Protocol of the Session on December 7, 2012

Erstes Beispiel, nehmen wir die sogenannte Prioritätenanalyse. Das ist die Grundlage der Justizministerin – das finden Sie in den Arbeitsentwürfen – für die Entscheidung, an welchen Orten die Amtsgerichte ihren Hauptstandort haben sollen. Es wurde dabei ein ausgeklügeltes Punktesystem entwickelt. Eine hohe Punktezahl sollte dabei für den Erhalt des Standortes sprechen, eine niedrige Punktezahl für die Schließung oder Zusammenlegung. So weit, so gut.

Gutwillig könnte man hier Objektivität unterstellen. So erhielt das Amtsgericht Parchim im ersten Arbeits- entwurf 285,71 Punkte. Das war niedrig und so landete Parchim auf der Streichliste. Es soll Abgeordnetenkollegen gegeben haben, übrigens, die nicht meiner Fraktion angehören, die mit diesem Ergebnis nicht so ganz zufrieden waren. Unzufriedenheit zahlt sich manchmal aus und siehe da, im zweiten Arbeitsentwurf der Justizministerin erhält das Amtsgericht Parchim einen wundersamen Punktezuwachs und landet plötzlich bei 319,05 Punkten,

(Dr. Ursula Karlowski, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Schau an, schau an!)

was wiederum zum Erhalt ausreichte. So schnell kann es gehen.

Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, ist es gerechtfertigt, dass der Landtag die Landesregierung dazu auffordert, das ist der zweite Teil unseres Antrages, ihre Entscheidung zur Vorlage des Gesetzentwurfes über die geplante Gerichtsstrukturreform ausschließlich auf der Grundlage von Sachargumenten zu treffen, und nicht danach, welcher Standort die beste Lobby hat.

(Beifall vonseiten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von Egbert Liskow, CDU)

Nehmen wir ein zweites Beispiel: Einer der wesentlichen Eckpunkte der Reform war die Annahme, dass nur solche Amtsgerichte effektiv und qualitätssicher arbeiten, die über mindestens zehn Richterstellen verfügen. Sie erinnern sich an die Eckpunkte. Das erfolgt übrigens in dem Wissen, dass die überwiegende Mehrheit der Amtsgerichte in Mecklenburg-Vorpommern natürlich weniger als zehn Richterinnen- und Richterstellen hat.

Mich hat das beschäftigt und so habe ich – die Kolleginnen aus dem Ausschuss werden sich daran erinnern – in der entsprechenden Anhörung, zu der Experten auf Vorschlag aller Fraktionen eingeladen wurden, an die versammelten Experten die Frage gestellt, ob diese Annahme richtig sei und womit eine derartige Annahme denn zu begründen sei.

Ich habe – aus dem Protokoll zu entnehmen – darauf übrigens auch von den Expertinnen und Experten der CDU und der SPD keine Antwort erhalten, eben weil es niemand begründen konnte. Das ist auch klar, denn die dieser Prämisse – erst ab zehn wird es effektiver – offenbar zugrunde liegende Kienbaum-Studie ist 20 Jahre alt und hat eine, das ist jetzt ironisch gemeint, erstaunliche Untersuchungstiefe, denn immerhin wurden zwei kleine Amtsgerichte ohne EDV-Einsatz untersucht. 20 Jahre alt und diese Untersuchungstiefe!

Sehr geehrte Damen und Herren, das ist schlicht und ergreifend unseriös und hat nichts, aber auch gar nichts mit einer guten sachinhaltlichen Begründung zu tun. Deshalb ist der zweite Anteil unseres Antrages gerechtfertigt, mit dem wir die Sachargumente und Annahmen noch einmal einer detaillierten Überprüfung unterziehen wollen.

Konsequent wäre es jedoch nach diesen Erkenntnissen, die Landesregierung dazu aufzufordern, ein aus Wissenschaftlern und Praktikern zusammengesetztes Expertengremium damit zu beauftragen, die geplante Gerichtsstrukturreform sowohl im Hinblick auf ihre Wirtschaftlichkeit als auch im Hinblick auf Funktionsfähigkeit, Qualität und Bürgernähe der Justiz kritisch zu überprüfen und eigene Vorschläge zu ermöglichen. Andere haben uns das vorgemacht.

