Warum werden Rechtsbrüche praktisch unterschiedlich geahndet? Da kommen wir dann, Herr Seelmaecker, mit dem punitiven Ansatz, den Sie hier weitgehend ins Zentrum stellen, eigentlich nicht weiter. Ich nenne einmal ein Beispiel aus dem öffentlichen Raum. Fragen Sie sich einmal, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie viele Plakate Sie in Ihrem Leben schon gesehen haben, auf denen Sanktionen für Schwarzfahren oder Ladendiebstahl angedroht werden.
(unterbrechend) : Herr Abgeordneter, darf ich Sie bitten, sich etwas mehr dem Thema der Debatte zu nähern? Wir haben eine Große Anfrage zur Debatte angemeldet.
In dieser Großen Anfrage geht es darum, was daraus folgt, dass die Wirtschaftskriminalität nicht vernünftig verfolgt wird.
Also, wie viele Plakate haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen, schon gesehen, auf denen Sanktionen für Schwarzfahren oder Ladendiebstahl angedroht oder sie kriminalisiert werden? Und wie viele Plakate haben Sie schon gesehen, auf denen für Wirtschaftskriminalität oder die unsozialen Praktiken weitgehend unkontrollierter Banken oder großer Konzerne staatlicherseits Sanktionen angedroht werden? Genau da sind wir dann nämlich an dem Punkt, wo wir Wirtschaftskriminalität wirklich angehen könnten, wenn wir die gesellschaftlich herrschende Logik ein bisschen ändern würden.
Wir können von uns aus diese Anfrage im Justizausschuss gern weiter diskutieren; das ist immer wichtig. Herr Seelmaecker, wir hatten im Europaausschuss aber gerade eine Diskussion über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission.
Genau da wäre nämlich die Möglichkeit gewesen, die Ursachen und nicht die Symptome von Wirtschaftskriminalität zu thematisieren und einem Mitglied der EU-Kommission mit auf den Weg zu geben, dass diese Kommission zum Beispiel durchaus die Möglichkeit hätte, die Wirtschaftskriminalität und schädliche Steuerpraktiken an der Wurzel zu packen und derart klare rechtliche Vorgaben zu machen, dass Gerichtsverfahren nicht mehr so kompliziert anzustrengen und auch nicht mehr so kompliziert durchzuführen wären. Genau da könnten wir ansetzen, und dann könnten wir die Gerichte durch eine zunehmende Punitivität anders entlasten.
Die Vertreterinnen und Vertreter der CDU haben das allerdings verpasst, und auch der fehlende Wille der EU-Kommission, Steueroasen innerhalb Europas konsequent anzugehen, blieb Ihrerseits leider unkritisiert. Auch eine demokratische Kontrolle von Banken haben Sie nicht eingefordert. Wir tun aber genau das, und das ist auch gut so und im Sinne der Mehrheit der Menschen und auch im Sinne eines Ansetzens an den Ursachen. Genau da ist in Ihrer Anfrage deutlich geworden, dass die Gerichte überlastet sind. Sie können aber entlastet werden dadurch, dass wir klarere Regulierungen haben und dass es nicht mehr so schwer und kompliziert wird, Unternehmen, die ganz klare Rechtsbrüche begehen, oder auch Einzelakteure zu verfolgen.
Stattdessen hieß die CDU die weitere Stärkung der Macht der Finanzmärkte, der transnationalen Kapitalgesellschaften
und der Großkonzerne uneingeschränkt gut in dieser Diskussion und hat mit keinem Wort erwähnt, dass die EU-Kommission in ihrem Arbeitsprogramm eben keine Maßnahmen zur Regulierung von Fehlverhalten großer wirtschaftlicher Akteure geplant hat.
Erinnern wir uns einmal an unsere Debatten im Europaausschuss über TTIP und dessen rechtliche Komponenten und an das,
was daraus folgt, zum Beispiel Schiedsgerichtsverfahren oder die sogenannte regulatorische Kooperation. Genau solche Verfahren haben Sie vorangetrieben.
Das wird weiterhin dazu führen, dass die Unternehmen sich ermuntert fühlen, weiter gegen Recht zu versto
ßen, und das wird eine weitere Überlastung der Gerichte nach sich ziehen. Genau deshalb sehen wir als LINKE in Ihrem Ansatz keine endgültige und erst recht keine ganzheitliche Lösung.
