Protocol of the Session on October 7, 2009

(Michael Neumann SPD: Mich macht die Rede fassungslos!)

Wir hätten vor einer Weile nicht gedacht, dass wir diesen großen Schritt hin zu einem gerechteren und leistungsstärkeren Schulsystem zusammen mit der CDU gehen können. Wir wussten, dass wir harten Widerstand aus den Ecken bekommen würden, wo er jetzt auch herkommt und wo man viel

(Andrea Rugbarth)

Überzeugungsarbeit leisten muss, aus dem Bereich der Handelskammer und der Wirtschaftsverbände. Was wir uns aber nicht hätten träumen lassen,

(Michael Neumann SPD: Jetzt fängt er noch an zu weinen!)

wenn es darum geht, mehr Gerechtigkeit in diesem Schulsystem zu schaffen und auch Kindern aus sozial benachteiligten Familien oder mit Migrationshintergrund bessere Chancen zu verschaffen,

(Michael Neumann SPD: Schwarz-Grün hat vielen die Augen geöffnet!)

dass die Sozialdemokratie Schulter an Schulter mit Handelskammer und Wirtschaftsverbänden erbittert mit Zähnen und Klauen gegen dieses gerechtere Schulsystem kämpft. Das hätten wir uns wirklich nicht träumen lassen. Aber all Ihre Argumente heute, die Sie zu Beispielrechnungen, zu fehlender Ausbildung und Ähnlichem angeführt haben, haben keine Antwort darauf gegeben, warum Sie eigentlich, obwohl Sie für längeres gemeinsames Lernen sind, gegen diesen Schulentwurf sprechen wollen. Diese Antwort sind Sie schuldig geblieben.

(Beifall bei der GAL und der CDU)

Es empört mich regelrecht, Herr Rabe, dass Sie das bestehende Schulsystem mit dem jetzigen Elternwahlrecht so darstellen, als ob es die soziale Integration unterstütze.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Da haben Sie überhaupt nicht zugehört!)

Das ist doch das Argument von Herrn Rabe, der gesagt hat, in Wilhelmsburg und in anderen Stadtteilen führe das jetzige Schulsystem dazu, dass viele Kinder in diesen Stadtteilen auf Gymnasien gehen, obwohl sie keine Gymnasialempfehlung haben. Das erweckt den Eindruck, als ob das Schulsystem, so wie es jetzt ist,

(Ingo Egloff SPD: Das zeigt doch nur, dass die Eltern ihre Chancen wahrnehmen!)

nicht diese soziale Teilung aufweist, bei der die Herkunft der Eltern das entscheidende Kriterium dafür ist, wer Chancen auf Bildungserfolg in dieser Stadt hat.

(Zuruf von Ties Rabe SPD)

Ich möchte Ihnen einmal an zwei Beispielen darstellen, wie die Realität in diesem Lande bisher wirklich war, Herr Rabe.

Unser Parteivorsitzender Cem Özdemir war im Bundestagswahlkampf hier in Hamburg und hat über seine Schulzeit gesprochen. Am Ende der Grundschule wurden die Schüler gefragt, auf welche Schule sie denn gehen wollen. Da wurde gefragt, wer geht auf die Hauptschule? Da hat er sich nicht gemeldet, weil er dachte, ich will Erfolg haben. Da wurde gefragt, wer will auf die Real

schule? Da hat er sich auch nicht gemeldet und er war nur eines von zwei Kindern in dieser Klasse, das einen Migrationshintergrund hatte. Und dann wurde gefragt, wer geht aufs Gymnasium? Da hat er sich gemeldet und wissen Sie, was passiert ist? Da hat der Lehrer gelacht und die erste Reihe in der Klasse hat auch gelacht und wie eine Welle ging das weiter vor. Cem Özdemir hat gesagt, es gibt Momente im Leben, die vergisst man nicht. Die Botschaft ist angekommen: Du mit deinem Elternhaus wirst in dieser Gesellschaft keinen Erfolg haben.

(Ties Rabe SPD: Deshalb muss man für das Elternwahlrecht sein!)

Das ist in der Struktur dieses Schulsystems begründet. Dieses Beispiel hat mich sehr betroffen gemacht, auch deshalb, weil ich meine eigene Geschichte ganz gut kenne.

