Protocol of the Session on June 2, 2010

Wir von der LINKEN begrüßen das, meinen aber auch, dass hier zwei Dinge zusammenkommen. Erstens hatte Hamburg einen großen Nachholbedarf. Die GEW hat die ganzen Jahre über immer wieder darauf hingewiesen, dass 1 000 Lehrer an den Hamburger Schulen fehlen. Zweitens kann das Schulwesen nur verbessert werden mit strukturellen, pädagogischen und zusätzlichen finanziellen Mitteln. Deshalb war dieser Schritt überfällig und nur konsequent. Ihn als vorbildlich oder historisch zu bezeichnen, das halten wir für ein bisschen hoch gegriffen, Herr Kerstan.

Gar nicht verstehen können wir allerdings die Diskussion, die zurzeit in der Stadt geführt wird. Es war die Initiative "Wir wollen lernen!", die noch vor Monaten propagierte, es könnte bei der vierjährigen Grundschule bleiben, wenn nur die Klassen

(Ties Rabe)

frequenzen in den Hamburger Schulen gesenkt würden; das allein würde schon eine bessere Schule ausmachen. Heute sagen die Gleichen, dass die Kosten für zusätzliche Klassenräume und 970 Lehrer nicht zu vertreten seien und dass das Geld lieber woanders investiert werden sollte, wozu sie Vorschläge machen würden. Was haben sie denn geglaubt, welche Auswirkungen kleine Klassen von nunmehr maximal 23 beziehungsweise 19 Kindern haben? Haben sie geglaubt, es gäbe einen selbst organisierten Freiluftunterricht oder was haben die sich vorgestellt, als sie die Forderung nach kleinen Klassen gestellt haben?

Für meine Fraktion kann ich nur sagen, dass wir froh sind, hier in der Bürgerschaft im Konsens mit allen Fraktionen – ich betone, mit allen – das Büchergeld abgeschafft und kleinere Klassen durchgesetzt zu haben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand das wieder rückgängig machen will, egal, wie der Volksentscheid ausgeht.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der SPD und der GAL)

Das Wort bekommt Senatorin Goetsch.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit, in der wünschen allein nicht mehr hilft. An dieser Einsicht kommt niemand vorbei, der sich mit der Haushaltssituation in unserer Stadt befasst, und es geht uns nicht nur in Hamburg so. Ich konnte letzte Woche auf der Kultusministerkonferenz feststellen, dass dies natürlich ein großes Thema in allen Bundesländern ist und dass sich inzwischen die Kultusministerkonferenz in verschiedene Gruppen aufspaltet. Die erste Gruppe von Bundesländern rückt inzwischen offen vom 10-Prozent-Ziel ab. Die zweite Gruppe fängt an, rhetorische Pirouetten zu drehen, um das nicht ganz offen sagen zu müssen. Dann gibt es eine dritte Gruppe, die hält klar am 10-Prozent-Ziel fest und ist grundsätzlich gegen Einsparungen bei der Bildung, um dieses Ziel möglichst zu erreichen. Dann gibt es noch eine vierte Gruppe, die sagt, sie fahre ihre Ausgaben für die Bildung massiv nach oben und diese vierte Gruppe besteht alleine aus dem Bundesland Hamburg.

So ist die Situation. Es wird zwar immer wieder gerne im Kontext der Schulreform davon gesprochen, dass Hamburg einen Sonderweg diskutiert. Wenn man sich die Strukturen ansieht, dann gibt es Länder, die über Gelenkklassen reden, dann gibt es Länder, die über kooperative Realschule plus reden, und es gibt Länder, die über Y-Modelle reden, und es ist dann Aufgabe der Eltern, sich eine Schneise durch dieses Dickicht zu schlagen. Ich glaube, in Hamburg halten wir uns an eine

Grundregel, die Schulpolitik leiten sollte, nämlich von den Familien und Kindern auszugehen, das heißt, überschaubar in der Struktur, aber anspruchsvoll im Inhalt.

