Protocol of the Session on November 23, 2011

Warum die Taten der Zwickauer Zelle so lange nicht aufgeklärt wurden, muss jetzt mit aller Härte und ungeachtet des Ansehens einzelner Institutionen aufgeklärt werden. Wir sind es den Opfern schuldig, schnell ein vollständiges Bild zusammenzutragen und dann auch Konsequenzen zu ziehen. Neue einheitliche Regeln für den Einsatz von VLeuten und die Umstrukturierung des Verfassungsschutzes können nur erste Reaktionen auf die Debatte sein. So wichtig diese Antworten sind, weil sie Defizite auf Vollzugsebene in den Blick nehmen, so wenig dürfen sie den Blick auf die Ursachen verstellen.

Ich möchte an dieser Stelle keine neue Debatte zum Thema NHH eröffnen und weise gerade dem neuen Senator hier keine besondere Schuld zu. Aber trotzdem möchte ich eines grundsätzlich anmerken: Die Steuerungsmöglichkeit der Bürgerschaft ist in den doppischen Bereichen dieses Einzelplans in besonderer Form nicht mehr gewährleistet. Die enthaltenen Kennzahlen und sonstigen Informationen haben sich in den Ausschussberatungen als weitgehend unbrauchbar für die Wahrnehmung des Budgetrechts erwiesen. In diesem Einzelplan besteht für die nächsten Haushalte ganz besonderer Handlungsbedarf. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Frau Schneider, Sie haben das Wort.

Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin! Die Debatte über den Haushalt der Innenbehörde findet unter dem Eindruck der Aufhellung einer schrecklichen von Neonazis verübten Mordserie statt, der auch in Hamburg ein Mensch zum Opfer fiel. Sie findet unter dem Eindruck statt, dass sich ein Graben durch die Gesellschaft zieht, der erst noch zugeschüttet werden muss. Ein Teil dieser Gesellschaft ist durch den Neonazi-Terror bedroht worden; potenziell jeder in dieser Gruppe hat sich auch bedroht gefühlt und das ist von Migrantinnen und Migranten auch oft thematisiert worden. Der andere Teil der Gesellschaft war nicht bedroht und hat die Angst der potenziell Bedrohten nicht wahr- oder nicht ernst genommen, zumindest nicht im Zusammenhang dieser furchtbaren Mordserie. Sie haben gestern gute Worte gefunden, Frau Präsidentin – leider sind Sie jetzt nicht da –, um der Scham, dass diese Mordserie auf diese Weise hat stattfinden können, Ausdruck zu verleihen.

Mit dem Auffliegen der mörderischen Gruppierung aus Thüringen ist die Gefahr neonazistischer Gewalt nicht gebannt. Erstens muss das Netzwerk, das die Morde ermöglichte, völlig aufgedeckt und zerschlagen werden.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD und der GAL)

Zweitens sind seit dem 3. Oktober 1990 – wie von Journalistinnen und Journalisten der "Zeit" und des "Tagesspiegels" gut dokumentiert – mehr als 140 Menschen in Deutschland neonazistischer Gewalt zum Opfer gefallen. Die Bundesregierung will nur von knapp über 50 Fällen etwas wissen. Sie muss endlich aufhören, die Gefahr neonazistischer Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten, Obdachlose, Menschen mit Behinderungen, Punks oder jugendliche Antifas zu verharmlosen.

(Beifall bei der LINKEN und der GAL)

Die Debatte des Haushalts der Innenbehörde findet naturgemäß vor allem unter dem Eindruck des geradezu unfassbaren Versagens der Sicherheitsbehörden statt. Wir werden uns im Innenausschuss damit auseinanderzusetzen haben, warum die Ermittlungsbehörden auch in Hamburg einen neonazistischen, rassistischen Hintergrund der Mordserie beziehungsweise des Mordes an dem Hamburger Gemüsehändler Süleyman Tasköprü nicht ernsthaft in Erwägung gezogen haben. Die Aufklärung dieses Versagens sind wir der Öffentlichkeit, sind wir den Opfern und ihren Angehörigen schuldig.