(Zurufe von der SPD)

Ich selbst hatte auch keine Gymnasialempfehlung. Aber als Kind, das im Bergedorfer Villenviertel aufgewachsen ist mit einem Vater, der geschäftsführender Gesellschafter einer Reedereigruppe war, war es vollkommen klar, dass, egal was Grundschullehrer empfehlen, ich aufs Gymnasium gehen würde. So ist unser Schulsystem aufgebaut und das ist der Grund, dass wir im Vergleich der Industriestaaten ein Schulsystem haben, in dem die soziale Herkunft der Eltern den entscheidenden Einfluss ausübt auf den Bildungserfolg von Kindern in dieser Stadt.

(Michael Neumann SPD: Da gibt es doch überhaut keinen Widerspruch!)

Schlimm genug, dass wir diesen Zustand jahrelang geduldet haben. Endlich sind wir bereit, diesen Schritt zu gehen, und wir werden ihn gehen, auch wenn Sie Sozialdemokraten heute entgegen all Ihren Überzeugungen gegen dieses Gesetz stimmen werden.

(Beifall bei der GAL, der CDU und vereinzelt bei der LINKEN)

Ich möchte zu den Sozialdemokraten auch jetzt nicht viel mehr sagen, das ist ein weiteres Trauerspiel der Demontage der eigenen Glaubwürdigkeit, aber ich möchte etwas zu den Eltern sagen, deren begründete Sorge um die Zukunft ihrer Kinder auch wirklich Antworten verlangen. Da muss man eines sagen, glauben Sie nicht unseren Worten, achten Sie auf unsere Taten. Schauen Sie sich an, was wir getan haben, als wir gesagt haben, wir nehmen die Sorgen der Eltern ernst.

Zum Beispiel hatten wir im Koalitionsvertrag vorgesehen, dass die jetzige Jahrgangsstufe 3 in die Primarschule wechseln wird. In den regionalen Schulentwicklungskonferenzen hat es sehr viel Kritik daran gegeben. Viele Eltern haben ihre Sorge darüber geäußert, dass ihre Kinder dort zwischen

Baum und Borke landen werden, und wir haben das geändert. Die jetzige Jahrgangsstufe 3 wird nicht als Jahrgangsstufe 5 in der Primarschule starten, sondern wird weiterhin in der jetzigen Gliederung vorangehen können.

(Michael Neumann SPD: Dann frag' doch einmal die jetzigen Eltern, die werden die gleiche Antwort geben!)

Daran zeigt sich doch deutlich, dass wir es sehr ernst nehmen und berechtigte Kritik auch aufgreifen. Sie werden in ganz Deutschland keinen Prozess wie die Regionalen Schulentwicklungskonferenzen finden, wo mit den Beteiligten, den Eltern, den Schulleitungen und den Lehrern, diskutiert wird und das, was dort erarbeitet wurde, ernst genommen wird. 70 Prozent der Empfehlungen der Regionalen Schulentwicklungskonferenzen sind von der Behörde komplett übernommen worden. Bei 25 Prozent ist eine Variante von mehreren übernommen worden, die diese Konferenzen selbst erarbeitet haben, und nur in 5 Prozent dieser Fälle hat die Behörde eine andere Entscheidung getroffen. Das zeigt sehr deutlich, dass dies keine Reform ist, die von oben durchgesetzt wird, sondern dass die Eltern und die Vorschläge ernst genommen werden. So werden wir auch den weiteren Prozess dieser Reform vorantreiben und letztendlich unserem Ziel einer gerechteren, aber auch leistungsstärkeren Schule einen großen Schritt näherkommen. Das ist eine gute Botschaft für die Kinder in dieser Stadt und ich würde mir wünschen, dass Sie, wenn Sie es wirklich ernst meinen und mitarbeiten wollen, diese Fundamentalopposition aufgeben, die Ihnen überhaupt nichts nützen wird, sondern Ihnen schadet und auch der Debatte in dieser Stadt schadet. Lassen Sie uns gemeinsam wie bisher an guten Reformen und an weiteren Schritten arbeiten zum Wohle der Kinder und der Qualität der Bildung an unseren Schulen. – Vielen Dank.

(Beifall bei der GAL und der CDU – Michael Neumann SPD: Da muss man sich die Trä- nen trocknen!)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Dr. Bischoff.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kerstan, Sie haben uns Einblick gegeben in Ihre Träume vom letzten Jahr anlässlich der Debatte über die Regierungserklärung. Sie sagten, Sie hätten sich wirklich nicht träumen lassen, dass dieser zentrale Baustein der schwarz-grünen Koalition in dieser Stadt und dieser Gesellschaft so viel Konflikte und Dissens produziert.

