den Inhalt des Antrages kommen,
(Julian Barlen, SPD: Ups, falsche Rede! – Heiterkeit bei Thomas de Jesus Fernandes, AfD – Zurufe von Manfred Dachner, SPD, und Thomas Schwarz, SPD)
So, nun gibt es in unserem sozialen Sicherungssystem Ausnahmefälle, für die der Gesetzgeber sich einen besonderen Taschenspielertrick ausgedacht hat, und zwar den Progressionsvorbehalt, damit auch zum Thema. Konkret sind das Ausnahmefälle, die betreffen das Arbeitslosengeld I und II, Insolvenzgeld, Übergangsgeld, das Altersübergangsgeld, Elterngeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld, Verletztengeld und schließlich, um wiederum zum Thema zu kommen, das Kurzarbeitergeld.
All diese Transferleistungen sind offiziell steuerfrei. Dass dies aber nur kosmetischer Natur ist, offenbart der Progressionsvorbehalt. Zwar werden die sozialen Auffangmechanismen nicht direkt besteuert, sie werden aber für die Ermittlung des Steuertarifs fiktiv ins zu versteuernde Einkommen hinzugerechnet, wonach sich durch die Progression ein höherer Durchschnittssteuersatz ergibt.