Protocol of the Session on April 26, 2012

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Wiederbeginn: 16.46 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren, ich eröffne die unterbrochene Sitzung und rufe auf den Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrages der Fraktion DIE LINKE – Armut macht krank – Praxisgebühr abschaffen, Drucksache 6/569.

Antrag der Fraktion DIE LINKE Armut macht krank – Praxisgebühr abschaffen – Drucksache 6/569 –

Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Herr Koplin von der Fraktion DIE LINKE.

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Zeitgeist um das Jahr 2004 trug spezielle Züge. Neoliberale Theorien wurden beden

kenlos in praktische Politik übersetzt, wollte man doch nach dem Platzen der Spekulationsblase von Internet- und Computertechnologietiteln die Wirtschaft aus der lang anhaltenden Wachstumsschwäche herausholen, die Kapitalverwertungsbedingungen verbessern und die

Arbeitslosigkeit bis 2005 halbiert haben. Heute wissen wir: Es war lediglich der Anlauf in die große Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2010. Es war das Vorfeld millionenfacher prekärer Beschäftigung und sich aufbauender Altersarmut.

Das Jahr 2004 war die Zeit der steuerlichen Entlastung von Großverdienern und Kapitalgesellschaften, die Zeit der Finanzmarktderegulierung, die Zeit der HartzGesetzgebung und eben die Zeit der Einführung der Praxisgebühr. Es war die Regierungszeit von Rot-Grün im Bund.

Die damalige Bundesregierung und die CDU verfolgten mit der Einführung der Praxisgebühr das Doppelziel, die Lohnnebenkosten zugunsten der Arbeitgeber zu reduzieren und zugleich die Zahl der Arztbesuche zu senken. Nur nach Überweisung durch den Hausarzt sollten Fachärzte aufgesucht werden können. Vor allen Dingen jedoch sollten für die Gesetzliche Krankenversicherung die Einnahmen erhöht werden.

Bleiben wir zunächst beim Punkt der Steuerung von Patientenströmen. Tatsächlich bestätigt eine Untersuchung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aus dem Jahr 2005 einen Rückgang der Fallzahlen um 8,7 Prozent. Die Zahl der Arzt- beziehungsweise Praxiskontakte nahm jedoch nur um 2,8 Prozent ab. Warum Patienten seinerzeit ausblieben, wurde nicht beantwortet mit der Studie. Es ist zu vermuten, dass im ersten Jahr der Praxisgebühr die Patientinnen und Patienten gewissermaßen geschockt wurden und tatsächlich weniger häufig zum Arzt gingen. Mittlerweile zeigt sich jedoch, dass das Erfordernis, einen Arzt zu besuchen, sich durch finanzielle Hürden allenfalls zeitweilig unterdrücken lässt. Deutschland liegt mit 17 Arztkontakten pro Einwohner und Jahr international wieder mit an der Spitze. Da auch Fachärztinnen und Fachärzte als überweisende Ärztin und Arzt nach Entrichtung der 10 Euro eingesetzt werden können, bleibt eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung aus.

Wir können festhalten: Eine allgemeine Steuerungswirkung der Praxisgebühr wurde verfehlt. CDU, SPD und GRÜNE sind an diesem Punkt gescheitert.

Was ist nun die Antwort derer, die sich 2004 für die Praxisgebühr eingesetzt hatten? Der Bundesverband der Arbeitgeber fordert derzeit eine pauschale Gebühr von 5 Euro bei jedem Arztbesuch. Vertreter aus der CDU/CSUFraktion im Bundestag schließen sich dem an. Und ich bin gespannt auf die Haltung der CDU hier im Landtag. Entweder Sie distanzieren sich von den Überlegungen in Ihrer eigenen Partei oder Sie müssen den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern erklären, dass sie künftig nicht nur 10 Euro im Quartal,

(Torsten Renz, CDU: Oh nee, nee!)

sondern bei jedem Arztbesuch 5 Euro zahlen müssen, Herr Renz.

(Torsten Renz, CDU: Haben Sie das mal recherchiert, wie die das in Skandinavien machen?)

Und erklären Sie das einmal den Rentnerinnen und Rentnern – wir hatten gerade das Thema! Erklären Sie den alleinerziehenden Müttern dies mal!

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Erklären Sie das den Hartz-IV-Empfängern!