(Beifall bei der CDU und der GAL und bei Michael Neumann SPD)

Das ist der Weg längeres gemeinsames Lernen in der Primarschule, dann die Stadtteilschule und das Gymnasium, also zwei Wege bis zum höchsten Bildungsabschluss. Das ist kein Sonderweg, sondern ein besonders guter Weg, wenn man von den Kindern und Familien aus denkt. Es ist höchste Zeit, dass ein Bundesland den Anfang macht und diesen besonders guten Weg beschreitet.

(Beifall bei Christiane Blömeke GAL)

Es ist bereits mehrfach gesagt worden, dass es dieses nicht umsonst gibt, sondern dass in Bildung investiert werden muss. Wir müssen uns natürlich auch fragen lassen, warum wir diesen besonderen Weg gehen. Da gibt es ein sehr schönes Wort des ehemaligen Präsidenten der Harvard-Universität, Derek Bok, der sagt, Zitat:

"Wer der Meinung ist, Bildung sei teuer, der versuche es doch mal mit Unwissenheit."

Wenn wir uns es weiter leisten, nicht mehr Spitzenleistungen zu fördern und uns nicht davon verabschieden, die Hauptstadt der Bildungsungerechtigkeit zu bleiben, dann bedeutet das auch für unseren Standort Hamburg Fachkräftemangel, steigende Armut, sinkende Wettbewerbsfähigkeit und natürlich auch weniger Steuereinnahmen.

Auch ich bin sehr dankbar dafür, dass wir ein solch breites Bündnis hinbekommen haben, dass es diesen Konsens bei den Fraktionen in der Bürgerschaft gibt, dass aber auch außerhalb unseres Parlaments die Unternehmen, die Sozialverbände, die Gewerkschaften, die Handwerkskammer und viele andere Institutionen, die sich um das Gemeinwohl der Stadt Gedanken machen, für diese Schulreform stimmen. Selbst wenn wir aufgrund der Haushaltssituation eines Tages hier im Rathaus jede zweite Glühlampe herausschrauben müssten, um Geld zu sparen, würden wir immer noch Geld für eine bessere Bildung unserer Kinder ausgeben.

Deshalb noch einmal zu der inhaltlichen Frage, zu den Strukturen: Wir wissen ganz genau, dass längeres gemeinsames Lernen alleine, also die Strukturveränderung, noch nicht zu besserem Unterricht führt und wir deshalb immer wieder gleichzeitig an die Qualität und die Gerechtigkeit denken müssen und das gibt es nicht umsonst. Die 74 Millionen Euro Betriebsmittel für die kleineren Klassen, für mehr Lehrer und verbesserte Unterrichtsbedingungen, die letztendlich 970 Lehrerstellen beinhalten, sind genannt worden. Die Lehrerausstattung und die Sprachförderung werden in al

(Dora Heyenn)

len drei Schulformen verbessert. Auch die Einführung, also die konzeptionelle Arbeit der Kollegen, wird unterstützt und – was auch sehr wichtig ist – es werden mehr Gymnasiallehrer in den nächsten Jahren ausgebildet, über 450 Lehrerinnen und Lehrer mehr, um entsprechend gut ausgebildete junge Leute einstellen zu können.

Herr Rabe, Sie haben den wichtigen Punkt Qualitätssicherung genannt. Wir werden in der Schulinspektion die Intervalle verkürzen, wir werden die sogenannten failing schools sofort bearbeiten und es wird für alle möglichen qualitativen Unterrichtsverbesserungen Geld ausgegeben. Das ist sinnvoll und nicht zuletzt wird das Büchergeld wieder abgeschafft.

Ich will noch einmal auf die Baukosten kommen, die eben von Ihnen, Frau Heyenn, angesprochen wurden. Natürlich ist völlig klar, dass bei kleineren Klassen mehr Kosten entstehen, aber dieser Zubaubedarf wird mehrere Jahre erfordern. Man muss auch mit der Wahrhaftigkeit der Aussagen umgehen, die zum Beispiel die Reformgegner immer versuchen, uns weiszumachen. Sie sagen – Zitat –:

"Bessere Bildung und kleinere Klassen ohne teure Primarschulbauten."

Das ist ihr Hauptargument, aber dieses Argument hält einer sachlichen Überprüfung nicht stand. Hier werden die Kosten für das Ganztagsschulprogramm, die Einrichtung neuer Fachräume, neuer Sporthallen, zusätzlicher Unterrichtsräume für die kleineren Klassen addiert, aber damit nicht genug: Auch das Geld für den Sanierungsbedarf und für den Neubau wird noch locker dazugerechnet.

