Protocol of the Session on November 9, 2005

Der lange Schatten der Geschichte holt Sie immer wieder ein, das ist wohl wahr.

(Dr. Till Steffen GAL: Sie haben lange geschlafen!)

Geschlafen hat hier wohl jemand ganz anderes.

Fakt ist auch, dass durch die ViereinhalbjährigenUntersuchung in den Schulen ein ganz wichtiger Meilenstein für die Kinder in unserer Stadt gelegt wurde. Die Überprüfung der geistigen, körperlichen und sprachlichen Entwicklung ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt. Da haben Sie zu Anfang auch ein bisschen rumgenörgelt, aber nun haben Sie festgestellt, dass es doch eine gute Sache ist. Aber nichtsdestotrotz ist es halt so wie es ist: Unsere Erfolge wollen Sie nicht wahrhaben und ansonsten hört man von Ihnen hauptsächlich Genörgel.

Wir planen zurzeit eine Untersuchung der Dreijährigen im Zusammenhang mit den Kindertagesstätten und Kindergärten, wenn sie sich dort anmelden; auch das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Unterschied zwischen Ihren und unseren Planungen besteht darin, dass es nicht nur Ankündigungen sind wie zu Ihrer Zeit, sondern dass auch etwas folgt.

(Beifall bei der CDU)

Die Ankündigungssenatoren kamen von Ihrer Seite. Bei uns folgen den Ankündigungen Taten; das ist ein ganz deutlicher Unterschied.

(Beifall bei der CDU)

2004 sind auch Handlungsempfehlungen für die Mitarbeiter, ist der Leitfaden für Hausbesuche erlassen worden. Das sind ganz wichtige Sachen zur Verwaltungsverbesserung und zum Ablauf der verschiedenen Handlungen. Verbessert wird auch die Zusammenarbeit zwischen Kita und Jugendamt. Das wischen Sie natürlich alles irgendwo vom Tisch, aber nichtsdestotrotz ist es ein ganz wichtiger Bereich, den ich noch einmal ausdrücklich unterstreichen möchte. Weiterhin ist geplant, durch die Verbesserung des Datenerfassungssystems PROJUGA die so genannte Elternakte einzuführen und ich nenne den Modellversuch "Baby im Bezirk".

Unsere Bürgermeisterin wird weiterhin viel anschieben. Sie hat schon viel angeschoben, sie ist auf dem richtigen Weg und hat unser uneingeschränktes Vertrauen.

(Beifall bei der CDU – Doris Mandel SPD: Sie schieben und schieben, aber Sie kommen nie an!)

Ich möchte ein paar Worte zur Glaubwürdigkeit sagen. Herr Kienscherf hat erzählt, was ihm so alles nicht gefalle und wie traurig er das alles finde. Was die Zusammenarbeit mit Ihrer Fraktion anbetrifft, ist es aber so, dass, wenn es gerade passt, irgendwie versucht wird, etwas gemeinsam zu machen, wenn sich aber die Möglichkeit für eine kleine Schlagzeile ergibt, alles Schnee von gestern ist.

(Beifall bei der CDU)

Zum Schreiben Ihrer Erklärung von vor rund sechs Monaten – das waren wohl ein paar weniger – über die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Senats: Die SPD hat ein interfraktionelles Prüfungsersuchen vorgelegt, der Senat solle prüfen, ob die freiwillige Gesundheitsuntersuchung für Kinder verbindlich vorgeschrieben werden könne. Jetzt geben Sie als inoffizielle Begründung bekannt: Der Senat dulde keine interfraktionellen Anträge. Als ich das gelesen habe, habe ich mich sehr gewundert. Ich weiß nicht, ob Sie immer bei den Debatten oder Anträgen, die wir hier beschließen, dabei sind. Aber ich habe bei der Schnelldurchsicht 19 interfraktionelle Anträge gefunden! Unter anderem haben wir – das haben Sie selber gesagt – den Sonderausschuss interfraktionell eingereicht. Beim letzten Mal haben wir uns interfraktionell über Kinderlärm unterhalten. Das ist also alles nicht sehr glaubwürdig, was Sie hier vorgetragen haben.

(Beifall bei der CDU)

Was die U 1- bis U 9-Untersuchung der Kinder angeht, sind wir Ihrer Meinung; insofern verstehe ich auch das ganze Theater nicht.

(Dirk Kienscherf SPD: Und warum unterstützen Sie das dann nicht?)

Wir wollen auch mehr Verbindlichkeit. Das Ziel ist klar, das Anliegen ist erkannt, wir wollen im Prinzip das Gleiche. Ich verweise noch einmal auf die Senatsmitteilung zum Schulzwang, Bürgerschaftsdrucksache 18/1962, dass der Senat dies bereits seit geraumer Zeit prüft. Sie brauchen nicht den Eindruck zu erwecken, Sie müssten irgendwie den Senat zum Arbeiten antreiben, sondern der Senat arbeitet fortlaufend.