Eine ganzheitliche Lösung ist, darauf zu schauen, welche Akteure gesellschaftlich kriminell agieren und in welcher Form sie nicht sanktioniert werden. Bei großen Konzernen und den Akteuren, die in ihnen agieren, wie zum Beispiel die HSH Nordbank, Herr Ackermann und so weiter, wird leider sehr oft ein Auge zugedrückt. Und bei der Verfahrensregulierung, egal, ob es auf der europäischen, der Bundes- oder der Hamburger Ebene ist, wird viel zu wenig getan, um das zu vereinfachen. – Vielen Dank.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Erst einmal zu Ihnen, Herr Dolzer: Ich habe zugehört und mir Mühe gegeben zu verstehen, was Sie unter Demokratisierung der Justiz verstehen. Das ist zunächst einmal ein ganz gefährlicher Begriff.
(Beifall bei Jörg Hamann, Ralf Niedmers, André Trepoll, alle CDU, und bei Dr. Joa- chim Körner AfD – Milan Pein SPD: Herr Dr. Schinnenburg, Sie sprechen auch nicht zum Thema!)
Denn für Liberale – und ich hoffe, für einige andere auch – ist die Unabhängigkeit der Justiz und die Nichteinflussnahme von Regierung und Parlamenten ein Grundrecht.
Aber es gibt vielleicht doch einen Aspekt, den ich nicht ganz verstanden habe. Sie haben von Plakaten auf der Straße gesprochen, mit denen Menschen Strafbarkeit von bestimmten Verhaltensweisen fordern. Je mehr Plakate sich für die Strafbarkeit einer bestimmten Tat aussprächen, desto näher liege, dass sie bestraft werden müsse. Verstehen Sie das unter Demokratisierung der Justiz, die Zahl der Plakate steuert die Strafbarkeit? Ich kann dem nicht so recht folgen; vielleicht haben Sie das mit Ihren Ausführungen gemeint.
Herr Tabbert ist anwaltlicher Kollege. Herr Tabbert, für Anwälte gilt das Prinzip des sichersten Wegs, um das Beste für seinen Mandanten herauszuholen. Wenn ich mir vorstelle, Sie sollten den Senator bei diesem Sachverhalt, der durch die Große Anfrage herauskam, vertreten, dann würde ein guter Anwalt sehr schnell um Vergleichsverhandlungen nachsuchen.
Ihre Situation ist dermaßen schlecht, da hilft eigentlich nur noch eine Vergleichsverhandlung und nicht Ihre Sprechblase, die Sie gerade produziert haben.
Denn die Lage ist so – Herr Seelmaecker hatte schon zitiert, ich will einige Punkte ergänzen –: Die Verfahrensdauer in Wirtschaftsstrafkammern beträgt zum Teil mehr als vier Jahre. Regelmäßig sind 10 Prozent und mehr der Stellen bei der Staatsanwaltschaft nicht besetzt. Und zwar nicht aufgrund von Krankheit oder Urlaub, sondern sie sind nicht besetzt, obwohl es, wie Sie vielleicht wissen, in Hamburg genügend Juristen gibt – sie müsste sie nur einstellen.
Am schlimmsten ist, dass auf viele Fragen der CDU im Prinzip die Antwort kam, man wisse die Antwort gar nicht. Nun weiß ich nicht, ob es Schlampigkeit ist oder ob Sie bewusst nicht wissen wollen, wie katastrophal die Lage ist. Sie konnten nicht genau beantworten, wie viele Besetzungsrügen in Revisionsverfahren erhoben werden; das wissen Sie nicht. Sie wollen vielleicht nicht wissen, wie schlimm es ist. Sie konnten nur teilweise angeben, wie viele rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen eingeräumt werden mussten. Herr Seelmaecker nannte elf, aber wenn man das an der Stelle richtig liest, dann ist das nur ein Ausschnitt, der Senat sagt, es seien noch mehr. Sie wissen also gar nicht, wie oft es schiefgelaufen ist. Und Sie wissen auch nicht, wie viele Strafmilderungen es wegen Verfahrensverzögerung gibt. Mit anderen Worten: Entweder aus Schlampigkeit oder vielleicht auch absichtlich, um die Wahrheit zu verschleiern, erheben Sie wichtige Informationen gar nicht. Das allein ist schon ein Skandal.
Dann gibt es, wie in der CDU-Anfrage erwähnt, katastrophale Kommentare. Der Personalrat der Staatsanwaltschaft, die Strafrichter des Landgerichts haben sich sehr nachhaltig in der Öffentlichkeit geäußert. Am bemerkenswertesten fand ich die Aussagen von Herrn Dr. Tully, dem vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und, was wichtiger ist, Vorsitzender des Hamburger Richtervereins. Der oberste Repräsentant aller Hamburger Richter hat gesagt, die Belastungssituation entscheide über die Anklageerhebung: Wenn wir viel zu tun haben, erheben wir keine Anklage, wenn wir wenig zu tun haben, erheben wir Anklage. Das ist mit dem Rechtsstaat unvereinbar. Und das sagt Ihnen der oberste Vertreter der Hamburger Richter. Spätestens das müsste doch Vergleichsverhandlungen bei Ihnen auslösen und nicht solche Sprüche, wie sie Herr Tabbert gerade produziert hat.
