Protocol of the Session on January 31, 2013

Die Zweifel an der rechtlichen Vereinbarkeit des Betreuungsgeldes mit dem Grundgesetz werden auch

durch das Rechtsgutachten von Frau Professor Dr. Ute Sacksofsky

(Unruhe vonseiten der Fraktionen der SPD und CDU – Glocke der Vizepräsidentin)

mit dem Titel „Vereinbarkeit des geplanten Betreuungsgeldes nach § 16 Abs. 4 SGB VIII mit Art. 3 und Art. 6 GG“ verstärkt. Dort heißt es im „Ergebnis“, und ich zi- tiere: „Die geplante Einführung eines Betreuungsgel- des verstößt gegen den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und gegen den Verfassungsauftrag zur Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG.“

Aber es gibt nicht nur gleichstellungs- und verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Betreuungsgeld, nein, auch sozialpolitische Gründe sprechen gegen diese Einführung. So hat das Bundesland Thüringen bereits 2006 ein Erziehungsgeld in etwa der Höhe des jetzigen Betreuungsgeldes eingeführt. Das Fazit nach drei Jahren war verheerend und Sie können das Ergebnis dem Thüringer Kindersozialbericht entnehmen.

(Torsten Renz, CDU: Haben Sie alles der Rede von Frau Kraft entnommen, aus dem Bundesrat?)

Dort wird festgestellt, dass das Thüringer Erziehungsgeld unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht vernünftig oder verantwortbar ist. Als Grund wurde genannt, dass mit dem Gesetz ein starker Anreiz gerade für ökonomisch schwächere Familien geschaffen wurde, ihre Kinder nicht in eine vorschulische Bildungseinrichtung zu bringen. Diese gewichtigen Bedenken gegen das Betreuungsgeld kann man doch nicht einfach ignorieren. Und ganz abgesehen davon, dass jede Familie, jede Mutter und jeder Vater selbst entscheiden sollte, wie sie ihre Kinder im Rahmen der geltenden Gesetze erziehen und betreuen, frage ich Sie: Brauchen wir in M-V wirklich ein Betreuungsgeld? Brauchen wir angesichts der Probleme und der verheerenden Zeugnisse, die uns nicht nur die OECD ausstellt, brauchen wir angesichts der Kinderarmut und der Schulabbrecherquote, brauchen wir angesichts des drohenden Fachkräftemangels und leerer öffentlicher Kassen in den Ländern und Kommunen ein Betreuungsgeld?

Nicht nur meine Fraktion sagt Nein. Was wir stattdessen brauchen, das ist ein qualitativ gutes Bildungssystem von Anfang an, ein Bildungssystem ohne Ausgrenzung und ohne Schranken wegen der Herkunft oder des Einkommens der Eltern. Gleiche Chancen für alle von Anfang an, keine Kinder- und Familienarmut, das sind die Herausforderungen, das sind die Probleme, die wir hier in M-V haben, deren Probleme die Regierungsfraktionen noch viel zu zögerlich angehen.

Meine Damen und Herren, wir fordern deshalb die Landesregierung auf, sich umgehend nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung des Betreuungsgeldes auf Bundesebene dafür einzusetzen, das Betreuungsgeld zu stoppen. Dies kann dadurch erfolgen, dass die Landesregierung selbst eine Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht beantragt oder sich einem anderen Antragssteller anschließt. Beispielsweise das Bundesland Hamburg hat das schon angekündigt.

Meine Damen und Herren von SPD und CDU, wenn Sie es tatsächlich ernst meinen mit der Zukunft des Landes, wenn es Ihnen tatsächlich um ein kinder- und familienfreundliches Mecklenburg-Vorpommern geht, dann stimmen Sie unserem Antrag zu!

(Peter Ritter, DIE LINKE: Nach der Bundestagswahl.)

Allerdings befürchte ich, dass Sie sich beide – und auch der Ministerpräsident – hier in allerlei Ausreden verstricken und die Kraft für die tatsächlich notwendigen Entscheidungen für dieses Land nicht aufbringen,

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Oh, oh!)

zum Nachteil des Landes und seiner Bewohner. – Danke schön.

(Beifall vonseiten der Fraktion DIE LINKE)

Im Ältestenrat ist vereinbart worden, eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 90 Minuten vorzusehen. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Ums Wort gebeten hat zunächst die Ministerin für Arbeit, Gleichstellung und Soziales Frau Schwesig.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete!