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Sie werden schon jetzt bei jenen scheitern, die das durchschnittlich verfügbare Einkommen von 1.200 Euro in der Tasche haben. Und erklären Sie es noch mehr, die Praxisgebühren angesichts steigender Lebenshaltungskosten, angesichts eines Benzinpreises von über 1,70 Euro!

Ich habe gesagt, dass die allgemeine Steuerungswirkung der Praxisgebühr verfehlt wurde. Wenn jedoch die Auswirkungen der Praxisgebühr auf einzelne Bevölkerungsgruppen betrachtet werden, ergibt sich ein anderes Bild. Nehmen wir einmal das Beispiel eines Hartz-IV-Empfängers: Dieser erhält im Monat einen Regelsatz von 374 Euro – so alleinstehend – multipliziert mit 12 macht das 4.488 Euro Jahreseinkommen. Die sogenannte Belastungsobergrenze legt fest, dass Zuzahlungen nicht mehr als zwei Prozent des Bruttoeinkommens betragen dürfen. Bei chronisch Kranken ist das ein Prozent. Das bedeutet für den HartzIV-Empfänger, dass er knapp 90 Euro jährlich für die Gesundheitsversorgung berappen muss.

Und jetzt raten Sie mal, wie viel der Warenkorb, der Berechnungsgrundlage für den Regelsatz ist, für diese Ausgaben vorsieht? Nichts.

(Zuruf von Jörg Heydorn, SPD)

Das heißt, Hartz-IV-Empfänger müssen sich diese Summe im wahrsten Sinne des Wortes vom Munde absparen.

Was folgt nun für die Betroffenen daraus? Arztbesuche …

(Jörg Heydorn, SPD: Den Warenkorb gibt es gar nicht mehr. Es gibt jetzt das Statistikmodell.)

Er war die Grundlage seinerzeit.

Was folgt nun für die Betroffenen daraus? Arztbesuche werden verschoben, leichtere Erkrankungen, die trotzdem ärztlich behandelt werden müssen, bleiben unbehandelt. Ärztlich verordnete Rezepte werden in der Apotheke nicht abgeholt.

Meine Damen und Herren, hier greift sie dann doch, die Steuerungswirkung – jedoch mit zweifelhaftem Erfolg. Sie führt dazu, dass Menschen in diesem Land nicht mehr zum Arzt gehen, obgleich sie es tun müssten.

Diese Beobachtung kann man machen, wenn man durch das Land fährt und mit den Menschen redet. Nun ist die direkte Konfrontation mit unbequemen Wahrheiten vielleicht nicht unbedingt jedermanns Sache. Es gibt aber auch wissenschaftliche Untersuchungen, von denen sich vielleicht diejenigen, die hier Zweifel haben, überzeugen lassen. Ich möchte zwei davon zitieren.

Eine Studie der Bertelsmann Stiftung, die das Verhalten von über 16.000 Patientinnen und Patienten ausgewertet hat, kommt zu zwei wesentlichen Ergebnissen:

Erstens – ich zitiere: „Vor allem in der Gruppe, die den Arzt häufig aufsucht oder die einen schlechten Gesundheitszustand aufweist, ist ein Rückgang der Praxiskontakte zu beobachten.“ Zitatende.

(Zuruf von Torsten Renz, CDU)

Und an anderer Stelle ein zweites Ergebnis, Zitat: „Je höher das Einkommen der Versicherten, desto seltener schieben sie den Arztbesuch auf oder vermeiden ihn gar.“ Zitatende.

Was heißt das? Das heißt nichts anderes als, dass je kränker und ärmer der Mensch ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie nicht zum Arzt geht. Die Praxisgebühr hat also erreicht, dass gesunde Beitragszahlerinnen und -zahler und vor allem die Arbeitgeber von Beiträgen entlastet werden. Stattdessen zahlen die Kranken jedes Jahr knapp 2 Milliarden Euro zusätzlich, und zwar nur dafür, dass sie krank wurden.

Eine Studie der Universität Mainz zur gesundheitlichen Versorgung überschuldeter Menschen in MecklenburgVorpommern vom Dezember 2011 zeigt, dass eine ganze Reihe überschuldeter Personen ärztliche Untersuchungen nicht durchführen lassen oder verordnete Medikamente nicht kaufen. Jeder Zweite der Studienteilnehmer gab an, in den letzten zwölf Monaten ein ärztlich verschriebenes Medikament wegen Geldmangels nicht gekauft zu haben. Gut 45 Prozent berichteten, in diesem Zeitraum aufgrund ihrer Schuldensituation und der 10 Euro Selbstbeteiligung einen Arztbesuch unterlassen zu haben.