Meine Damen und Herren! Das kann nicht angehen. Wer nicht baut, bekommt eben auch keine kleineren Klassen. Insofern ist die mangelnde Wahrhaftigkeit das, was mich an dieser Polemik ärgert. Man glaubt fast, die Hamburgerinnen würden über Ziegel und Mörtel abstimmen und nicht über die Zukunft unserer Kinder. Das ist weiß Gott nicht der Fall und deshalb sollte man sich da absolut dagegenstellen.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Vor Kurzem fiel mir ein Beitrag der "stern"-Redakteurin Nikola Sellmair für die Zeitschrift "Menschen. das Magazin" in die Hände. Er trägt den Titel: "Zwei Kinder. Zwei Welten" und porträtiert die beiden Grundschulkinder Gregor aus Othmarschen und Monique aus dem Phoenix-Viertel. Am Beispiel dieser beiden schildert der Artikel, wie unterschiedlich die Lebenswirklichkeit von gleichaltrigen Kindern in unserer Stadt sein kann. Weil ich diesen Artikel so beeindruckend finde, möchte ich zum Schluss meiner Rede mit freundlicher Genehmigung der Autorin zitieren:

Sie kennt kein einziges Gymnasium in der Nähe mit Namen. Aber sie will sich anstrengen und später Tierärztin oder Lehrerin werden. Zwei Kinder möchte sie und irgendwo im Grünen leben, 'wo die Luft frischer ist'. Vielleicht wird Monique wirklich als erste in ihrer Familie das Abitur machen. Womöglich wird sie tatsächlich studieren. Sie hätte dann den alten Traum vom sozialen Aufstieg wahr gemacht: Du kannst es schaffen, wenn Du Dich nur anstrengst. Doch die Statistik spricht dagegen. Die Pisa-Studie zeigt: Kein anderes Bildungssystem benachteiligt die Benachteiligten und bevorzugt die Bevorzugten so stark wie das deutsche. Heute mehr denn je gilt: Du wirst, was Deine Eltern sind. Das ist vielleicht das Erschreckenste an den unterschiedlichen Welten von Gregor und Monique. Denn Ungleichheit wird erst dann richtig ungerecht, wenn der Aufstieg fast unmöglich ist, sagen Sozialphilosophen.

Zitatende.

Meine Damen und Herren! Am Anfang meiner Rede sagte ich, dass wir in einer Zeit leben, in der sich etwas wünschen allein nicht mehr hilft. Mit Blick auf ein Kind wie Monique aus dem Phoenix-Viertel füge ich hinzu, dass wir auch nicht länger die vielen Kinder ohne Chancen lassen dürfen, denen bisher allein das Wünschen hilft. Wir wünschen uns nicht nur eine bessere Bildung für alle Kinder unserer Stadt, wir sorgen jetzt gemeinsam dafür, dass die Kinder sie auch endlich bekommen. – Danke.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Das Wort bekommt Frau Heitmann.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Mein Kollege Kerstan hat schon von den Reformen von Friedrich dem II. erzählt, Frau Heyenn hat Johannes Rau zitiert

(Michael Neumann SPD: Das ist immer gut!)

und ich möchte, auch wenn das vielleicht für eine Grüne etwas ungewöhnlich ist,

(Michael Neumann SPD: Horst Köhler zi- tiert!)

mit einem Verweis auf Bernhard Vogel einsteigen. Bernhard Vogel hat in "Der Zeit" in der letzten Woche einen Nachruf auf den hessischen Bildungspolitiker Ludwig von Friedeburg geschrieben. Vogel beklagt in seinem Nachruf die Mutlosigkeit moderner Bildungspolitiker. Ich möchte zwei Zitate aus diesem Artikel vorlesen:

"Sein Tod […] mahnt uns, seine zentrale politische Fragestellung […] nicht zu vergessen: Wie muss ein Bildungssystem beschaf

(Senatorin Christa Goetsch)

fen sein, damit jedes Kind gleiche Chancen zur Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten hat?"

