Protocol of the Session on February 8, 2012

Viertens: Chantals Hilferufen und Beschwerden der Nachbarn über den Lärm des anderen Adoptivkindes wurde nicht ernsthaft nachgegangen.

Fünftens: Die Berichtsführung war nach Angabe der Jugendamtsleitung ungenügend, trotzdem hat man nichts unternommen. Ähnliche Fehler haben wir auch im Fall Lara Mia erlebt.

Unter Herrn Schreibers Verantwortung starben in den letzten Jahren drei Kinder im Bezirk HamburgMitte. Unter Schreiber und Kahrs wurde das Jugendhilfesystem in Hamburg-Mitte zu einem Gefahrengebiet für Kinder und Jugendliche. Auch das katastrophale Krisenmanagement des Herrn Schreiber ist unter aller Sau. Das alles ist mehr als fahrlässig, Schreiber muss umgehend zurücktreten, um einen Neubeginn möglich zu machen. Das Traurige ist, dass der Bürgermeister hier nur wegschaut.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Andreas Dres- sel SPD: Haben Sie schon Zeitung gele- sen?)

Ist das Ihr Verständnis, Herr Bürgermeister, von ordentlichem Regieren? Sie wollten Hamburg zur familien- und kinderfreundlichsten Stadt Deutschlands machen, stattdessen schauen Sie nur zu, wie Kinder und Jugendliche unter unerträglichen Bedingungen leben müssen. Ich möchte auf einige strukturelle Probleme, auch im Jugendhilfesystem, eingehen.

Erstens ist der ASD völlig überlastet. Hier hat es eine hohe Fluktuation bei den Mitarbeitern gegeben. Hilfreich wäre es, die betreuten Fallzahlen pro Mitarbeiter beim ASD einmal zu überdenken. Bei der Expertenanhörung hat Herr Professor Schrapper mit dem Beispiel NRW deutlich gemacht, dass die Fälle in Hamburg zu hoch sind; man müsste über eine Fallzahl zwischen 30 und 35 nachdenken. Es ist ein riesiger Markt für private Träger entstanden. Alleine in Hamburg-Mitte sind 250 freie Träger auf dem Markt. Hier wird deutlich, dass die Privatisierung der Jugendhilfe mit dazu geführt hat, dass die Konkurrenz unter den Trägern gestiegen ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Bereich der Pflegefamilien ist insgesamt unterfinanziert. Die Pflegefamilien müssen ordentlich unterstützt werden. Und welche Konsequenz zieht der Senat in diesem Fall? Er will von den Pflegefamilien ein Führungszeugnis und ein Gesundheitszeugnis sowie einen Drogentest für jedes Haus

(Katja Suding)

haltsmitglied ab dem 14. Lebensjahr. Diese Maßnahmen kommen bei Teilen der Bevölkerung vielleicht gut an. Wenn das Jugendamt konkret im Fall Chantal selbst geprüft hätte und die Prüfung nicht den freien Trägern überlassen hätte oder Hinweisen nachgegangen wäre, dann würde Chantal heute vielleicht noch leben. Zum Tode eines Kindes kann auch ein herumliegendes Herzmedikament des Opas führen. Die diskutierten Maßnahmen lenken vielmehr von den realen Problemen der Hamburgerinnen und Hamburger ab.

Meine Damen und Herren! Strukturelle Probleme der Jugendhilfe müssen im Fokus bleiben. Es wäre überlegenswert, ob man nicht eine Enquetekommission einsetzt, um fraktionsübergreifend gemeinsam zu einer Verbesserung zu kommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Expertenanhörung letzte Woche machte nochmals deutlich, dass der gesamte Jugendhilfebereich unter die Lupe genommen werden muss. Sonst dürfen wir uns nicht wundern, wenn in ferner Zukunft noch mehr Kinder sterben. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Abgeordneter, bitte behalten Sie bei weiteren Wortbeiträgen den parlamentarischen Sprachgebrauch im Auge. – Jetzt bekommt das Wort Herr Senator Scheele.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich habe im Vorwege darum gebeten, einige Minuten länger reden zu dürfen, damit der Senat hier einmal darstellen kann, was in den letzten drei Wochen passiert ist und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Ich bitte um Verständnis, werde das aber auch nicht überstrapazieren.