(Beifall bei der LINKEN und der GAL)

Wir müssen uns mit der Rolle der Verfassungsschutzbehörden auseinandersetzen, und zwar nicht nur im Innenausschuss. Die Verfassungsschutzämter haben im Kampf gegen den Neonazismus und die extreme Rechte nicht nur versagt, sie haben sich im Gegenteil als Teil des Problems erwiesen.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der GAL)

Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden, auch in Hamburg. Der sogenannte Hamburger Vorschlag zum Verbot der NPD soll – Sie sagten es, Herr Innensenator – in der nächsten Innenministerkonferenz in Wiesbaden Grundlage der Beratungen sein. Unsere Fraktion fordert bekanntlich seit Langem ein Verbot der NPD. Der Hamburger Vorschlag löst jedoch das zentrale Problem gerade nicht, weil er die Frage der V-Leute nicht löst. Wir lesen, dass aktuell noch mehr V-Leute im extrem rechten Milieu unterwegs sind als zuzeiten des gescheiterten NPD-Verbotsverfahrens. Wir haben mit mehreren Anträgen in der letzten Legislaturperiode gefordert – und wir standen anders als heute allein damit –, dass die V-Leute abgeschaltet werden müssen,

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der GAL)

und zwar nicht nur, weil sie ein Verbotshindernis sind, sondern weil diese Leute vom Staat gekaufte Spitzel und bezahlte Täter sind. Wir halten es für schwer erträglich, dass das Landesamt für Verfassungsschutz über das V-Leute-System Geld in unbekannter, aber bestimmt nicht niedriger Höhe an V-Leute ausschüttet, das – wie inzwischen jeder wissen kann – zu erheblichen Teilen in den Aufbau oder die Aufrechterhaltung von Nazistrukturen fließt und damit in die Aufhetzung von jungen Leuten, die für extrem rechtes Gedankengut empfänglich sind.

(Arno Münster SPD: Das stimmt doch so nicht, Frau Schneider!)

Wir fordern, dass das System der V-Leute des Verfassungsschutzes offengelegt wird und dass mit diesem System Schluss gemacht wird.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der GAL)

Die V-Leute müssen abgeschaltet werden. Sie tragen zur Bekämpfung des Neonazismus nichts bei, sondern schaffen zusätzliche Probleme. Unser Antrag, den im Ländervergleich ohnehin sehr überdimensionierten Haushalt des Landesamtes für Verfassungsschutz in einem ersten Schritt um 2 Millionen Euro abzusenken, ist gemessen an den Ereignissen eigentlich noch viel zu vorsichtig.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bekämpfung des Neonazismus und der von ihm ausgehenden Gefahren ist sträflich vernachlässigt worden.

(Andy Grote SPD: Wer soll die denn be- kämpfen?)

Dazu komme ich noch.

Der Verfassungsschutz, auf den die meisten von Ihnen fest vertraut haben, leistet keinen irgendwie wichtigen Beitrag dazu. Das hat die Mordserie bewiesen. Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2000 zum Beispiel ist der Rechtsterrorismus thematisiert worden. Aber welche Schlussfolgerungen sind daraus gezogen worden? Buchstäblich keine.

(Christoph Ahlhaus CDU: Sie instrumentali- sieren die Opfer für Ihre Ideologie, das ist widerlich! – Zurufe von der CDU)

Das muss ich mir nicht gefallen lassen, dass er sagt, ich wüsste, was Spitzeldienste sind. Das muss ich mir von Ihnen nicht gefallen lassen.

(Glocke)

(unterbre- chend) : Herr Warnholz!

(Zuruf von Karl-Heinz Warnholz CDU)

Herr Warnholz, Ruhe jetzt!