Später heißt es in dem Artikel:

"Wo streiten sich Kultus- oder Bildungsminister heute heftig und öffentlich um diese Frage? […] Wo sind die Friedeburgs von heute?"

Meine Damen und Herren! Vogel hat recht mit seiner Analyse, dass es in den letzten Jahren und Jahrzehnten viele halbherzige Reformen in der Bundesrepublik gab. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir in Hamburg zeigen können, dass es auch anders geht. Wir machen deutlich, dass es auch heute mutige Diskussionen und Reformen gibt. Anders als die Modellprojekte und Reförmchen in anderen Bundesländern bemühen wir uns gerade um eine grundlegende Reform des Schulsystems und ich bin froh, dass wir das parteiübergreifend tun. Wir haben damit etwas geschafft, was sich viele Menschen immer wünschen, nämlich statt Parteienstreit, der sich gegenseitig blockiert – so kommt es häufig in der Öffentlichkeit an –, streiten wir mit Einigkeit, um eine richtige Sache voranzubringen.

(Beifall bei der GAL und der CDU und ver- einzelt bei der SPD)

Es geht bei diesem Volksentscheid nicht darum, welche Partei gewinnt oder verliert, sondern wir gewinnen oder verlieren alle gemeinsam. Dabei sieht uns ganz Deutschland zu. Wir müssen zum Vorreiter werden und wir können auch zum Vorreiter werden.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Dabei gilt es aber – und das merken Sie wahrscheinlich genauso wie ich dieser Tage auf der Straße –, vielen Bedenken, die bei solch einer Reform auftreten, konsequent und sachlich zu begegnen, denn so sehr Reformen vom Bürger immer wieder angemahnt werden, wecken sie doch grundlegende Veränderungen, Zweifel und Ängste. Das Festhalten an Bewährtem und Bekannten erscheint häufig viel einfacher. Im Hinblick auf die Bildungsreform gehe ich deshalb auf einige zentrale Ängste noch einmal ein.

Der Wechsel von heute vier Jahren gemeinsamen Lernens in der Grundschule mit drei oder mehr Schulformen im Anschluss hin zur sechsjährigen Primarschule mit nur zwei Wegen im Anschluss, die beide zum Abitur führen, lässt viele zweifeln, ob das Niveau des Unterrichts nicht insgesamt sinkt, ob ihr Kind unterfordert ist, ob es früh genug eine Förderung bekommen kann, die seinen Interessen entspricht, ob es in wenigen Jahren nicht vielleicht zur nächsten Umwälzung der Schullandschaft kommt und ob Hamburg hier nicht einen Sonderweg geht. All diese Zweifel sind verständlich und werden in der Öffentlichkeit leider auch im

mer wieder bewusst geschürt, aber sie sind unbegründet. Die "Hamburger Morgenpost" hat am Montag erfreulicherweise all diese Argumente noch einmal in präziser Weise widerlegt. Hamburg schlägt mit dieser Reform einen Weg ein, der sich in fast allen europäischen Ländern bereits bewährt hat und dort seit langem Standard ist. Und die Erfahrungen zeigen, dass von dem längeren gemeinsamen Lernen sowohl starke als auch schwache Schüler profitieren können.

Wir geben den Schulen mit unserer parteiübergreifenden Vereinbarung die Sicherheit, dass sich die neue Schulstruktur mindestens zehn Jahre in Ruhe entwickeln kann. Im Zusammenhang mit der Debatte um die Schulreform weise ich noch einmal darauf hin, dass die Ursachen für viele schlechte Schulkarrieren heute auch darin zu suchen sind, dass Schüler das Gefühl des Versagthabens erleben, wenn nämlich ein Kind bereits nach der vierten Klasse eine Hauptschulempfehlung und damit das Gefühl bekommt, Verlierer in dieser Gesellschaft zu sein oder wenn Kinder sitzen bleiben, weil sie scheinbar den Anforderungen ihrer Altersgenossen nicht genügen.

Mit solchen Maßnahmen wird Kindern früh der Spaß am Lernen genommen. Wir wollen deshalb in Hamburg neue Wege gehen und solche Erlebnisse in Zukunft vermeiden.