Das ist nicht weiter verwunderlich. Diese Menschen haben schon Schulden und tun das vermeintlich Richtige, nämlich ihre Schulden zu verringern und nicht zum Beispiel durch Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlung weiter zu erhöhen. Sie tun das – und das ist die besondere Tragik an der Situation – auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit.

Kommen wir zum dritten und zum letzten Ziel, welches mit der Einführung der Praxisgebühr angestrebt wurde, der Einnahmenerhöhung. Ja, die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung wurden erhöht, das ist gelungen. Die Praxisgebühr erbringt derzeit Einnahmen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro im Jahr. Im Verhältnis zu den gesamten Einnahmen des Gesundheitsfonds in Höhe von 185,7 Milliarden Euro ist das ein Finanzierungsbeitrag von rund einem Prozent.

Dabei gäbe es Alternativen. Angesichts des derzeitigen Überschusses der Krankenkassen in Höhe von 20 Milliarden Euro wäre eine ersatzlose Streichung der Praxisgebühr finanzierbar. Will man aber dieses Finanzpolster angesichts zu erwartender steigender Ausgaben in den nächsten Jahren nicht anfassen, können wir mal folgende Beispielrechnung aufmachen:

Ich habe es gesagt, 185,7 Milliarden Euro ist die aktuelle Höhe des Gesundheitsfonds. Wollen wir die 1,9 Milliarden Euro Praxisgebühr über den Gesundheitsfonds bezahlen, kommen wir auf einen Betrag von 187,6 Mil- liarden Euro. Um dieses Mehr gegenzufinanzieren, braucht es bei einem aktuellen allgemeinen Beitragssatz für die Gesetzliche Krankenversicherung von 15,5 Prozent 0,16 Prozentpunkte mehr. Das durchschnittliche Bruttoeinkommen in Mecklenburg-Vorpommern beträgt rund 2.600 Euro. Bei einer paritätischen Finanzierung

von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die wir LINKEN wollen, kommt auf jeden Arbeiter und Angestellten eine finanzielle Mehrbelastung von 2 Euro und 8 Cent zu. Dieser Betrag würde sich nochmals verringern, da beispielsweise der Beitrag für Rentnerinnen und Rentner, für Hartz-IV-Empfänger darin enthalten ist und durch den Staat übernommen werden muss und nicht alle durch den Arbeitnehmer. Die Abschaffung der Praxisgebühr kostet uns also weniger als 2 Euro und 8 Cent im Monat. Es gibt wenige Entscheidungen der Bundesregierung, die nicht nur sozial so verheerend, sondern auch politisch und finanziell so unsinnig sind. Für weniger als 2 Euro und 8 Cent suchen Sie den Konflikt mit der Ärzteschaft, den Patientinnen und Patienten. Die Praxisgebühr – das ist unsere Meinung – ist ein Stück aus dem politischen Tollhaus.

Und schließlich: Mit der Praxisgebühr geht bürokratischer Aufwand für die Arztpraxen einher. Die hierfür verwendete Zeit steht nicht zur Versorgung der Patientinnen und Patienten zur Verfügung.

Meine Damen und Herren, Ihnen wird nicht entgangen sein, dass die Linksfraktion im Bundestag im März einen ähnlich lautenden Antrag eingebracht hat. Eine Woche später hat auch die …

(Jörg Heydorn, SPD: Waren denn genug Leute da?)

Wie bitte?

(Jörg Heydorn, SPD: Waren denn genug Leute da von Ihnen im Bundestag?)

Ja, davon gehen wir mal aus.

Und eine Woche später hat die SPD in den Bundestag einen Antrag eingebracht, der die Abschaffung der Praxisgebühr ebenfalls fordert. Ich gehe also davon aus, dass die GRÜNEN, die sich ebenfalls ablehnend zur Praxisgebühr geäußert haben, und die SPD unserem Antrag ihre Zustimmung geben werden.

(Torten Renz, CDU: Bleibt dann nur noch ein Böser übrig.)

Lassen Sie uns also gemeinsam diesen Baustein der Zweiklassenmedizin in Deutschland beiseite räumen! – Ich bedanke mich recht herzlich für die Aufmerksamkeit.