Protocol of the Session on June 8, 2005

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Europa steht vor neuen Herausforderungen. Nachdem der Deutsche Bundestag und der Bundesrat mit einer breiten Mehrheit dem EU-Verfassungsvertrag zugestimmt haben, haben unsere Partner in den Nachbarstaaten Frankreich und den Niederlanden eine Ratifizierung in den letzten Tagen abgelehnt.

Getreu dem alten Sprichwort

"Wo Licht ist, ist auch Schatten",

verwundert es nicht, dass das schwierige und komplexe Unterfangen, für das Haus Europa eine gemeinsame Verfassung zu schaffen, auch erste Rückschläge verkraften muss. Diese Ablehnung wirft den Prozess eines gemeinsamen Verfassungsvertrages zurück. Von einem Ende jedoch kann keine Rede sein.

Die europäische Einigung ist eine Geschichte krisenhafter Entwicklungen, die schließlich erfolgreich überwunden wurden. Die große Aufregung über die Zukunft der EU ist nachvollziehbar, jedoch unbegründet.

Aus deutscher Sicht erscheint in diesen Tagen die Feststellung, dass in unserem Lande eine parteiübergreifende Einigkeit die Bemühungen um die Zustimmung zu diesem wichtigen Verfassungswerk vorangetrieben hat, als außerordentlich wichtig. Diesem Bestreben liegen die Erkenntnisse um die wichtigen Errungenschaften und Chancen einer zukünftigen EU-Verfassung zugrunde: mehr Transparenz, mehr Rechte für die nationalen Parlamente, eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union, mehr außenpolitisches Gewicht der EU.

Nicht zu verkennen ist die besondere Bedeutung, die gerade eine gemeinsame Europäische Verfassung und die damit einhergehende Schaffung gemeinsamer Rechte und Werte für Hamburg hat. Hamburg profitiert von seiner wirtschaftsgeografischen Lage als Drehscheibe in die Region Ost- und Mittelosteuropa und wird daher von den neuen EU-Ländern als Standort benutzt.

Hamburg liegt im Zentrum expandierender Märkte. Eine gemeinsame EU-Verfassung schafft die Voraussetzungen, dieses Potenzial sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer und kultureller Hinsicht noch besser zu nutzen.

Die CDU-Bürgerschaftsfraktion sagt Ja zu einer gemeinsamen EU-Verfassung, die die Einigung Europas institutionell weiter verfestigt.

(Beifall bei der CDU und vereinzelter Beifall bei der SPD und der GAL)

Wir vergessen nicht die Lehre derer, die vor uns politische Verantwortung trugen, die Lehren aus den Katastrophen der beiden Weltkriege auf europäischem Boden. Europa als Friedens- und Wertegemeinschaft zu stärken, dazu gibt es keine Alternative. Die Einheit Europas war ein Traum von wenigen, sie wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für alle. Das sagte einst Konrad Adenauer und er hat Recht behalten.

Europa hat seit 1945 eine wechselvolle Geschichte erlebt: stürmischer Beginn mit der Montanunion, Phasen des Leerlaufs und dann wieder eine große Renaissance der Integrationsgeschichte. Immer waren insbesondere Deutschland und Frankreich als Motor an dieser europäischen Einigung beteiligt. Während das Ratifizierungsverfahren in Deutschland abgeschlossen ist, hat sich die Mehrheit der Franzosen gegen die Ratifizierung des EUVerfassungsvertrags gestellt. Dieses Nein der französischen Bevölkerung gilt es zu respektieren. Frankreich ist damit natürlich nicht europafeindlich, ebenso wenig sind dieses unsere Nachbarn in den Niederlanden. Die Gründe für das Scheitern der Ratifizierung in unseren Partnerländern sind vielschichtig und im Wesentlichen innenpolitisch motiviert. Der Ausgang des Referendums in Frankreich spiegelt vor allem die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer eigenen Regierung wider.

(Klaus-Peter Hesse CDU: Na gut, dass wir hier nicht abgestimmt haben!)