Wir müssen auch im Auge behalten, dass es hier nicht um irgendeinen Bereich geht, sondern um den Bereich, wo der Staat zu Recht das Gewaltmonopol hat, das hoffentlich von niemandem angezweifelt wird. Wenn der Staat aber zu Recht ein Monopol hat – bei Schulen kann man durch Privatschulen darum herumkommen, aber ich hoffe, es wird niemals private Rechtsprechung geben –, dann muss er sein Letztes tun, um diesen Anforderungen zu genügen. Vier Jahre Wartezeit auf ein Verfahrensergebnis sind völlig unerträglich.
Denken Sie einmal an die menschlichen Schicksale. Es gibt Menschen, die vier Jahre auf ein Strafurteil warten – übrigens in erster Instanz, womöglich wird es noch in der zweiten oder dritten Instanz nachgeprüft. Vier Jahre lang müssen die Opfer warten, bis ihnen Gerechtigkeit widerfährt, aber vier Jahre lang müssen auch die angeblichen Täter warten, bis sie möglicherweise von einem fürchterlichen Vorwurf freigesprochen werden. Das können Sie nicht ernsthaft hinnehmen in einem Bereich, wo der Staat das Monopol hat. Das ist unerträglich.
Dann werden in der Großen Anfrage einige Entschuldigungen der Justiz angeführt, warum das alles so lange dauert. Einige davon sind ohne Weiteres nachvollziehbar, andere weniger. Zum Beispiel wird auf Seite 4 erwähnt, es gebe jetzt die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung und das führe zu mehr Anzeigen, weil diese eben die Rechnungslegungen der Unternehmen genauer überprüfe. Wenn man genau hinschaut, steht da, dass es diese Prüfungsstelle schon seit 2005 gibt. Seit zehn Jahren hatte die Justiz Zeit, sich darauf einzustellen. Und wie viele Anzeigen gab es? Auch das steht dort, nämlich genau vier. Das kann also nicht ernsthaft ein Faktor sein, der hier zu großer Mehrbelastung führt.
Dann wird das sogenannte Verschleifungsverbot des Bundesverfassungsgerichts erwähnt, sogar mehrfach. Entschuldigung: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Selbstverständlichkeit erwähnt, nämlich dass Richter in einen Straftatbestand nicht irgendetwas hineinlesen können, was da gar nicht drinsteht. Das ist Sache des Parlaments. Völlig zu Recht hat das Bundesverfassungsgericht die Rechte von Menschen, auch von angeblichen Straftätern, geschützt und für Freisprüche gesorgt. Das ist eine Selbstverständlichkeit, über die man sich hier beklagt. Und auch das war schon 2010. Fünf Jahre hatte man also Zeit, sich darauf einzustellen.
Und dann kommt der Punkt, es gebe ein so großes Engagement von Angeklagten und Verteidigern bei Wirtschaftsstrafsachen. Entschuldigung, Herr Tab
bert: Ich gehe davon aus, dass Sie sich bis zum Letzten engagieren, um im Strafverfahren einen Freispruch für Ihren Mandanten zu erreichen. Das ist die selbstverständlichste Sache der Welt. Da kann man nicht sagen, oh, wie schrecklich. So klingt das aber irgendwie bei der Justiz. Die Entschuldigungen sind teilweise nicht akzeptabel.
Was macht der Senator an dieser Stelle? Herr Tabbert fing schon wieder an mit seinen paar Stellen. Der Stellenpool beläuft sich auf acht. Das ist eine Steigerung um weniger als 1 Prozent. Mit dem angeblich so tollen Programm von Senator Steffen gibt es eine Erhöhung um etwa 1 Prozent der Richterstellen. Und das Beste kommt noch. Sie haben im Grunde erzählt, Sie hätten die Zahl der Stellen erhöht. Von welchem Punkt kommen Sie denn? Trotz Ihrer Erhöhungen im vergangenen Jahr und dieser acht Stellen haben Sie immer noch weniger Richterstellen als vor zehn Jahren, damals waren es nämlich 826. Mit allen Erhöhungen, die Sie hier noch groß verkaufen wollen, sind Sie bei 818, immer noch acht Richterstellen weniger als vor zehn Jahren. Hören Sie auf mit Ihren Textbausteinen, hier sei alles toll. Es ist nicht toll. Die Justiz ist unterausgestattet, und das haben Sie zu verantworten.