Der Justizminister aus Rheinland-Pfalz hat anlässlich der dort geplanten und übrigens ebenfalls umstrittenen Justizstrukturreform ein Expertengremium zu der Erarbeitung von Vorschlägen für eine Justizstrukturreform in Rheinland-Pfalz bestellt. Und auch in Brandenburg ist ein solcher Weg gegangen worden. Das hat übrigens zu vernünftigen und bürgernahen Ergebnissen geführt.

Ich finde, dies – das Einbeziehen eines Expertengremiums – wäre ein Vorhaben mit Vorbildfunktion und würde auch dem entsprechen, was beispielsweise die Volks-

initiative gefordert hat, nämlich eine sachlich fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung vor dem Hintergrund dessen, was Ihnen ja vorgestellt worden ist.

Und es hätte vor allem für Sie, die Fraktionen von CDU und SPD, einen unschätzbaren Wert. Immerhin könnten Sie aufhören, sich untereinander zu streiten. Sie können die Argumente der Gegenseite auf Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen gelassen kontern, wenn es die denn hergeben, und weil Sie sich ja dann von Ihren Argumenten auf eine echte und fundierte Grundlage stützen könnten, wären Sie auch in Ihrer Argumentation gestört, wenn es denn das hergäbe. Sie könnten Kritikern aus den eigenen Reihen deutlich gelassener begegnen und Sie müssten auch keine Mitarbeiter mehr disziplinieren, wenn sie öffentlich ihre eigene Meinung kundtun.

(Beifall Johannes Saalfeld, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Unliebsame Amtsgerichtsdirektoren könnten in ihren Amtsgerichten Feiern feiern und Inselabgeordnete hätten deutlich weniger Druck von den Insulanern.

Doch es gibt auch einen Nachteil. Das Expertengremium könnte ja auch zu dem Ergebnis kommen, dass die derzeitige Struktur der Gerichte in Mecklenburg-Vorpommern sinnvoll ist und beibehalten werden soll. Das wäre nicht das erste Mal vor einer Reform, dass dies geschähe.

(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Das hatten wir in anderen Ländern nämlich auch schon mal.

Und ich wünsche Ihnen, insbesondere Frau Kuder, den Mut dazu, dies zu tun. Die Zustimmung zu unserem Antrag wäre der richtige erste Schritt dazu. – Herzlichen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von bis zu 60 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache.

Ums Wort gebeten hat zunächst die Justizministerin des Landes Frau Kuder.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Seit März 2012 hat sich der Landtag mittlerweile fünfmal mit der geplanten Gerichtsstruktur befasst und hinzu kommen diverse Rechtsausschusssitzungen, und das, meine Damen und Herren, in einem Stadium, in dem das Gesetzesvorhaben noch nicht einmal den Landtag erreicht hat.

(Heinz Müller, SPD: So ist es. – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Ja.)

Und ich habe hier schon mehrfach den Handlungs- und den Reformbedarf erläutert.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Selbst die Anzuhörenden stimmen dem zu.)

Ich habe Ihnen dargestellt, welche Überlegungen und Argumente dem Konzept zugrunde liegen, und auch die Forderungen, ein Expertengremium hinzuzuziehen oder diesem die Gerichtsstruktur gleich ganz zu überlassen, sind nicht neu. Auch darüber ist bereits hier diskutiert worden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ich werde mich hier an einen bewährten Grundsatz halten: Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen und nicht den Zuhörer. Deshalb werde ich zu Ihrem Antrag auch nur kurz Stellung nehmen.

Erstens. Sachargumente waren, sind und werden immer Entscheidungsgrundlage für uns sein.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: So ist es.)

Dass Sie die Argumente nicht verstehen oder besser nicht verstehen wollen, das wundert mich dabei nicht.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das ist auch Aufgabe von Opposition.)

Zweitens. Gegenwärtig liegt noch kein endabgestimmter Gesetzentwurf vor.