(Jens Kerstan GAL: Das habe ich nicht ge- sagt!)

So habe ich Sie verstanden.

(Jens Kerstan GAL: Dann haben Sie mich falsch verstanden!)

Zunächst einmal ist es richtig, dass diese Reform nicht unter dem großen Etikett Schulfrieden abläuft, wie es der Bürgermeister damals, wenn ich richtig gehört habe, noch gesagt hat. Wir hatten schon häufiger den Streit und wenn Sie sich ein bisschen Gefühl für Fairness bewahrt hätten, dann würden Sie hier nicht auf irgendjemanden zeigen und sagen, da sitzt der Brandstifter für den Konflikt. Das ist viel komplizierter. Hier sind noch einmal Argumente vorgebracht worden. Und wenn wir mit dieser Reform wirklich dahin kommen wollen, dass wir wieder ein bisschen runterfahren und uns in Richtung auf einen Schulfrieden bewegen, dann ist es nicht mit der Entscheidung heute getan, sondern dann geht es um die Frage, was passiert danach.

(Beifall bei der LINKEN und bei Dr. Martin Schäfer SPD)

Dazu müssen wir alle – ich sehe das auch als Aufgabe der Linksfraktion – unseren Beitrag leisten.

Herr Rabe hat vorhin zu Recht gesagt, gute Schule brauche Konsens. Das Problem ist nur, Herr Rabe, dass wir keine gute Schule haben. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, um es einmal drastisch auszudrücken. Das war immer unser zentrales Argument, Frau Heyenn hat es vorgetragen. Den gegenwärtigen Zustand fortschreiben zu wollen, geht nicht.

(Ingo Egloff SPD: Das ist Konsens!)

Das ist für uns bei dieser ganzen Debatte die Grundüberlegung.

(Beifall bei der LINKEN und vereinzelt bei der GAL)

Die spannende und politisch entscheidende Frage ist, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir können nicht einfach warten, bis eine bessere politische Konstellation kommt. Frau Goetsch hat noch einmal eine Reihe von Argumenten angeführt, wie man aus dieser Sackgasse herauskommt: erstens Abschaffung der Hauptschule, zweitens Abschaffung des Sitzenbleibens, Recht auf Förderung auch in der Regelschule, UN-Konvention, drei neue Schulformen, kleinere Klassen und Einstieg in eine individuelle Lernkultur. Das sind die aus meiner Sicht wichtigen Argumente, die jetzt auf den Tisch gelegt worden sind.

(Zuruf von Ties Rabe SPD)

Ich diskutiere hier nicht die Schulform. Wir stehen mit dem Rücken zur Wand, das sind die wichtigsten Argumente.

Dann muss ich mir den Verweis auf einen führenden Mitarbeiter einer Unternehmensberatung an

(Jens Kerstan)

hören, der gesagt hat, habt nicht solche Angst, ihr könnt ruhig einen großen Schritt machen. Wenn wir genau hingucken, dann ist der Schritt aus der Sackgasse heraus nicht sehr groß. Aber das hilft uns in der Situation jetzt nicht weiter. Wir würden sicher etwas anderes wollen, andere Schritte, Frau Rugbarth, und das wären Schritte in Richtung einer Schule für alle. Da müssten wir auch lange Übergangszeiten kalkulieren, aber wir hätten von vornherein vielleicht ein Ziel, das uns wirklich aus der Sackgasse herausführen würde. Das erreichen wir jetzt politisch nicht.

Herr Rabe, ich möchte noch etwas zu Ihren Argumenten und denen Ihrer Fraktion anmerken. Sie haben gesagt, dass die vorliegenden Argumente Sie nicht überzeugten, weil diese Reform mehr zerstöre als heile. Wenn ich in meinem Bild bleibe, treten wir im Grunde auf der Stelle und kommen aus der Sackgasse nicht heraus.

Erstens führen Sie das Argument an, die Spaltung werde verstärkt. Diese Befürchtung teilen wir. Wir sind da nicht sicher, aber das hängt auch davon ab, wie wir diese Reform begleiten und ob das in den nächsten Auseinandersetzungen wirklich ernst genommen wird. Die Gefahr ist da und Frau Heyenn hat es schon gesagt, die Gefahr ist auch deshalb da, weil wir zum Schluss noch Änderungsanträge von der CDU-Fraktion gesehen haben, die uns die Zustimmung zu diesem Konzept wirklich nicht leichter machen.