Protocol of the Session on May 19, 2011

Vor zehn Jahren habe ich ein Interview für die Tageszeitung Evrensel gemacht, als es um 40 Jahre Migration ging. Da hat die erste Generation der Gastarbeiter gesagt, dass sie nicht wussten, welche Rechte sie haben. Sie hatten 16, 18 Stunden gearbeitet und keiner hatte sie darauf angesprochen. Nachdem dann einer, der ein bisschen Deutsch konnte, sie darauf ansprach, dass sie auch ein Recht darauf hätten, nur acht Stunden zu arbeiten, haben sie sich gewundert. Daher sollten wir den Fehler, den wir in Sechziger- und Siebzigerjahren gemacht haben, nicht wiederholen. Es sollte nicht nur um die Arbeit gehen…

(Glocke)

Herr Yildiz, entschuldigen Sie.

Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie zuhören oder nicht, aber vielleicht können wir insgesamt den Lautstärkepegel ein bisschen herunterfahren. – Herr Yildiz, Sie haben das Wort.

– Vielen Dank, Frau Präsidentin.

Ich komme auch zum Ende. Es sollte doch darum gehen, dass wir diese Menschen aufnehmen und ihnen die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen und sie nicht von vornherein auf den Arbeitsmarkt begrenzen und damit ausgrenzen. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN, vereinzelt bei der GAL und bei Arno Münster und Wolfgang Rose, beide SPD)

Nun erhält das Wort Herr Senator Scheele.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Seit dem 1. Mai 2011 sind in Deutschland alle Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit weggefallen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der acht mittel- und osteuropäischen Länder, die im Jahr 2004 der Europäischen Union beigetreten sind, benötigen keine Arbeitserlaubnis mehr, um in Deutschland zu arbeiten.

(Christiane Schneider DIE LINKE: Sieben Jahre zu spät!)

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit zählt zu den vier fundamentalen Freiheiten der Europäischen Union. Sie ermöglicht jeder EU-Bürgerin und jedem EU-Bürger, den eigenen Beruf europaweit auszuüben, in London oder in Madrid und in Zukunft eben auch in Budapest oder in Prag. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist damit ein elementarer Schritt zu einem gelebten Europa für die Menschen. Der Senat begrüßt das ausdrücklich und wir sehen darin mehr Chancen als Risiken.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Ich bin noch nicht fertig, es kommt noch ein bisschen etwas dazu.

(Dr. Wieland Schinnenburg FDP: Herr Sena- tor, genießen Sie es doch!)

Ich habe es genossen, danke schön.

Man muss es nur richtig machen. Hier und heute stellt sich allerdings die Frage, welche Auswirkungen die Arbeitnehmerfreizügigkeit auf unsere Volkswirtschaft und auf das Bruttoinlandsprodukt hat, genauso wie auf das Lohnniveau und die Arbeitslosenzahlen.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht davon aus, dass vor allem wanderungswillige 25- bis 35-Jährige die neue Arbeitnehmerfreizügig

(Mehmet Yildiz)

keit nutzen werden. Das IAB schätzt – das haben schon mehrere Redner gesagt –, dass ungefähr 100 000 Menschen diese Freizügigkeit nutzen und nach Deutschland zuwandern werden. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit 3500 Zuwanderinnen und Zuwanderern nach Hamburg pro Jahr. Auf dem Hamburger Arbeitsmarkt verzeichnen wir derzeit über 13 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und im April 2011 waren zudem über 14 000 offene Stellen gemeldet. Ich glaube daher, dass der Hamburger Arbeitsmarkt robust und groß genug ist, um weitere Arbeitskräfte aufzunehmen.

Meine Damen und Herren! Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Hamburg ist nicht nur zu meistern, sie bringt vielmehr große Chancen für Hamburg mit sich. Jede Pflegekraft aus Tschechien oder der Slowakei, die in Hamburg auf einem Arbeitsplatz eingesetzt wird, der sonst nicht besetzt werden könnte, leistet einen Beitrag zur besseren Gesundheitsversorgung der Hamburgerinnen und Hamburger und jeder Ingenieur, der aus Estland, Lettland oder Litauen für ein Hamburger Unternehmen plant, stärkt die Wettbewerbsposition seines Unternehmens und sichert bestehende Arbeitsplätze.

Entsprechend geht das IAB davon aus, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit leichte positive Effekte auf das Bruttoinlandsprodukt haben wird. In der Presse der letzten Woche war zu lesen, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass bis zum Jahr 2025 6,5 Millionen fehlende Fachkräfte in Deutschland zu ersetzen sind. Das ist im Übrigen nichts Neues, davon ist man schon früher ausgegangen. Selbst wenn wir in Deutschland, wie propagiert und was wir auch tun wollen, alle Anstrengungen verstärken, Frauen, Ältere und Arbeitslose besser ins Erwerbsleben einzubinden, verbleibt nach den uns vorliegenden Schätzungen immer noch eine Fachkräftelücke von 2,7 Millionen Menschen. Das macht deutlich, dass Platz für alle ist. Wir brauchen Zuwanderer, wir brauchen qualifizierte Arbeitslose, die das Schicksal der Arbeitslosigkeit verlassen, wir brauchen erwerbstätige Frauen und wir brauchen Menschen, die im höheren Alter ihren Beruf noch ausüben können. Insoweit stehen wir vor keinem Konkurrenz- und Wettbewerbsproblem.