Zu kurz greift man jedoch, wenn man die Ursachen der Abstimmungsniederlagen in diesen Ländern nur auf innenpolitische Erwägungen stützt. Vielmehr sind wir gut beraten, die Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor einem europäischen Superstaat und vor dem Wasserkopf Brüssel ernst zu nehmen und als Chance zu begreifen. Es gilt, die Vorzüge einer gemeinsamen EU-Verfassung unter einem Dach Europa noch deutlicher herauszuarbeiten.

Die Entwicklung der Europäischen Union ist nicht nur die Antwort auf die europäische Geschichte und die Erfahrung von Leid, Zerrissenheit und Krieg. Sie ist vor allem ein Zukunftsbündnis für ein Europa des Friedens, der Demokratie, der Stabilität und der gemeinsamen Sicherheit.

Dies ist der Rahmen, der uns vorgegeben ist, dies sind die Höhen, die zu bewältigen sind. Was wir brauchen, ist eine verantwortungsvolle Politik, die diese Hürden überwindet und aus der äußeren Gemeinschaft eine innere und praktizierende Gemeinschaft werden lässt. Europa braucht keine Bürokratie, die die Einheitlichkeit der Wasserqualität von Portugal bis Polen vorschreibt und kontrolliert. Europa braucht den Wettbewerb der politischen Ideen und Gestaltungsformen. Europa braucht einen Stabilitätspakt.

Die Haushaltspolitik der rotgrün geführten Bundesregierung,

(Michael Neumann SPD: Na endlich, ich habe schon darauf gewartet!)

die zum vierten Mal infolge gegen das Defizitkriterium verstößt, ist wahrlich kein Vorbild für Europa.

(Beifall bei der CDU)

Niemand will den Rückfall in einen lockeren Bund von Staaten.

(Glocke)

Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluss kommen.

(Michael Neumann SPD: Nicht nur inhaltlich!)

Nicht nur inhaltlich.

Meine Damen und Herren! Die Bürgerinnen und Bürger in Frankreich und in den Niederlanden haben uns jetzt eine Denkpause verordnet. Dennoch sage ich zumindest für uns als Bürgerschaftsfraktion: Die Europäische Union braucht eine Verfassung. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erhält der Abgeordnete Frank.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa ist unbestritten in einer schweren Krise, aber nicht, weil die Europäische Verfassung so schlecht ist, im Gegenteil, sie ist gut, sie ist notwendig, sie macht Europa demokratischer, handlungsfähiger und sie macht Europa bürgernäher. Deshalb brau

chen wir sie und da haben wir eine breite Übereinstimmung in diesem Parlament.

(Beifall bei der SDP und vereinzelter Beifall bei der CDU und der GAL)

Die Europäische Union ist in einer Krise, weil die Menschen in den beiden Gründungsstaaten – Frankreich und den Niederlanden – die Abstimmung über die Europäische Verfassung zum Ventil genommen haben für ihr Unbehagen an der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ihres Landes und in Verbindung damit auch als Ventil für ihre Unzufriedenheit über die europäische Entwicklung. Herr Kraxner, das ist mit Sicherheit nicht nur ausschließlich innenpolitisch begründet.

Möglicherweise wäre das in Deutschland auch nicht anders ausgegangen. Großbritannien hat sich erst einmal von der Verfassung verabschiedet und in einigen anderen Staaten steht das auf der Kippe. Es ist gut, dass wir darüber diskutieren. Ich will auf Ihren kurzen Angriff auf die rotgrüne Koalition nicht weiter eingehen – das stört hier ein bisschen –, sonst müsste man über Ihre Blockadepolitik reden.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Es ist gut, dass wir darüber diskutieren, meine Damen und Herren, denn man muss gerade jetzt den Kräften in Europa entgegentreten – den europaskeptischen und mancherorts sogar europafeindlichen –, die dabei sind, Europa und die Europäische Verfassung über Bord werfen zu wollen.