Problematisch an dem Antrag ist, so gut wir ihn finden – aber es wäre auch unehrlich, dies zu verschweigen und dann einen interfraktionellen Antrag zu machen, wenn es Probleme gibt –, die Verpflichtung zu den U 1- bis U 9Untersuchungen. Dies ist ein bundesweites Thema und betrifft auch die Kassenselbstverwaltung. Insofern haben wir keine landesrechtliche Kompetenz, diesen Punkt einfach ad hoc zu regeln. Da stehen wir durchaus auf Ihrer Seite, aber es gibt auch keinen Zusammenhang, der hundertprozentig besagt, dass es einen positiven Nachweis zwischen den U-Untersuchungen und der Kindeswohlgefährdung gibt. Auch das müssen wir noch einmal genauer problematisieren.

Der Antrag ist in der Tat – ich will das noch einmal unterstreichen – eine vernünftige Sache; insofern überweisen wir ihn auch gerne. Das heißt nicht, dass wir ihn irgendwo im Ausschuss verscharren wollen,

(Dirk Kienscherf SPD: Warum dann nicht in den Sonderausschuss?)

sondern wir wollen konstruktiv daran mitarbeiten und wenn es Probleme gibt, dann ist der Ausschuss genau das richtige Gremium dafür. Es stellt sich die Frage, an welchen Ausschuss wir das Ganze überweisen wollen. Am sachgerechtesten, am dichtesten am Thema ist der Gesundheitsausschuss. Natürlich ist klar, dass dies auch den Bereich Kinder, Jugend und Familie betrifft, deswegen auch eine Überweisung an den Kinder-, Jugend- und Familienausschuss. Nun stellen Sie die Frage, warum nicht an den Sonderausschuss. Der Sonderausschuss ist, wie der Name schon sagt, ein Sonderausschuss. Wir haben vereinbart, dass wir den Sonderausschuss zum Ende des Jahres beenden wollen. Wenn wir jetzt wieder Überweisungen tätigen, macht das keinen Sinn. Insofern überweisen wir es an den Ausschuss, der dafür am geeignetesten ist.

(Michael Neumann SPD: Einfach beschließen!)

Beschließen können wir es deshalb nicht, weil es noch Probleme in der Umsetzung gibt; deshalb muss die Arbeit in den Ausschüssen erfolgen und keine Schnellschüsse im Parlament.

(Beifall bei der CDU – Michael Neumann SPD: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Langsam ärgern mich Ihre Halbwahrheiten, die Sie hier verbreiten. Es ist immer wieder die gleiche Methode, die Sie anwenden. Zum einen beschäftigen Sie die Verwaltung mit relativ nutzlosen Anfragen, um Datenfriedhöfe zu erarbeiten, deren Sinn Sie selber nicht erfassen, und dann wird das Ganze mit Statistiken, Daten, eigenen Aussagen, Bewertungen und so weiter noch einmal zusammengekocht und fertig ist die SPD-Presseerklärung. So können wir nicht miteinander umgehen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU)

Als nächstes hat der Abgeordnete Sarrazin das Wort.

Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Abgeordnete Karen Koop, Abgeordnete der CDU-Fraktion und stellvertretende Fraktionsvorsitzende, hat im ersten Redebeitrag an diesem Tag gesagt, sie möchte sich mit dem Thema "Vernachlässigte Kinder" nicht in der Aktuellen Stunde auseinander setzen, sondern unter diesem Debattenpunkt. Ich möchte Sie fragen: Wo ist Karen Koop?

(Beifall bei der GAL)

Trinkt sie gerade einen Tee oder einen Kaffee oder hat sie gerade einen Plausch oder will sie uns hier für doof verkaufen. So komme ich mir gerade vor. Ich möchte mit ihr gerne darüber diskutieren.

(Vereinzelter Beifall bei der GAL – Dr. Andreas Mattner CDU: Das verstehen noch nicht einmal Ih- re eigenen Leute! – Glocke)

Herr Abgeordneter, darf ich Sie kurz unterbrechen?

Meine Damen und Herren hinten an den Wänden und auch die Herren links von mir. Es ist eine unheimliche Unruhe. Ich möchte Sie bitten, wenn Sie etwas zu besprechen haben, dass dann draußen weiter zu führen. – Vielen Dank.

Danke, Frau Präsidentin.

Die Regierungsfraktion erhört den Ruf der Opposition. Wenn das doch öfter so wäre. Danke, Frau Koop.

Herr von Frankenberg, Sie haben gesagt, den Zusammenhang zwischen den verbindlichen U-Untersuchungen und den vernachlässigten oder misshandelten Kindern sähen Sie nicht. Dabei wissen wir alle, dass gerade die Kinder, die unter Vernachlässigung oder Misshandlung leiden, meistens nicht von ihren Eltern zu den freiwilligen Angeboten mitgenommen werden, weil diese Eltern kein Interesse daran haben, dass diese Vernachlässigungen und Misshandlungen festgestellt werden. Wenn Sie hier diesen ganz deutlichen, einfach verstehbaren Zusammenhang nicht sehen wollen, so frage ich mich, ob Sie denn glauben, U 1 bis U 9 seien irgendwelche U-BahnStationen in der HafenCity, wo das Planetarium, über das gerade geredet wird, stehen soll. Ich glaube, U 1 bis U 9 heißt für Sie schlichtweg unterirdisch und Ihre Rede war eher U 9 als U 1, nämlich ganz weit unten.