Sehr geehrte Frau Bernhardt, ich teile Ihre Kritik am Betreuungsgeld. Die Landesregierung verfolgt das Ziel, dass die Familien in unserem Land, dass junge Mütter, junge Väter Beruf und Familie vereinbaren können und möglichst partnerschaftlich vereinbaren können, und dazu gehören Kita-Plätze. Die Landesregierung verfolgt das Ziel, dass die Chancengleichheit von Kindern gesichert wird. Und weil wir Krippen- und Tagespflegeplätze nicht als Aufbewahrungsanstalten sehen, wie das gelegentlich in der CSU in Bayern üblich ist, sondern als Bildungsstätten, und diese Bildung mithilfe der Großen Koalition Stück für Stück verbessern, sagen wir, es geht bei dem Thema „Inanspruchnahme von Kita-Plätzen“ auch um das Thema „Bildungschancen für Kinder“.

Deswegen hat die Landesregierung hier eine ganz klare Auffassung: Wir wollen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken, wir wollen die Bildungschancen von Kindern erhöhen von Anfang an, und das durch ausreichende und gute Krippen- und Tagesplätze in unserem Land.

(Udo Pastörs, NPD: Bla, bla, bla!)

Das tun wir auch und dafür geben wir viel Geld aus, unsere Kommunen geben viel Geld aus, und wir werden in Zukunft diese Gelder sogar noch erhöhen.

Wie verhält sich jetzt die Idee des Betreuungsgeldes? Dieses Betreuungsgeld konterkariert die Politik der Landesregierung. Warum? Weil zukünftig Eltern nicht dafür Geld erhalten sollen, weil sie ihrer Erziehungsverant- wortung gerecht werden, denn dann müssten ja alle Eltern ein sogenanntes Betreuungsgeld bekommen. Ich vertrete die klare Auffassung, dass auch die Eltern, die tagtäglich arbeiten gehen und ein Kita-Angebot nutzen

für die Vereinbarkeit, dass sie auch Erziehungsverantwortung wahrnehmen und nicht diese Erziehungsverantwortung an der Kita-Tür abgeben.

(Torsten Renz, CDU: Das sagt doch gar keiner.)

Deswegen ist das sogenannte Betreuungsgeld ein Schlag ins Gesicht für Eltern, die Beruf und Familie vereinbaren wollen.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Und die Befürchtung liegt nahe, wie hier skizziert, dass zukünftig Eltern eher das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen und ihr Kind vielleicht nicht mehr in die Kita schicken und dass es vielleicht Kinder treffen könnte, die vor allem gerade das Bildungsangebot der Kita brauchen. Diese Erfahrungen haben wir in Thüringen gemacht, diese Erfahrungen kennen wir aus Norwegen. Und es wäre schlimm, wenn wir in unserem Bundesland die gleiche Erfahrung machen müssten.

Wie irrwitzig dieses Betreuungsgeld wirkt, sieht man daran, dass wir uns als Landesregierung gemeinsam mit den Regierungsfraktionen SPD und CDU auf den Weg machen und 100 Euro seit August letzten Jahres den Eltern geben, damit sie den Kita-Platz nutzen können. Und jetzt sollen sie 100 Euro kriegen, damit sie ihn nicht nutzen. Das zeigt, wie stark die Politik der Bundesregierung mit dem Betreuungsgeld unsere Familienpolitik im Land konterkariert, und deshalb ist das Betreuungsgeld der falsche Weg.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Richtig.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete, es ist bekannt, dass es zwischen den Koalitionspartnern zum Betreuungsgeld auch unterschiedliche Auffassungen gibt. Ich weiß, dass meine Kritik am Betreuungsgeld natürlich deckungsgleich ist mit der Kritik meiner SPDFraktion. Ich weiß auch, dass diese Kritik viele CDUPolitiker teilen in den Kommunen, die gerade dabei sind, sich anzustrengen, gute Kita-Plätze zu machen, dass das auch Landes- und Bundespolitiker teilen. Ich darf die ehemalige Bundesfamilienministerin und heutige Bundesarbeitsministerin zitieren, Frau von der Leyen: „Das Betreuungsgeld ist bildungspolitischer Unsinn.“

Weil diese unterschiedlichen Auffassungen bekannt sind, deshalb, Frau Bernhardt, stellen Sie heute den Antrag, nicht weil es Ihnen um das Thema und die Sache geht,

(Henning Foerster, DIE LINKE: Können Sie mal was anderes außer dieser auswendig gelernten Sätze sagen? – Zurufe von Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE, und Torsten Koplin, DIE LINKE)

denn Sie selbst haben in der letzten Aktuellen Stunde, die die SPD zu diesem Thema beantragt hat, wo das Thema wirklich aktuell war, der SPD vorgeworfen, hier Bundespolitik zu machen. Was machen Sie denn heute? An diesem Antrag sieht man wieder Ihre Unglaubwür- digkeit.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Und das ist unsozial, dass Sie jetzt schon die Kinder für Ihre politische Profilierung benutzen.

