Protocol of the Session on February 9, 2012

Zusammenfassend kann man sagen: Man merkt an den Antworten auf die Große Anfrage, dass der Senat viele gute Ziele angepeilt hat, und es wäre eine große Bereicherung für die Betroffenen, wenn diese in ihrem Sinne nun auch zeitnah umgesetzt würden. Wir sehen aber auf der anderen Seite – zu den zwei Punkten habe ich jetzt Einiges gesagt – auch noch ein bisschen Diskussionsbedarf. Von daher finden wir den Vorschlag, das Thema an den Sozialausschuss zu überweisen, gut und stimmen diesem Überweisungsbegehren gerne zu. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei Martina Kaes- bach FDP)

Frau Fegebank, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns wieder einmal einig, dass es bei dem Thema "Menschen mit Behinderung" um eines geht, das wir nur gemeinsam bewegen und voranbringen können. Die bisherigen Debattenbeiträge hatten diese Stoßrichtung und ich glaube, das wird auch für die folgenden gelten.

(Beifall bei Regina-Elisabeth Jäck SPD)

Ich bin auch sehr froh, dass diese Große Anfrage gestellt wurde, Frau Kaesbach, weil sie das Thema, das wir im Januar im Sozialausschuss besprochen haben, nämlich barrierefreies Rathaus, aber auch den Bericht der Beauftragten für die Menschen mit Behinderung weiter fortschreibt.

(Katharina Wolff)

Ich denke, das Themenfeld Inklusion wird ein richtiger Dauerbrenner werden. In einer der letzten Bürgerschaftssitzungen haben wir über Inklusion an Schulen gesprochen und wir werden über Inklusion in allen Bereichen der Bildung sprechen müssen. Frau Wolff hat das Thema Inklusion und barrierefreies Leben im Bereich der Mobilität in der gesamten Stadt angesprochen. Diese Themenbereiche zeigen, dass es sich hier nicht nur um etwas handelt, das in diesem Haus diskutiert wird, sondern um etwas, das wir jeweils in unseren Kreisen in die Stadt tragen müssen, weil es nicht um eine kleine Gruppe von Menschen geht, sondern um 150 000 Menschen, die dauerhaft von Behinderungen betroffen sind; Frau Kaesbach hat es dargestellt. Es sind 150 000 Menschen, die durch persönliche Krisen, durch körperliche und geistige Einschränkungen temporär eingeschränkt sind. Und damit sprechen wir dann tatsächlich über 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung.

Wenn es um Inklusion geht – ein Begriff, der in den Fachdebatten inzwischen einen relativ großen Stellenwert einnimmt durch die UN-Behindertenrechtskonvention, aber auch durch die im Jahr 2002 durch die damalige rot-grüne Bundesregierung auf den Weg gebrachte Änderung des Sozialgesetzbuchs IX –, dann müssen wir schon noch sehen, dass einiges auf den Weg gebracht wurde, aber gleichzeitig noch ganz viel vor uns liegt und wahnsinnig dicke Bretter zu bohren sind.

Das gilt für die unterschiedlichen Felder, die in der Großen Anfrage angesprochen wurden, das gilt aber auch für den gesamten Bildungsbereich und die Bereiche der Mobilität und Kultur. Sie haben den Sportbereich abgefragt, aber auch in den Bereichen des gesellschaftlichen Miteinanders und der Kultur sollte man dieses Themenfeld aufgreifen. Und es geht um die Frage der Haltung jedes Einzelnen von uns, Hürden im Kopf abzubauen zusätzlich zu den Hürden, die Menschen mit Behinderung, gerade mit körperlichen Einschränkungen, tagtäglich vorfinden.

Ich weiß nicht, ob Sie einmal jemanden begleitet haben, der im Rollstuhl sitzt, jemanden, der einen Rollator vor sich herschiebt und nicht in den Bus kommt, jemanden, der, wie Frau Wolff es beschrieben hat, U- und S-Bahn nutzen will und plötzlich, weil kein Fahrstuhl da ist, entweder die Fahrt abbrechen muss oder sich unangenehm durchhangeln und um Hilfe bitten muss. Haben Sie einmal jemanden begleitet, der blind ist oder gehörlos oder mit eingeschränkter geistiger Wahrnehmung durch die Stadt läuft? Wo man auch hinkommt, überall stößt man auf physische Barrieren und teilweise – und das ist meist noch sehr viel schlimmer – auf Barrieren, die sich in den Köpfen des Gegenübers befinden.

Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, diese dicken Bretter zu bohren und auch die Hürden in

den Köpfen in der gesamten Gesellschaft zu überwinden, damit wir in Hamburg eine plurale, heterogene und inklusive Gesellschaft bekommen und vielleicht bundesweit mit gutem Beispiel vorangehen können. Dazu bedarf es nicht nur der Debatte im Sozialausschuss, sondern auch des Bohrens ganz dicker Bretter, weil wir da nicht am Ende, sondern am Anfang eines Prozesses hin zu gleichberechtigter Teilhabe aller Menschen in dieser Gesellschaft stehen, den wir selbst immer wieder hinterfragen und neu gestalten müssen.

(Beifall bei Phyliss Demirel GAL)

Selbstbestimmt statt fremdbestimmt, das ist nicht nur die Maxime, an der sich grüne Politik orientiert; in dieser Maxime sind wir uns in diesem Haus auch einig.

(Dirk Kienscherf SPD: Das haben wir ja in den letzten drei Jahren gesehen!)

Nur so kann Teilhabe funktionieren und Menschen mit Behinderung können nur so ihre individuelle Wahlfreiheit ausüben.

Wir werden genau hinsehen, wie sich der Senat in den Fragen der weiter fortschreitenden Ambulantisierung und des Umgangs mit dem persönlichen Budget positioniert. Unsere Unterstützung haben Sie dabei, erste Schritte sind getan. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss. – Danke.

(Beifall bei der GAL und bei Martina Kaes- bach FDP)

Frau Özdemir, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Zahl der arbeitslosen Menschen mit Behinderung steigt und die Antworten auf die Große Anfrage verschleiern eher die tatsächlichen Verhältnisse. Deshalb möchte ich kurz ein paar Zahlen nennen. Es handelt sich dabei um die Zahlen der Arbeitsagentur zur Entwicklung von August 2010 bis August 2011: Die Anzahl der Arbeitslosen in Hamburg ist insgesamt um 2,2 Prozent gesunken, gleichzeitig ist aber die Anzahl der schwerbehinderten Arbeitslosen um 21,8 Prozent gestiegen. In die individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen des Konzepts "Unterstützte Beschäftigung" nach SGB IX sind im Jahr 2009 35, im Jahr 2010 39 und im Jahr 2011 45 Menschen eingestiegen, und bisher wurden über dieses Programm 23 Menschen in eine versicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt. Zum Vergleich nenne ich Ihnen die Anzahl der Personen, die in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen eingetreten sind: Das waren im Jahr 2009 359, im Jahr 2010 343 und im Jahr 2011 213 Menschen. Als Fazit bleibt festzuhalten: Die Chancen, auch Menschen mit ausgeprägten Einschränkun

(Katharina Fegebank)

gen für eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu qualifizieren, müssen mit Unterstützung der Betriebe noch erheblich stärker genutzt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Im gemeinsamen Arbeitsmarktprogramm von BASFI, Arbeitsagentur und Jobcenter hat die Personengruppe arbeitsloser Menschen mit Behinderung keine beziehungsweise wenig Erwähnung gefunden. Das war überraschend, weil vorher viele Vorschläge unterbreitet worden waren.

(Glocke)

(unterbre- chend) : Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich möchte die Abgeordneten bitten, sich entweder zu setzen und der Rednerin zuzuhören oder nach draußen zu gehen, auch die, lieber Herr Eisold, dort hinten an der Wand. Fahren Sie bitte fort.

Danke. – Angeblich ist das Thema extra ausgespart worden, weil es so komplex ist und weil der Landesaktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention noch in Arbeit ist. Wir warten also weiter gespannt auf den Landesaktionsplan, ohne dass den schwerbehinderten Menschen bisher geholfen wäre.

Die Antworten des Senats auf die Große Anfrage der FDP verschleiern dabei auch die Tatsache, dass es einen Mangel an geeigneten Arbeitsplätzen für langzeitarbeitslose schwerbehinderte Menschen in Hamburg gibt. Das liegt an dem allgemeinen Trend, möglichst viele Tätigkeitsbereiche von Behörden und Unternehmen auszugliedern, weil das kostengünstiger ist. Dabei handelt es sich häufig um solche Tätigkeitsbereiche, die für Schwerbehinderte geeignet wären. Die Firmen, die diese Aufträge übernehmen, haben kein Interesse an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen und deshalb ist auch ein Umdenken der Hamburger Wirtschaft dringend notwendig.

(Beifall bei der LINKEN und bei Phyliss De- mirel GAL)

Es müssen wieder Arbeitsplätze geschaffen werden, die auf das jeweilige Leistungsvermögen individuell zugeschnitten werden können. Zu einer vernünftigen Politik für Menschen mit Behinderung gehört natürlich auch eine deutliche Erhöhung der Ausgleichsabgabe.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Ausgleichsabgabe wird geleistet von privaten und öffentlichen Arbeitgebern mit mindestens 20 Arbeitsplätzen, die nicht wenigstens 5 Prozent dieser Plätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen, sondern lieber freiwillig zahlen. Für jeden nicht mit einem schwerbehinderten Menschen

besetzten Pflichtarbeitsplatz muss zwar seit Jahresanfang eine geringfügig erhöhte Ausgleichsabgabe gezahlt werden, aber hier hätte es in der Verantwortung des Senats gelegen, in Berlin darauf hinzuweisen, dass es noch viel zu billig für die Hamburger Wirtschaft gewesen ist, sich freizukaufen.