Am Abend des 16. Januar ist in Hamburg ein Kind gestorben. Das hat mich als Vater von drei Kindern, Bürger und Senator erschüttert, denn die elfjährige Chantal starb in der Obhut einer Pflegefamilie an einer Methadonvergiftung. Ihre Pflegeeltern waren substituiert und drogenabhängig und boten eben genau das nicht, was das Mädchen suchte: Schutz und Sicherheit und eine liebevolle Umgebung. Wir wissen, dass die räumlichen Gegebenheiten unzureichend waren, dass für die vier Kinder keine eigenen Betten vorhanden waren, dass Kampfhunde in der Wohnung lebten und dass der Pflegevater über ein beachtliches Register an aktenkundigen und schweren Vorstrafen verfügte. Überdies gab es mehrfach Hinweise an das Jugendamt Wilhelmsburg, aus denen hätte deutlich werden müssen, dass hier dringendes Eingreifen seitens des Staates notwendig gewesen wäre. Die sogenannte milieunahe Unterbringung war nicht Chance, sondern Falle, denn das Milieu war zwar nah, aber schädlich. Insofern haben wir

es hier in mehrfacher Hinsicht mit einem Skandal in der Jugendhilfe zu tun.

Zunächst versagten Personen – das wird man nie ganz ausschließen können – im Jugendamt und bei dem beauftragten freien Träger, weil sie zu dramatischen Fehlbeurteilungen kamen, und dann versagte das System im Jugendamt, weil es ganz offensichtlich über keine Sicherungs- und Warnvorkehrungen verfügte, die dann greifen, wenn Personen Fehler machen. Das muss sich ändern.

(Beifall bei der SPD)

Das muss sich nachhaltig ändern, denn der Staat trägt die abschließende Verantwortung für Kinder, deren Eltern die Erziehung ihrer Kinder abgenommen worden ist. Nicht der freie Träger trägt die Verantwortung, das tut der Staat. Deshalb hat der Senat zunächst umgehend gehandelt. Die Ermessensspielräume bei der Beurteilung von Straftaten, die in Führungszeugnissen vermerkt sind, sind bis auf Weiteres abgeschafft, es gibt sie nicht mehr. Im Zweifel wird für die Sicherheit des Kindes gegen die Pflegefamilie entschieden. Im Übrigen teile ich die inzwischen häufig geäußerten Zweifel an der Aussage von Führungszeugnissen. Wir brauchen mehr Transparenz in die Vergangenheit hinein. Ab sofort müssen alle Pflegeeltern und alle im gleichen Haushalt lebenden Personen ab 14 Jahren ein Gesundheitszeugnis mit Drogentest vorlegen. Wäre das geschehen, hätte Chantal nicht sterben müssen.

Außerdem habe ich verfügt, dass alle Akten von Pflegefamilien überprüft werden, ob sich darin Hinweise auf Kriminalität oder Drogensucht finden lassen. Die Bezirke machen das derzeit mit Hochdruck, am kommenden Mittwoch soll die Aktenprüfung abgeschlossen sein und wir werden darüber informieren.

Die Bezirksaufsicht der Finanzbehörde hat die Innenrevision beauftragt, die Vorgänge um den Tod von Chantal lückenlos aufzuklären. Die Innenrevision ist ein externer Dritter mit allen Durchgriffsbefugnissen und deutlich wirksamer als ein richtiger Externer, weil der nicht auf Personal durchgreifen kann. Der Allgemeine Soziale Dienst in Wilhelmsburg ist die geprüfte Instanz; er wirkt nur als Auskunftsperson mit, nicht jedoch als Aufklärer in eigener Sache. Außerdem habe ich gestern mit Herrn Senator Tschentscher den Auftrag der Innenrevision erweitert. Es wird im Jugendamt Wilhelmsburg eine gesonderte Organisationsuntersuchung stattfinden, die die Ordnungsmäßigkeit der Arbeit dort genauestens prüft.

(Beifall bei der SPD)

Meine Behörde habe ich angewiesen, die bestehenden Regelungen für das Pflegeelternwesen zu überarbeiten. Die Arbeitshilfen sowohl für die Auswahl als auch für die Begleitung von Pflegeeltern werden überarbeitet und durch eine verbindliche

(Mehmet Yildiz)

Fachanweisung ersetzt. Die Begleitung der Pflegefamilien muss in den Blick genommen werden. Hier erreichen uns auch aus Anlass dieses Falles sehr ernste Beschwerden von Pflegefamilien, die Hilfe gebraucht und möglicherweise nicht bekommen haben. Ich bitte bei der derzeitigen Diskussion nicht zu vergessen, dass in Pflegefamilien hervorragende Arbeit geleistet wird. Wir setzen, genauso wie der Vorgängersenat es getan hat, auf Pflegefamilien, denn unter den Aspekten Kindeswohl und Wirksamkeit der Hilfe gebührt den Pflegefamilien Vorrang vor stationärer Heimunterbringung.