Aber ich möchte nicht zu sehr polemisieren, weil das Thema es eigentlich nicht verdient. Ich ärgere mich nur gerade ein bisschen über die Atmosphäre, die hier herrscht, nachdem das Planetarium anscheinend bei der Regierungsfraktion das wichtigste Thema am heutigen Tag war und die vernachlässigten Kinder kein Interesse mehr hervorrufen.

Wir diskutieren heute das Versagen von Menschen und Familien. Wir diskutieren, was wir dagegen tun können und auch dagegen tun müssen, damit in Zukunft keine Kinder mehr unter Vernachlässigung leiden. Dieses Versagen – das möchte ich ganz klar sagen – ist ein Versagen der Gesellschaft, nicht nur der Politik, aber auch der Politik, nicht nur einzelner Parteien, es ist zunächst ein Versagen der Gesellschaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, uns alle in diesem Hause ist in den Sitzungen des Sonderausschusses wahrscheinlich am Deutlichsten geworden, dass wir hier und heute das Versagen von Politik diskutieren; das haben uns die bekannten Fälle vor Augen geführt. Die politisch geschaffenen Strukturen in dieser Stadt sind nicht hinreichend, um die Kleinsten auch nur vor dem allergrößten Leid zu bewahren. Deswegen sind wir alle, aber auch Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDUFraktion, aufgefordert, diese Strukturen zu verändern. Wir müssen zielsicher, schnell, aber auch schlagkräftig und hinreichend reagieren.

(Klaus-Peter Hesse CDU: Der erste Schritt, Herr Sarrazin!)

Herr Hesse, der Senat hat eine Drucksache vorgelegt. Sie sagen, damit reagierten Sie. Ich möchte Ihnen heute nachweisen, dass Ihre zuständige Senatorin, Frau Schnieber-Jastram, und ihre Behörde diese Aufgabe weder schnell genug noch zielsicher, aber vor allem nicht hinreichend angeht.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Für uns, Frau Senatorin, war die Arbeit des Sonderausschusses sehr aufschlussreich. Der Sonderausschuss hat deutlich gezeigt, dass in Hamburg beim Kinderschutz sehr viel im Argen liegt. Die Allgemeinen Sozialen Dienste sind unterbesetzt, die Behörden sind schlecht vernetzt, es fehlt ein verbindlicher Umgang mit Anzeichen von Kindeswohlgefährdung. Das alles sind fehlende Ma

schen, sodass man in Hamburg wohl kaum von einem Netzwerk Kindeswohl reden kann, sondern viel eher von einem Stückwerk Kindeswohl reden muss – leider.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

In Hamburg gibt es beim Schutz vor Kindeswohlgefährdung große strukturelle Defizite. Die Arbeit des Sonderausschusses hingegen war erkenntnisreich. Es wurden viele Vorschläge von Experten und Betroffenen gemacht und diese Vorschläge haben auch enthalten, wo und wie etwas besser zu machen ist. Deswegen sagen wir als Grüne, als Ergebnis des Sonderausschusses ist es notwendig, umfassende strukturelle Verbesserungen und Veränderungen vorzunehmen. Aus diesem Stückwerk Kindeswohl muss ein Netzwerk Kindeswohl gemacht werden und dazu bedarf es politischer Handlungen. Diese politischen Handlungen – jetzt komme ich zurück zu Herrn Hesse – fallen zu einem wesentlichen Teil in die direkte politische Regelungskompetenz sowohl des Parlaments als auch der Regierung. Wir machen deswegen Vorschläge.

Der Fall in Wilhelmsburg letzte Woche, der so sehr an die schrecklichen Umstände, unter denen Jessica gestorben ist, erinnert, zeigt uns, dass wir in Hamburg mit den vorhandenen Maßnahmen nicht in der Lage sind, Kinder effektiv vor Vernachlässigung und Misshandlung zu bewahren. Wenn Problemlagen und das, was in Familien passiert, in den Behörden bekannt sind, aber gleichzeitig die Behörden nicht in der Lage sind, rechtzeitig dagegen einzugreifen, dann ist es Aufgabe der Senatorin, strukturell dafür zu sorgen, dass zukünftig besorgniserregende Informationen, auf die mit behördlichem Handeln reagiert werden muss, im Rahmen eines professionellen CaseManagements nicht nur aufbewahrt, sondern auch stets an die geeigneten Stellen weitergegeben werden.

(Klaus-Peter Hesse CDU: Da sind wir ja zusam- men!)