Protocol of the Session on November 28, 2012

Frau Präsidentin, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will an dieser Stelle, das wurde in Teilen auch schon gemacht, zunächst darauf eingehen, warum wir nicht nur in Hamburg, sondern bundesweit einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen.

(Beifall bei der LINKEN und bei Dr. Andreas Dressel SPD)

Es gibt, das ist auch bekannt, in dieser Republik schon Tariflöhne, die eine Existenz gar nicht erst ermöglichen. Ein Bäcker verdient zum Beispiel in Sachsen-Anhalt laut Tarifvertrag 4,48 Euro pro Stunde.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Schlimm!)

In Rheinland-Pfalz erhalten Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie einen Tariflohn von 5,84 Euro pro Stunde, und auch in Hamburg mussten wir nicht erst durch Herrn Schwiegers Rede, sondern schon vorher lernen, dass im Bereich des Bewachungsgewerbes nach Tarifvertrag Stundenlöhne von 7,31 Euro gezahlt werden. Und das ist womöglich nur die Spitze des Eisbergs, arbeiten doch viele Menschen ohne tarifliche Absicherung und zu Löhnen, die sich im Bereich von bis zu 2 Euro pro Stunde bewegen. Arm trotz Arbeit, das ist auch für DIE LINKE ein Skandal.

(Beifall bei der LINKEN und bei Dr. Melanie Leonhard SPD)

Hinzu kommt, dass diese Löhne nur eines garantieren, nämlich neben der aktuellen Abhängigkeit von staatlichen Leistungen auch im Alter die gewissermaßen lebenslange Festlegung auf den Regelsatz nach SGB XII, und das ist nicht weniger schlimm.

Frau Föcking hat nicht ganz Unrecht, wenn sie sagt, ein Mindestlohngesetz sei nicht das einzig Wohlbringende, was wir an dieser Stelle haben. Es sei nur daran erinnert, dass ein nicht deutsches, aber ein großes Konstrukt zur Konjunkturförderung, der New Deal in den USA, neben dem Mindestlohngesetz noch konjunktur- und beschäfti

(Dr. Thomas-Sönke Kluth)

gungsfördernde Maßnahmen vorsah und – etwas USA-spezifisch – eine Sozialversicherung. Es ist also nötig, neben dem Mindestlohngesetz auch an anderen Stellen zu agieren. Das ist nicht das Ende, aber es ist ein Anfang.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD)

In Hamburg, das haben wir schon gehört, gab es im März etwa 36 000 Menschen, die aufstocken, also bis zu Vollzeit arbeiten und dennoch keinen Lohn erhalten, der die Leistungen des SGB II übersteigt. Diese Zahl bildet zumindest den Ausgangswert, der einen Mindestlohn begründet. Die Anzahl derjenigen Menschen, die darüber hinaus einen Lohn erhalten, der nicht existenzsichernd ist, ist jedenfalls höher.

Zum jetzt an das Parlament überreichten Senatsantrag zum Mindestlohngesetz – eine Hausnummer hat er nämlich schon, das ist die 20/5901 –:

(Dr. Andreas Dressel SPD: Sehr gut!)

Liebe SPD-Fraktion, Sie halten vielleicht Wort, aber der Senat beantragt hier das schlechteste Mindestlohngesetz, das dieses Land bisher gesehen hat und wahrscheinlich auch in Zukunft sehen wird.

(Ksenija Bekeris SPD: Sie meinen die in Bremen!)

Einzig der Geltungsbereich erscheint mir vernünftig und so weitgehend formuliert, wie es eben bei einem Landesmindestlohngesetz möglich ist. Das war es dann aber schon. In Ihrem Entwurf fehlt die Mindestlohnkommission, der Senat soll es alleine richten. Wo ist dann aber die normierte Beteiligung der Tarifpartner, oder soll es dann so laufen wie bei diesem Gesetz, bei dem ausweislich meiner Schriftlichen Kleinen Anfrage von Mitte Oktober die Gewerkschaften erst in letzter Minute beteiligt wurden?

Zum zweiten Teil des Senatsantrags: Auch hier bleibt der Senat hinter den heute diskutierten Standards zurück. Eine mögliche Tariftreueklausel für den Bereich der Vergabe von ÖPNV-Dienstleistungen sucht die geneigte Leserin hier jedenfalls vergeblich.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Und der geneig- te Leser!)

Der auch.

Zusammengefasst atmet dieser Senatsantrag für ein Mindestlohn- und Vergabegesetz den deutlichen Odem eines übersteigerten Machtanspruchs in Zeiten einer absoluten SPD-Mehrheit. Der Senat entscheidet alleine, wie hoch der Mindestlohn sein soll, und schafft auch keine zukunftssicheren Regelungen im Vergabegesetz. Den Beschäftigten der Verkehrsunternehmen versagen Sie in Ham

burg jedenfalls den notwendigen Schutz. Das kann ich nicht verstehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde nur für einen alleinlebenden Menschen gerade eben ausreicht. Familien und Alleinerziehende werden weiterhin auf aufstockende Leistungen des Jobcenters angewiesen sein. Hier helfen, und auch das nur knapp, die von der LINKEN geforderten 10 Euro pro Stunde. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren! Das Wort hat nun der Erste Bürgermeister.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Debatte über Mindestlöhne in Deutschland hat neben all dem, worum es auch geht, nämlich um Geld, vor allem eine moralische Grundlage. Wir sind eine Gesellschaft, die auf Arbeit gegründet ist, und jeder von uns muss für seinen Lebensunterhalt etwas tun. Das wollen wir auch, und wir tun viel dafür, dass das gut funktioniert. Aber gleichzeitig gehört zur Moral einer solchen Gesellschaft, dass diejenigen, die sich anstrengen und arbeiten, dabei auch zurechtkommen.

