Sehr geehrte Damen und Herren, Polen und Frankreich sind die engsten Partner und Freunde Deutschlands in der EU.
Gerade deshalb sollten wir an beide Länder appellieren, dass sie sich an der Bewältigung der Flüchtlings- und Migrationsfrage beteiligen, denn beide Länder nehmen sehr wenige beziehungsweise fast gar keine Flüchtlinge auf. Jedoch stehen hier alle 28 Staaten in der Pflicht.
Sehen wir uns beispielsweise das Thema Umverteilung an. Der Beschluss, 120.000 Flüchtlinge umzuverteilen, wurde sehr schnell angenommen. Aber was ist dann passiert? Laut der Kommission haben nur 14 Mitgliedsstaaten 3.346 Plätze zur Verfügung gestellt und es wurden weniger als 200 Personen tatsächlich verteilt.
Diese Zahl ist eine Schande. Ich fordere alle Mitgliedsstaaten auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Bei der ganzen Kritik an den Südländern sollten wir jedoch vorsichtig im Duktus sein. Die Flüchtlinge kommen nicht erst seit einem Jahr auf Lampedusa oder Lesbos an. Bis dato haben wir uns zumeist zurückgelehnt, auf Dublin verwiesen und Solidarität mit den Südländern missen lassen.
Wir alle wissen, dass eine Lösung der Flüchtlings- und Migrationsfrage nur auf europäischer Ebene zu erreichen ist. Das darf aber nicht dazu führen, dass reflexartig gefordert wird, Schengen aufzugeben. Populistische Forderungen wie von der österreichischen Innenministerin, Griechenland vorübergehend aus dem Schengenraum auszuschließen, falls die griechische Regierung nicht endlich mehr für die Sicherung der Außengrenze tue, sind völlig fehlplatziert.
Sie sorgen für Verunsicherung bei den Menschen und entsprechen nicht geltendem Recht. Die EU-Kommission als Hüterin der Verträge hat dies Gott sei Dank sehr schnell klargestellt.
Es sind entscheidende Wochen, in denen es auch um die grundsätzliche Frage gehen wird, ob die EU in der
Flüchtlingsfrage die Reisefreiheit im Schengenraum aufgibt. Für uns Sozialdemokraten ist dies keine Alternative. Dass angesichts des anhaltenden Zustroms von Migranten mehrere EU-Staaten die Verlängerung nationaler Grenzkontrollen vorbereiten, muss uns mahnen, schnellstmöglich akzeptable Lösungen zu finden.
„Verpflichtend“ sage ich deshalb, weil der Beschluss, 120.000 Flüchtlinge umzuverteilen, nicht in die Tat umgesetzt wurde.
Parallel dazu muss eine Residenzpflicht eingeführt werden, sodass die Flüchtenden in den ihnen zugeteilten Ländern zunächst auch bleiben. Das Grundrecht auf Unversehrtheit und Schutz vor Krieg überwiegt in diesem Falle zweifelsohne gegenüber dem Grundrecht auf Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union.
Sehr geehrte Damen und Herren, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist, ist uns allen bewusst. In Bezug auf Großbritannien und die Forderung nach Veränderungen, die David Cameron in Europa wünscht, wird man in Brüssel hoffentlich eine Vereinbarung treffen, die die Befindlichkeiten beider Seiten zufriedenstellt. Sie kennen die Forderungen zum Teil und es leuchtet jedem im politischen Raum ein, dass einige Forderungen kompliziert, die anderen machbar erscheinen, aber sie müssen alle in Sorgfalt geprüft werden und es darf keinen falschen Aktionismus geben, der im Nachhinein zu Einschränkungen der europäischen Verträge führt und Nachteile für die Menschen in Europa bringt. Die Forderung nach Bürokratieabbau darf letzten Endes nicht das Einfallstor für die Deregulierung in Europa sein.
Ich glaube sagen zu können, dass alle Demokraten in diesem Hohen Haus den Verbleib Großbritanniens in der EU befürworten.
Es muss jedoch mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass nicht diejenigen über Gebühr Vorteile in der EU erhalten, die bei der europäischen Integration die Handbremse angezogen haben. Ich kann deshalb nicht einerseits sagen, dass der Binnenmarkt erhalten und geschützt werden muss, und andererseits massive Sonderbehandlungen beantragen.
Ganz klar sage ich auch, dass Diskriminierung aufgrund der Nationalität in Europa der Vergangenheit angehört. Das ist vielleicht eine der größten europäischen Errungenschaften. Deshalb gilt: Die Diskriminierung von Arbeitnehmern, um etwaigen Sozialmissbrauch zu bekämpfen, ist der falsche Weg. Die einzelnen Debatten dazu in Großbritannien sind Ihnen, so denke ich, allen bekannt und müssen aus Rücksicht auf Redezeit und Uhrzeit nicht wiederholt werden.
Sehr geehrte Damen und Herren, an der derzeitigen Lage in Europa gibt es nichts zu beschönigen. Deshalb sind wir als Politiker allen voran dazu aufgerufen, für ein solidarisches und demokratisches Europa zu arbeiten
Eine der vielleicht größten Errungenschaften für die Unionsbürger ist die Freizügigkeit im Schengenraum.