(Zuruf von Dr. Norbert Nieszery, SPD)

Wir befinden uns jetzt in der Verbandsanhörung und selbstverständlich werden wir auch in dieser Phase anhand von Sachargumenten prüfen und entscheiden. Das Ergebnis dieser Überprüfung werden wir dann und erst dann als Gesetzentwurf der Landesregierung dem Landtag vorlegen.

Und auch der Punkt 3 Ihres Antrages, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, ist nicht neu. Ich habe das Gefühl, fast reflexartig wird bei jeder über das normale Maß hinausgehenden Aufgabe nach einem Expertengremium gerufen.

Meine Damen und Herren, an der Gesetzesreform arbeiten nicht allein Ministerielle, wie Sie es sich vielleicht denken. Vielmehr arbeiten im JM insbesondere abgeordnete Richter und Richterinnen mit und schon die Projektleiterin ist extra für die Aufgabe an das Justizministerium abgeordnet worden und auch sie ist Richterin.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Aha!)

Im Übrigen haben wir weit vor den üblichen Beteiligungsschritten die Diskussion mit den Betroffenen hier im Parlament und in der breiten Öffentlichkeit geführt. In unserem extra hierfür geschaffenen Internetforum sind wir mit allen, die daran interessiert waren, in einen Dialog getreten. Wir haben die Möglichkeit eröffnet, Fragen zu stellen, und wir haben diese Fragen beantwortet. Die Wirtschaftlichkeitsberechnung ist in enger Abstimmung mit den Mitarbeitern des BBL erfolgt, wiederum Experten. Und wir haben sowohl zu den finanzwirtschaftlichen Aspekten als auch zur Funktionsfähigkeit und Qualität der Justiz Hinweise und Anregungen erhalten und geprüft. Diverse Hinweise und Anregungen sind dann auch in die weiteren Überlegungen eingeflossen. Dies kann man auch an der Entwicklung unseres Reformprojektes sehen.

So haben wir uns aufgrund der vorgetragenen Argu- mente dazu entschieden, zum Beispiel in Parchim eine Zweigstelle zu etablieren aus den vorgetragenen Argumenten heraus. Oder schauen Sie sich die Fachgerichtsbarkeiten an! Auch hier hat es eine Vielzahl von Änderungen gegeben aufgrund der Diskussionen, die zum ersten Arbeitsentwurf erfolgt sind. Und auch hier weicht das Konzept deutlich vom ersten Arbeitsentwurf ab.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir ist daran gelegen, den Entscheidungsprozess aktiv miteinander zu gestalten, und das geht natürlich nur, wenn man transparent und breit informiert wird. Genau dies haben wir ja praktiziert gegenüber unseren Gerichten, gegenüber den Verbänden und gegenüber der Öffentlichkeit. Und das werden wir auch weiterhin so handhaben. Es geht um die Zukunftsfähigkeit der Gerichte in unserem Land und die ist mir wichtig und dafür setze ich mich ein. – Herzlichen Dank.

(Beifall vonseiten der Fraktionen der SPD und CDU)

Danke, Frau Ministerin.

Das Wort hat jetzt für die Fraktion DIE LINKE die Abgeordnete Frau Borchardt.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Einen Fehler machen und ihn nicht korrigieren, das erst heißt wirklich einen Fehler machen.“

(Jörg Heydorn, SPD: Oh, oh, oh! – Dr. Norbert Nieszery, SPD: Das hätten wir auch nicht gedacht.)

Dieser Spruch ist nicht von mir, aber trifft aus meiner Sicht genau die Situation, in der wir uns zurzeit befinden. Erinnern wir uns: Nach der Veröffentlichung des Koalitionsvertrages stand es fest, diese Koalition hatte sich entschlossen, eine radikale Gerichtsstrukturreform auf den Weg zu bringen.

(Dr. Norbert Nieszery, SPD: Steht das da im Koalitionsvertrag? – Jörg Heydorn, SPD: Vor allem „radikal“.)

Im Februar 2012 veröffentlichte die Justizministerin ihre ersten Überlegungen, im Mai den ersten Arbeitsentwurf, im August einigte sich die Koalition auf zehn Amtsgerichtsstandorte und fünf Zweigstellen in unserem Land. Im November verabschiedete das Kabinett den Gesetzentwurf, der sich nun in der Verbandsanhörung befindet.