(Vereinzelter Beifall bei der SPD)

Deshalb ist es nicht in Ordnung, dass in Deutschland Löhne gezahlt werden, die das nicht garantieren, und darum brauchen wir in Deutschland wie in fast allen anderen demokratischen Marktwirtschaften Mindestlöhne.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN)

Diese Debatte hat in unserem Land schon länger Konjunktur, und zwar seitdem es nicht mehr gelingt, dass fast alle Wirtschafts- und Arbeitsbereiche tatsächlich durch Tarifverträge gestaltet werden. Als das noch so war – und das ist nicht so lange her, dass man sich nicht daran erinnern könnte –, hat niemand über Mindestlöhne nachgedacht, weil letztendlich der Mindestlohn immer das Ergebnis eines gut verhandelten Tarifvertrags war. Aber diese Zeiten haben sich geändert.

(Dora Heyenn DIE LINKE: Durch wen denn?)

Deshalb ist es notwendig, dass wir dazu beitragen, dass es eine Mindestabsicherung gibt, und ich glaube, dass die Debatte über die Mindestlöhne zugunsten eines flächendeckenden Mindestlohnes in ganz Deutschland längst entschieden ist. Das haben einige nur noch nicht eingesehen, aber spätestens nach dem September nächsten Jahres

(Tim Golke)

wird es in ganz Deutschland ein allgemeines Gesetz geben.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Ich habe als Bundesminister für Arbeit und Soziales einen Beitrag dazu leisten können, dass die beiden Grundgesetze über Mindestlöhne in Deutschland zustande gekommen sind und sich so entwickelt haben, wie sie heute benutzt werden können. Das Entsendegesetz ist neu strukturiert und reformiert worden, und das Mindestarbeitsbedingungengesetz ist aus seinem Schlaf erweckt worden und kann für andere Bereiche Regelungen schaffen. In dem Entsendegesetz haben wir viele einzelne Tarifbereiche und Arbeitsbereiche dazugenommen, und die Erfahrung in der damaligen Großen Koalition war, dass man jeden einzelnen Mindestlohn, der heute für eine Branche geregelt ist, dem damaligen Koalitionspartner der SPD aus der Nase ziehen musste. Stück für Stück ist das auch gelungen, aber es war ein hartes Stück Arbeit, wenn ich das im Nachhinein sagen darf.

(Beifall bei der SPD)

Es ist im Nachhinein etwas lustig, wenn jetzt vonseiten der Union in der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik gesagt wird, was wir damals gegen unseren Koalitionspartner durchgesetzt hätten, dass es wenigstens für wichtige Branchen Mindestlöhne geben soll, sei das ideale Modell, aber weiter könne man nicht gehen. Die Gleichen, die heute sagen, man könne nicht weitergehen, werden in ein paar Jahren sagen, genau das hätten sie auch schon immer gewollt, und am Ende der Geschichte wird ein Redebeitrag der FDP für Mindestlöhne als akzeptables Modell moderner Marktwirtschaften stehen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei den GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, einige von Ihnen sind durchaus noch jung genug, um sich auf diese Rede schon einmal vorbereiten zu können.

(Beifall bei der SPD)

Allerdings müssen Sie noch irgendeinen Zaubertrick finden, wie Sie als Partei bis dahin politisch überleben.

Unabhängig von dieser Frage müssen wir jetzt tun, was wir tun können, und deshalb liegt ein Gesetz vor und wird für die Beratungen zur Verfügung stehen, in dem wir das regeln können, was der Hamburger Staat selbst machen kann. Das wird nun debattiert, und es ist ein vernünftiges, gut ausgedachtes Gesetz, das die Perspektive hat, möglicherweise bald eine allgemeine Regelung für ganz Deutschland zu haben, die gewissermaßen manches aus diesem Gesetz überflüssig macht. Aber es macht keinen Sinn, darauf zu warten. Wir müssen jetzt den ersten Schritt gehen, weil es natürlich

jeden von uns – mich jedenfalls – peinlich berührt, wenn man erfährt, dass in der Stadt Hamburg der Staat selbst dort, wo er Verantwortung hat, und sei es auch nur eine abgeleitete, die Mitverantwortung dafür trägt, dass Löhne gezahlt werden, die unterhalb des hier skizzierten Mindestlohns von 8,50 Euro liegen. Natürlich kann man sagen, es seien nicht sehr viele Fälle, und deshalb sind die Summen, die wir zusätzlich aufwenden müssen, insgesamt nicht besonders hoch. Aber mich hat jeder einzelne dieser Fälle persönlich berührt und ich bin sehr froh, dass wir mit diesem Gesetz – auch wenn es nicht allzu viele sind – einer ganzen Reihe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die für diese Stadt in irgendeiner Weise tätig sind, ein besseres Einkommen ermöglichen und ihnen auch dabei helfen können, ein würdigeres und den Moralvorstellungen unserer Gesellschaft entsprechendes Leben zu führen, anders als bisher. Von daher ist ein solches Gesetz jetzt aktuell notwendig.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort bekommt nun Frau Heyenn.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Diese Diskussion geht nie ohne Ideologie ab, aber mit so viel Heuchelei wie heute habe ich sie bisher noch nicht erlebt.

(Jens-Peter Schwieger SPD: Von wem?)

Herr Schwieger, wenn Sie sich hier ans Rednerpult stellen und sagen, die Sozialdemokraten hätten Wort gehalten und machten den ersten Schritt, dann toppen Sie noch den Titel der Aktuellen Stunde. Von Wort gehalten kann wohl keine Rede sein.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Haben wir doch versprochen!)