(Torsten Renz, CDU: Alles auf dem Rücken des Kindes.)

Und ich will hier ganz klar sagen: Auch Sie versuchen wieder mit Ihrem Antrag und Ihrer Rede, die ich in Bezug auf Kritik zum Betreuungsgeld fachlich teile, zu suggerieren, dass die SPD ja daran schuld ist, dass das eingeführt wird.

(Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE: Mit schuld, natürlich.)

Sie haben zu Recht zitiert: „Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder von ein bis drei Jahren nicht in Einrichtungen betreuen lassen wollen oder können, eine monatliche Zahlung (zum Beispiel Betreuungsgeld) eingeführt werden.“ Das ist der Text, der verabschiedet worden ist. Und warum? Weil die SPD damals darauf bestanden hat, dass wir einen Rechtsanspruch einführen auf Kita-Betreuung, und die CSU dann diesen Text wollte.

Ja, es war ein Kompromiss, ich sage Ihnen aus heutiger Sicht, ein sehr guter Kompromiss, weil die SPD dafür gesorgt hat, dass ab 01.08. dieses Jahres ein Rechtsanspruch für die Kinder besteht. Und das ist das, was wir wollen, einen Rechtsanspruch auf Bildung für unsere Kinder, und es ist gut, dass das durchgesetzt worden ist.

(Beifall vonseiten der Fraktion der SPD)

Diese Formulierung ist so unverbindlich, dass auch die damalige Bundesfamilienministerin, Frau von der Leyen, von der CDU gut damit leben konnte, denn die Große Koalition hat in der 16. Wahlperiode keine Entscheidung getroffen – konnte sie auch gar nicht –, an die der Gesetzgeber in der jetzigen Wahlperiode, also die schwarzgelbe Koalition gebunden ist. Das ist rechtlich völlig ausgeschlossen durch diese Formulierung. Es ist notwendig aufgrund dieser Formulierung, dass die neue Koalition, die jetzt besteht – Schwarz-Gelb –, ein eigenes Gesetz auf den Weg bringt in der Sache und in der konkreten Ausgestaltung. Deswegen ist das sogenannte Betreuungsgeldgesetz ein neues, eigenständiges Gesetz, und nicht ein Ausfluss aus dem alten Gesetz, denn das alte Gesetz ist extra so unverbindlich geregelt worden, auch mithilfe von CDU-Ministern.

Insofern trägt der Vorwurf, den Sie heute machen und den Herr Renz in der Aktuellen Stunde gemacht hat, „das ist doch sowieso ein Automatismus“, nicht. Jeder, der sich ein bisschen mit dem Gesetz auskennt, liest daraus,

(Torsten Renz, CDU: Oh, oh, oh!)

das ist übrigens auch in der Begründung zum alten Gesetz zu lesen, dass der künftige Gesetzgeber seine Entscheidung zu treffen hat. Und dieser Gesetzgeber hat seine Entscheidung getroffen, gegen alle verfassungsrechtlichen Bedenken, gegen alle Studien, trotzdem dieses sogenannte Betreuungsgeld auf den Weg zu bringen.

Und Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Linksfraktion, wollen heute, obwohl es eine sachliche Aus-

einandersetzung in der Aktuellen Stunde gab und Sie diese sachliche Auseinandersetzung nicht wollten, kritisiert haben, diesen Antrag einbringen, um die Koalitionspartner zu spalten.

(Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE: Weil das mit einer Handlung verbunden ist.)

Aber das wird Ihnen nicht gelingen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen in dieser Koalition zum Betreuungsgeld. Meine kennen Sie, die der SPD auch, und viele der CDU teilen sie. Aber diese Unterschiede sind auch nicht schlecht, die kann man haben bei diesem Thema. Es ist aber auch gar nicht notwendig, dass wir uns streiten wegen einer Klage, denn wenn ich erst heute darüber nachdenken würde wie Sie mit Ihrem Antrag – wie geht man denn jetzt mit dem Gesetz um, was in Kraft treten wird, wenn der Bundespräsident es vielleicht die nächsten Tage unterschreibt –, dann wären wir wirklich von vorgestern. Es ist längst vereinbart zwischen den sogenannten A-Ministern – der Familienminister –, SPD und GRÜNE, dass Hamburg federführend eine Klage machen wird. Die Gutachten liegen vor. Es reicht, wenn ein Bundesland klagt. Dieses Bundesland wird klagen, wenn das Gesetz sozusagen unterschrieben wird vom Bundespräsidenten. Deshalb reicht es völlig aus, dass das Land Hamburg das macht.

(Jacqueline Bernhardt, DIE LINKE: Immer schön Verantwortung abschieben, ne? – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das stimmt nicht.)