(Beifall bei der SPD, der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Soviel zu den Chancen.

Der ausschlaggebende Grund für die Menschen, sich aus ihren Heimatländern aufzumachen, um in Deutschland zu arbeiten, ist das Einkommen. Ob qualifiziert oder hoch qualifiziert oder auch unqualifiziert werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Mittel- und Osteuropa daher eher bereit sein, in Deutschland auch zu geringem Lohn zu arbeiten. Wir wollen aber nicht, dass durch die neue Freizügigkeit und die damit verbundenen Chancen

Löhne gesenkt werden und Unternehmen anstelle inländischer Arbeitskräfte nun Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Mittel- und Osteuropa zu schlechteren Bedingungen einstellen. Einen Drehtüreffekt mit sozialpolitischer Abwärtsspirale wollen wir verhindern.

Die neue Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt uns daher auch vor sozialpolitische Aufgaben. Wir wollen – damit haben Sie wahrscheinlich gerechnet – alle Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufnehmen, damit auch allen Branchen die Möglichkeit offensteht, durch Vereinbarungen flächendeckender, tarifvertraglicher Mindestlöhne faire Arbeitsbedingungen und Löhne für gute Arbeit sicherzustellen.

(Beifall bei der SPD)

Und wir wollen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn als Lohnuntergrenze, um weiteren Druck auf das deutsche Lohngefüge zu verhindern. Nur so kann gewährleistet werden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – insbesondere aus dem Bereich der Un- und Angelernten aus dem EU-Ausland – zu gleichen Mindestlöhnen wie deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt werden. Wir wollen durchsetzen, dass im EU-Vergaberecht und in den Vergaberegeln auf Bundesebene die Zulässigkeit ökologischer und sozialer Kriterien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge konkretisiert und erweitert werden.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wenn es uns gelingt, alle Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufzunehmen und wenn es einen flächendeckenden Mindestlohn gibt, dann ist auch die Voraussetzung geschaffen, um eine Lohnuntergrenze und Tariftreue als Voraussetzung bei der Vergabe öffentlicher Aufträge flächendeckend einzuführen. Diejenigen Unternehmen, die dann gegen das Entsenderecht verstoßen, sollten im europäischen Unternehmensregister dokumentiert werden, damit sie aus dem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden können.

Es muss also gelten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Rheinland-Pfalz und Hamburg wollen daher gemeinsam im Bundesrat am 27. Mai die Bundesregierung auffordern, im Bereich der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung dafür zu sorgen, dass Sozial-Dumping verhindert wird.

(Beifall bei der SPD und bei Antje Möller GAL)

Meine Damen und Herren! Europa hat die Voraussetzungen für Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen. Nun ist Deutschland an der Reihe, die Freiheit so auszugestalten, dass Menschen sich willkommen fühlen, dass sie zuwandern und dass gleichzeitig Unternehmen keine

(Senator Detlef Scheele)

Wettbewerbsnachteile erleiden und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon in allen Belangen profitieren. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, kommen wir zur Abstimmung.

Wer stimmt einer Überweisung der Drucksachen 20/408 und 20/526 an den Ausschuss für Soziales, Arbeit und Integration zu? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist das Überweisungsbegehren abgelehnt und wir stimmen in der Sache ab.

Zunächst zum Antrag der SPD-Fraktion aus Drucksache 20/526.

Wer möchte diesem Antrag seine Zustimmung geben? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit angenommen.

Nun zum Antrag der Fraktion DIE LINKE aus Drucksache 20/408.

Wer möchte diesen Antrag annehmen? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Der Antrag ist damit mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 8, die Drucksachen 20/364 bis 20/366: Berichte des Eingabenausschusses.

[Bericht des Eingabenausschusses: Eingaben – Drs 20/364 –]

[Bericht des Eingabenausschusses: Eingaben – Drs 20/365 –]

[Bericht des Eingabenausschusses: Eingaben – Drs 20/366 –]

Ich beginne mit dem Bericht 20/364, zunächst zu Ziffer 1.

Wer schließt sich der Empfehlung an, die der Eingabenausschuss zu der Ziffer 107/11 abgegeben hat? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist dann so angenommen.

Wer möchte der Empfehlung folgen, die der Eingabenausschuss zu der Eingabe 160/11 abgegeben hat? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Auch dieser Empfehlung wird gefolgt.

Wer schließt sich darüber hinaus den Empfehlungen zu den übrigen Eingaben an? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Das ist dann so geschehen.