Diese Mordserie wurde in der Naziszene mit dem widerwärtigen Lied vom Döner-Killer offen gefeiert, in dem es heißt: Neun sind nicht genug. Hat das dazu geführt, dass die Sicherheitsbehörden Schlussfolgerungen gezogen haben? Das Lied wurde indiziert. Aber hat es den Verfassungsschutz alarmiert, die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft in diese Richtung zu lenken? Offensichtlich nicht. Ein Hauptproblem ist, dass staatlicherseits die Gefahren von rechts permanent und systematisch unterschätzt, sogar kleingeredet wurden, auch hier in Hamburg.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen deshalb kein Amt, das Gefahren nicht erkennt und das sich übrigens weigert mitzuteilen, wie viele seiner Ressourcen es auf den Schwerpunkt Rechtsextremismus verwendet, wahrscheinlich weil die Missachtung der Gefahr dann jedem ins Auge springen würde. Wir brauchen vielmehr eine unabhängige Beobachtungsstelle, die die verschiedenen Informationen und Erkenntnisse über die Entwicklung der extremen Rechten sammelt, sie unter gesellschaftspolitischen Gesichtspunkten zusammenfasst und bewertet und die Entwicklung von Gegenstrategien unterstützt. Eine solche unabhängige Beobachtungsstelle brauchen wir auf Bundesebene und das haben im Bundestag interessanterweise alle

Fraktionen von CDU bis damals PDS 2001 angeregt, ein Beschluss, der jedoch nicht umgesetzt wurde. Aber wir brauchen eine solche Beobachtungsstelle auch auf Landesebene und das wird ein Zukunftsprojekt unserer Fraktion sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Leider schlug der Berliner Krisengipfel einen ganz anderen Weg ein, nämlich den Weg neuer Datenbanken und der Aufweichung des Trennungsgebots von Polizei und Geheimdiensten.

(Andy Grote SPD: Wo haben Sie denn Ihre Informationen herbekommen?)

Sie, Herr Innensenator, fordern mit anderen lautstark die Vorratsdatenspeicherung, also den weiteren Abbau von Grundrechten. Dieser Weg ist für uns inakzeptabel, weil er bedeutet, blind hochzurüsten statt klug umzusteuern.

(Beifall bei der LINKEN)

Die angesprochenen Maßnahmen beruhen auf einer falschen Analyse. Die Sicherheitsbehörden haben nicht versagt, weil ihnen Kompetenzen, Vernetzung oder Dateien fehlten. Es gibt zum Beispiel seit Anfang der Neunzigerjahre eine Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer, terroristischer und insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte. Und was hat sie beobachtet und bekämpft? Nichts ist bekannt. Die Sicherheitsbehörden haben versagt, weil der Terror von rechts in ihrer Vorstellungswelt und in ihren Ermittlungen eben keine Rolle gespielt hat. Was nutzt denn ein Zentralregister, wenn Verfassungsschutz und Polizei rechtsextreme Straftaten gar nicht als solche erkennen? Der Kampf gegen rechts kann nur demokratisch und nur durch die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Engagements gewonnen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun hat die SPD einen Antrag vorgelegt "Hamburg 2020: Dem Rechtsextremismus wird wirksam entgegengetreten", der als Aufgabe angibt – ich zitiere –:

"[…] den in den vergangenen Jahren nicht sehr engagiert verfolgten Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus wieder mehr Gewicht zu verleihen."

Nur leider erfüllt der Antrag das gar nicht. In der ersten Fassung waren Anforderungen an ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus formuliert, aber kein Geld in Aussicht gestellt. In der Neufassung sollen Zuschüsse für das Bundesprogramm um 10 000 Euro für 2012 erhöht werden, also 833,33 Euro im Monat. Dieses Geld ist dafür wenig und das wollen Sie ausgerechnet bei den Flüchtlingen wegkürzen, für die jeder Cent an Hilfe und Beratung zählt,

(Beifall bei der LINKEN – Jan Quast SPD: Sie haben das doch jetzt von Herrn Münster und mir gehört! Das ist Polemik!)

bei einer Menschengruppe, die in den letzten Jahrzehnten immer wieder Ziel rassistischer Ausschreitungen beziehungsweise Übergriffe wurde. Diese Kürzungen halte ich allein schon – und ich unterstelle, dass Sie das nicht bedacht haben –

(Dr. Andreas Dressel SPD: Das Geld ist trotzdem da!)

wegen ihres Symbolgehalts und der damit verbundenen Botschaft für unerträglich.