Was muss nun in die Zukunft gerichtet passieren? Erlauben Sie mir eine grundsätzliche Vorbemerkung. Jugendhilfepolitik und die Steuerung der Jugendhilfepolitik ändert man nicht im Wochenrhythmus. Ich habe daher an die Reformbemühungen des Vorgängersenats zu Beginn dieser Legislaturperiode angeknüpft, denn die Grundrichtung der bisher eingeleiteten Schritte ist richtig und sie bedarf der Fortführung. Das betrifft die Neuausrichtung und Stärkung des Allgemeinen Sozialen Dienstes, die Erarbeitung der Fachanweisung und des dazugehörigen Anlagenbandes mit konkreten Prozessbeschreibungen, und das betrifft auch die EDV-Unterstützung unter workflow-orientierten Gesichtspunkten. Das will ich hier ausdrücklich sagen und betonen.

In den vergangenen Jahren wurden die Allgemeinen Sozialen Dienste in den Bezirken ausgebaut und gestärkt. Allein von 2006 bis 2011 wurden knapp 70 neue Stellen geschaffen und der ASD ist in allen Bezirksämtern als Schonbereich von der Personalkonsolidierung ausgenommen. Darüber hinaus können 25 Prozent der Mittel für sozialräumliche Angebote ebenfalls in Personal investiert werden. Wir haben zum 1. Januar 2012 die Vergütung von E 9 nach E 10 angehoben, um die schon mehrfach beklagte Fluktuation, die zu Qualitätsverlusten führt, zu begrenzen. Darüber hinaus sind zwischen 2005 und 2011 die Ausgaben für Hilfen zur Erziehung um mehr als 100 Millionen Euro gestiegen. Ressourcen sind offensichtlich in ausreichendem Umfang vorhanden, das ist nicht das vorderste Problem. Wir haben ein Problem bei der Qualität und der Wirksamkeit von Hilfen, und die erkennbar bereits jetzt fehlerhaften Abläufe sind Ausdruck von teilweise eklatantem Führungsversagen in der Jugendhilfe.

(Beifall bei der SPD und bei Carl-Edgar Jar- chow FDP)

Diese Diagnose wird untermauert, weil wir wissen, dass die Qualitäten der Arbeit in den Allgemeinen Sozialen Diensten in Hamburg ganz unterschiedlich sind. Mit der Fachanweisung 2009 und den dazugehörigen Hinweisen liegen umfangreiche Regelungen für die Aufgabenwahrnehmung vor. Diese müssen aber von den Führungskräften für alle Mitarbeiter handhabbar gemacht werden. Einige All

gemeine Soziale Dienste nutzen diese fachlichen Instrumente geradezu vorbildlich und engagierte Leitungskräfte nutzen die Impulse der Neuausrichtung und entwickeln innovative Konzepte für die Arbeit. In anderen Abteilungen sind wir noch lange nicht so weit, das hat uns der tragische Tod von Chantal gezeigt.

Deshalb muss das System gestärkt und standardisiert werden, denn das System und seine verbindlichen Regeln und Abläufe muss eine Risikovorsorge vor persönlichen Fehlentscheidungen bilden. Üblicherweise erreicht man diese Risikovorsorge durch ein Qualitätsmanagementsystem, dass einmal zertifiziert und dann jährlich auditiert wird. Das ist der Standard, auch in Einrichtungen mit sozialpolitischem Auftrag, und ein solches System wird einheitlich in allen Jugendämtern Hamburgs jetzt eingeführt.