Man sollte immer wieder auch an dieser Stelle an die Ausgangsidee nach 1945 erinnern. Sie war und sie ist es geblieben, nämlich Europa zu einem Kontinent der Friedenssicherung zu machen. Dieser Traum ist für die Menschen in Europa in Erfüllung gegangen.

Meine Damen und Herren, das ist historisch, das ist einmalig, das ist großartig und daran muss man erinnern. Aber Europa ist mehr, es ist auch ein ehrgeiziges Projekt für mehr Wohlstand und Beschäftigung, für soziale Gerechtigkeit, für die Gleichstellung, für die Stärke des Rechts und für die Würde des Menschen. Das macht Europa sehr stark und deshalb ist die jetzige Krise keine existenzielle, aber es ist eine sehr ernste.

Ob die Europäische Verfassung zu retten ist, ob der Ratifizierungsprozess fortgesetzt werden kann und ob in der Verlängerung des Ratifizierungsprozesses eine Chance liegen könnte, das wird auf dem EU-Gipfel in der nächsten Woche, am 16. Juni in Brüssel zu klären sein, dem jetzt eine sehr, sehr große Bedeutung zukommt.

Aus meiner Sicht kommt es jetzt auf drei Themen an. Die Verfassung werden wir nicht retten nach dem Motto "Augen zu und durch" und durch die Hintertür wird sie auch nicht kommen können.

(Beifall bei der SPD und vereinzelter Beifall bei der GAL)

Es ist jetzt Aufgabe der Staats- und Regierungschefs, einen Weg zu vereinbaren, der zur Annahme dieser Verfassung führen kann. Sie haben zu klären, wie die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit auch in Zukunft behält.

Zweitens gibt es einen erheblichen Vertrauensverlust bei den Menschen. Die europäische Politik wird ihre Sorgen und Ängste sehr ernst nehmen müssen. Vor dem Hinter

grund der wirtschaftlichen Globalisierung erwarten viele Menschen von der europäischen Entwicklung nicht nur Vorteile, sondern leider auch zu viele Nachteile, insbesondere was ihren Arbeitsplatz und ihre soziale Sicherheit angeht. Die Menschen erwarten zu Recht europäische und nationale Maßnahmen, die sie – bei aller Liberalisierung der Märkte – vor Arbeitslosigkeit, Sozialdumping und Lohndumping schützen. Auf die Tagesordnung des EU-Gipfels in Brüssel gehört das Thema Sozialmodell Europa. Europa muss das Vertrauen der Menschen insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder zurückgewinnen, aber Europa muss die Menschen auch mitnehmen, sonst funktioniert das nicht.

Meine letzte Anmerkung, meine Damen und Herren. Der EU-Gipfel wird das Thema Erweiterung der Europäischen Union, die Frage des Tempos, die Frage der Finanzierbarkeit Europas und die Frage der Akzeptanz nicht mehr ausklammern können. Auch hier gilt, Europa muss die Menschen auch in diesen Fragen mitnehmen, wenn es weiterkommen möchte, gerade auch im Sinne der Europäischen Verfassung.

Meine Damen und Herren, kurzum, die Hamburgische Bürgerschaft – anders verstehe ich diese Beiträge hier gar nicht – sagt gerade in dieser jetzigen und schwierigen Situation noch einmal ganz deutlich: Ja, zur Europäischen Verfassung. – Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der GAL sowie vereinzel- ter Beifall bei der CDU)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Sarrazin.

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wieder einmal scheint die Zeit gekommen für eine Analyse einer Krise der Europäischen Union – nicht zum ersten Mal. Lassen Sie mich sagen, Bündnis 90/Die Grünen und auch die GAL in Hamburg haben den Verfassungsprozess seit dem Europäischen Konvent – also von Anfang an – aktiv unterstützt. Wir haben Joschka Fischer als erstes hochrangiges Regierungsmitglied persönlich in den Konvent geschickt. Wir haben das aus unserer Überzeugung heraus getan: Veränderungen in der Europäischen Union sind notwendig, die Europäische Union muss für die Bürgerinnen und Bürger fassbarer, transparenter und in sich selbst entscheidungsfähiger werden.