(Beifall bei der LINKEN)

Da die erhöhten Sätze außerdem erstmals zum 31. März 2013 zu zahlen sind, wenn die Ausgleichsabgabe für das Jahr 2012 fällig wird, wird dies in der aktuell schwierigen Lage gerade hier in Hamburg keinerlei Besserung für schwerbehinderte Menschen bringen.

Aber kommen wir zum Thema Ambulantisierung; auch meine Vorrednerinnen hatten dieses Thema angesprochen. Der Wechsel von stationären in ambulante Wohnformen ist ins Stocken geraten und ein besonderes Problem, das der Senat mit seinen entsprechenden Programmen noch nicht gelöst hat, ist dabei die Unterbringung von jungen, mehrfach schwerbehinderten Menschen gegen ihren Willen in Heimen. Hintergrund ist hier der Paragraf 13 des SGB XII. Der legt fest, dass im Bereich der Sozialhilfe kein Anspruch auf ambulante Versorgung im eigenen Wohnraum besteht, wenn das gegenüber einem Heimaufenthalt mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Aber genau das widerspricht der UN-Behindertenrechtskonvention und die ist mit ihrer Ratifizierung einfaches deutsches Bundesgesetz geworden. Dort heißt es nämlich in Artikel 19, in den Vertragsstaaten müsse gewährleistet sein – ich zitiere –:

"[…] dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben."

Dem liegt folgender Gedanke zugrunde: Das Recht auf Freizügigkeit und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft lässt sich nur verwirklichen, wenn Behinderte nicht nur die Freiheit, sondern auch die reale Möglichkeit haben zu wählen, wo und mit wem sie leben wollen oder können.

(Beifall bei der LINKEN)

Menschen mit Behinderung werden also auch in Hamburg nach wie vor aus finanziellen Gründen in ihren Rechten beschnitten. Ihnen wird die verbliebene Selbstbestimmung genommen. Und der Senat nutzt unserer Auffassung nach seinen bestehenden Handlungsspielraum nicht richtig aus.

(Beifall bei der LINKEN)

Entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention muss umgehend der Vorrang der ambulanten Leistungen auch in den Fällen umgesetzt werden, in denen ein größerer Hilfebedarf besteht. Ende

des letzten Jahres haben schwerbehinderte Menschen in Hamburg den "Hamburger Verbund selbstbestimmte Assistenz" gegründet. Als Betroffene fordern sie die Durchsetzung des Rechts auf persönliche Assistenz entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention. Sie fordern, dass alle behinderten Menschen die Hilfen erhalten, die sie für eine volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben brauchen. Dafür brauchen wir eine einheitliche Verwaltungspraxis und gleiche Richtlinien bei der Bewilligung.

Und wir brauchen natürlich Wohnungen. Laut einer von der IG-Bau und den Verbänden der Bau- und Immobilienwirtschaft in Auftrag gegebenen Studie werden in 15 Jahren rund 35 000 alten- beziehungsweise behindertengerechte Wohnungen benötigt. Und bei der zentralen Vermittlungsstelle von rollstuhlgerechtem Wohnraum in Hamburg beläuft sich die Wartezeit auf rund zwei Jahre. Rund 20 Prozent aller Hamburgerinnen und Hamburger sind über 65 Jahre alt, davon sind etwas über ein Viertel schwerbehindert. Und seit Jahren ist die Zahl der von Altersarmut Betroffenen steigend. Auch im vergangenen Jahr ist die Zahl der Transferleistungsempfänger im Rentenalter um rund 25 Prozent gestiegen. Währenddessen laufen die Sozialbindungen für Mietwohnungen weiterhin aus. Auch in dieser Frage drückt sich der Senat um die Antwort, weil bislang noch kein Erfolg erkennbar ist.

Meine Damen und Herren! Auch wir denken, dass es großen Bedarf gibt, über dieses Thema zu diskutieren, und deshalb stimmen wir der Überweisung an den Sozialausschuss zu.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn keine weiteren Wortmeldungen vorliegen, kommen wir zur Abstimmung.

Wer stimmt einer Überweisung der Drucksache 20/2339 an den Ausschuss für Soziales, Arbeit und Integration zu? – Gegenprobe. – Enthaltungen? – Dann ist das Überweisungsbegehren einstimmig angenommen.