(Beifall bei der SPD)

Typische Qualitätsmanagementfragen sind zum Beispiel, wie sich die Führungskraft davon überzeugt, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach den etablierten Prozessen und Vorschriften arbeiten. Das ist in diesem Fall nämlich nicht geschehen. Ist das richtige Besprechungssystem durch die Führungskräfte eingerichtet? Wird Kundenanliegen und Beschwerden nachgegangen? Sind die Prozesse der Zusammenarbeit mit externen und internen Stellen so organisiert, dass sie jeder richtig durchführt? Ein Qualitätsmanagementsystem, das einmal eingerichtet ist, schafft für alle Beteiligten Entlastung und bietet Sicherheit und Klarheit. Außerdem, das gehört dazu, brauchen wir ein Risikomanagementsystem, das besonders gefährdete Fälle nach einheitlichen Kriterien bewertet und sichtbar macht. Das System muss sicherstellen, dass in diesen als besonders bedrohlich geltenden Fällen die Mitarbeiter mit besonderer Sorgfalt und höherer Dichtheit kontrollieren, und der Staat muss in solchen Fällen dichter dran sein als freie Träger.

(Beifall bei der SPD)

Wenn ich von kontrollieren spreche, dann meine ich kontrollieren. Ich meine damit, unangemeldet hinzugehen, das Kind zu sehen und den Maßstab einer ordentlichen Familie anzulegen.

(Beifall bei der SPD)

Dann möchte ich ein kontinuierliches Revisionssystem einführen, das verhindert, dass ähnliche Sichtweisen sich immer wieder selbst bestätigen. Deshalb wird es in Hamburg eine Jugendhilfeinspektion geben, die unabhängig und mit ähnlichen Rechten wie der Rechnungshof ausgestattet ohne Vorankündigung Akten und Prozesse prüfen kann.

(Beifall bei der SPD)

Der immerwährend mögliche externe Blick muss etablierte Routinen, die das möglich machen, was

(Senator Detlef Scheele)

passiert ist, erschüttern. Über all diese Punkte habe ich gestern mit den Bezirksamtsleitern Einvernehmen erzielt, denn die Jugendhilfe in Hamburg ist eine bezirkliche Aufgabe. Die Spitzen der Häuser haben gestern in einem persönlichen Gespräch zugesagt, diese Schlussfolgerungen umzusetzen und damit ihrer Führungsverantwortung, die man braucht, um solche Managementsysteme einzuführen, auch gerecht zu werden.

(Olaf Ohlsen CDU: Auch in Mitte!)

Sie tragen die abschließende Verantwortung für die Einführung und Pflege dieser Systeme, denn das ist kein von der Fachbehörde aufoktroyierter Prozess. Wir sehen alle gemeinsam die Notwendigkeit der deutlichen Verbesserung und des externen Blicks. Zur Umsetzung wird es eine Steuerungsgruppe unter Leitung meines Staatsrates geben, in der alle sieben Bezirksamtsleiter über die Fortschritte der Umsetzung in ihrem Verantwortungsbereich berichten und zusammenarbeiten. In diese Steuerungsgruppe werden wir auch externen Sachverstand einbeziehen. Audits und Inspektionen haben in der deutschen Jugendhilfe keine Tradition. Sie gehören in anderen Ländern, beispielsweise in Großbritannien, zum Standard, und ich möchte sie auch in Hamburg zum Standard machen.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin mir sicher, mit meinen Vorschlägen nicht nur Lob, sondern auch ein gutes Maß an Skepsis zu bekommen, aber den Kritikern möchte ich sagen, dass sich die Jugendhilfe bei der eigenen fachlichen Weiterentwicklung nicht durch ritualisiert vorgetragene Einwände im Weg stehen sollte.

Auf die Tagesordnung der Politik gehören aber noch zwei weitere Punkte, die ich zum Abschluss kurz ansprechen möchte. Ich bin mit meiner Kollegin Prüfer-Storcks einig, dass die substituierenden Ärzte in der Suchthilfe enger und systematischer mit der Jugendhilfe kooperieren müssen, und das dürfen sie auch nach dem neuen Bundeskinderschutzgesetz. In Hamburg sollen künftig alle substituierenden Ärzte an die Jugendhilfe melden, wenn Kinder im Haushalt ihrer Patienten leben. Die Verhandlung über einen Rahmen für dieses Vorgehen hat die Gesundheitsbehörde mit der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer aufgenommen, damit wir möglichst schnell zu Potte kommen.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens kommt es darauf an, die Rolle, die Aufgabe und die Kontrolle der freien Träger sowie deren innere Qualitätssicherung zu bewerten. Ich erwarte, dass nach einer kurzen Übergangszeit alle von der Stadt Hamburg beauftragten in der Jugendhilfe tätigen Träger ihre Qualitätssicherung ebenso zertifizieren lassen, wie das künftig die Jugendämter