Wir sehen diese Freizügigkeit, von Schwerin nach Stockholm und weiter über Amsterdam nach Barcelona zu reisen, ohne an der Grenze kontrolliert zu werden,
zu Recht als eine Selbstverständlichkeit an. Die Bürger werden zuerst beim Reisen die Nachteile spüren, wenn die Ziele der europäischen Integration infrage gestellt und eingestellt werden. So werden peu à peu Nachteile an den Tag treten, die auch unseren Wohlstand gefährden können. Gerade deshalb ist es ungeheuer wichtig, die EU vor Angriffen der Populisten und Extremisten zu verteidigen.
Dank der europäischen Integration hat unser Land in den letzten 25 Jahren überhaupt erst die wirtschaftliche Aufholjagd beginnen können. Landtag und Landesregierung sind unserer Landesverfassung verpflichtet, die das Mitwirken an der europäischen Integration aus gutem Grund festgeschrieben hat. Für die SPD-Landtagsfraktion kann ich Ihnen versichern, dass dies für uns kein bloßes Lippenbekenntnis ist, sondern eine Verpflichtung.
Ich glaube, dass dieses Jahr als Landmarke in die Geschichte der EU eingehen kann, ob wir es schaffen, die seit Jahren drängenden Probleme als Gemeinschaft zu lösen, oder ob wir in die längst überwundene Kleinstaaterei zurückfallen. Für die SPD ist Letzteres keine Option. Der größte Fehler, den denkende Menschen machen können – und da schließe ich die Populisten und Extremisten besonders der Rechten in Europa aus –, ist der, die eigene Lebenswelt der Gegenwart für selbstverständlich zu halten. Unsere derzeitigen Errungenschaften sind mit Blick auf die Geschichte nicht selbstverständlich, deshalb müssen wir für sie kämpfen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Brie, Sie haben in Ihrem Redebeitrag darauf hingewiesen, dass möglicherweise die grüne Partei die einzige ist, die sich relativ vorbehaltlos für die europäische Idee nach wie vor engagiert, in der es keine intensiven Auseinandersetzungen über die europäische Frage gibt, die sich aber ebenfalls mit der Frage auseinandersetzen muss, wie diese grundsätzliche Krise der Europäischen Union in den Griff zu bekommen ist und wie ihr zu begegnen ist.
Ich will daran erinnern, es hat bisher noch niemand von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt: Es ist noch gar nicht so lange her, da sprachen wir, wenn wir „europäische Krise“ gemeint haben, von der Griechenlandkrise. Da passt der Titel der Aussprache „Solidarisches Europa“. Wir haben nach vielem Hin und Her, nach vielen Auseinandersetzungen im Rahmen der Griechenlandkrise ein solidarisches Europa gelebt.
Egal, wie man diese einzelnen Lösungen bewertet, der Eindruck, der bei vielen dabei übrig geblieben ist, ist: Mit deutschem, französischem, nationalstaatlichem Geld wird ein EU-Land finanziert, wird gerettet, welches nicht wirtschaften kann. Das war der Eindruck, der von vielen artikuliert worden ist. An dieser Stelle ist allerspätestens, obwohl es später eine Lösung gab, glaube ich, sehr deutlich geworden,
dass wir zumindest in den Köpfen und in den Herzen – auch hier in Deutschland – noch nicht so weit sind, dass wir wirklich überzeugte Europäer sind und Probleme, die auf europäischer Ebene entstehen, tatsächlich mit dem europäischen Gedanken im Herzen und im Bauch lösen wollen. Dass sich das weiter fortgesetzt hat, erleben wir aktuell im Umgang mit den Flüchtlingen.
Sehr geehrte Damen und Herren, das sind keine Kleinigkeiten, die hier zur Auseinandersetzung führen, sondern es sind europäische Grundwerte, die infrage gestellt werden. Es sind europäische Grundwerte, es ist das europäische Selbstverständnis, das von einzelnen Nationalstaaten oder den Regierungen einzelner Nationalstaaten infrage gestellt wird. Wir erleben im Augenblick eine Entwicklung, in der im Zweifel nationalstaatliche Interessen vor europäische Interessen gestellt werden. Das, sehr geehrte Damen und Herren, ist für jeden, der ein überzeugter Europäer ist, eine Priorisierung, die durch nichts zu rechtfertigen ist. Wer ein vereintes Europa, ein demokratisches Europa, ein solidarisches Europa will, der muss die europäische Lösung prioritär im Fokus haben und nicht die nationalstaatliche Lösung.
In der Vorbereitung auf diesen Tagesordnungspunkt, hinter dem sich vieles verbergen konnte – man kann zu Flüchtlingen reden, man kann zu Griechenland reden, man kann zu Ungarn reden, man kann zum Verhalten von Großbritannien reden, viele, viele Möglichkeiten der Ansatzpunkte –, habe ich mir vorgenommen, dass ich mir die Auseinandersetzungen einmal vornehme, die wir im Augenblick mit Polen erleben, auch weil es unser direktes Nachbarland ist, weil wir an dieser Stelle, finde ich, sehr mustergültig erleben, dass auf der einen Seite die Frage, wie gehen wir damit um, wenn europäische Werte infrage gestellt werden, Beispiel Pressefreiheit,
und was sind die möglichen und die notwendigen Interventionen, die vonseiten der europäischen Ebene initiiert werden müssen, als konkurrierende Interessen aufeinandertreffen.
Die GRÜNEN-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass die Europäische Kommission am 13. Januar eine umfassende Überprüfung mehrerer polnischer Reformgesetze eingeleitet hat. Dafür nutzt sie, und das ist in der Tat ein Novum, erstmals das 2014 geschaffene Verfahren zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union.