Protocol of the Session on June 4, 2003

(Beifall bei der CDU, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive und der FDP)

Das Wort hat Frau Ernst.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Drews, Sie haben Recht, seit PISA haben sich die Anforderungen an Schulpolitik noch einmal deutlich erhöht. Auch das Schulgesetz dieses Senats wird sich daran messen lassen müssen, ob es dazu beiträgt, Defizite auszugleichen,

(Dirk Nockemann Partei Rechtsstaatlicher Offensi- ve: Defizite wie Ihre?)

ob es dazu beiträgt, dass Schülerinnen und Schüler in Hamburg künftig an der Leistungsspitze mithalten können, ob die große Zahl von Jugendlichen ohne Bildungsabschluss abgebaut werden kann,

(Norbert Frühauf Partei Rechtsstaatlicher Offensi- ve: Kann sie!)

und vor allem, ob wir es endlich schaffen, dass soziale Herkunft nicht wie bisher den Bildungserfolg bestimmt.

Wir haben in allen Bundesländern Realschüler und Hauptschüler, deren Leistungen denen von Gymnasiasten entsprechen und umgekehrt. Unser Schulsystem wird den Kindern und ihren individuellen Leistungen nicht gerecht. Bildungswege in Deutschland sind vor allem nach unten flexibel, nach oben wenig. Alle relevanten Schulexpertinnen und Schulexperten – Herr Baumert und Herr Schleicher sind vielleicht die wichtigsten in dieser Debatte – raten daher dem deutschen Schulsystem, nicht zu früh zu selektieren und den Bildungsweg der Kinder festzulegen und vorsichtig bei den Übergängen zu sein. Das war auch das eindeutige Ergebnis der Anhörung im Schulausschuss.

(Ekkehard Rumpf FDP: Wieso ist England dann so gut? – Gegenruf von Wilfried Buss SPD: England hat Gesamtschulen!)

Klare Konsequenz muss daher sein, die Bildungswege so lange wie möglich offen zu halten und integrierten Unterricht und Schulsysteme auszubauen.

(Beifall bei der SPD und bei Christa Goetsch GAL)

Die Ergebnisse der besten Teilnehmerstaaten bei PISA zeigen auch, dass der in Hamburg durchaus seit Jahren beschrittene Weg der Standardisierung von Bildungsinhalten und der Schaffung von Vergleichbarkeiten dringend weitergeführt werden muss. Wir sind in der vergangenen Legislaturperiode mit den Lernausgangsuntersuchungen weit vorgeprescht und haben durch die Einführung von Vergleichsarbeiten und dem Start der Erarbeitung von Bildungsplänen einen richtigen Weg begonnen, den Sie weiterführen, und er muss auch weitergeführt werden. Dieser Senat verbindet diesen Weg aber nicht mit einer individuellen Förderung von Kindern. Dies führt zur Ausgrenzung und ist eine Katastrophe für die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlicher in der Stadt.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Aber auch an anderer Stelle ist Ihr Schulgesetzentwurf rückschrittlich; Bildungswege werden früher geschlossen. Kinder, die nicht ausreichend Deutsch können, können vom Unterricht zurückgestellt werden. Herr Drews, Sie haben Niedersachsen erwähnt. Uns ist im Ausschuss deutlich gesagt worden, dass Niedersachsen diesen Weg ausdrücklich nicht gehen wolle.

Realschüler sollen, aus welchen Gründen auch immer, künftig nicht mehr die Fachhochschulreife erreichen und an der Fachoberschule weiterlernen können. An den Gymnasien soll künftig faktisch die Beobachtungsstufe abgeschafft werden, und den wichtigen Leitgedanken der Integration streichen Sie völlig aus dem Schulgesetz.

(Vizepräsidentin Rose-Felicitas Pauly übernimmt den Vorsitz.)

Die fixe Idee aller Konservativen, dass Kinder frühzeitig nach künftigen Leistungen sortiert werden können, prägt dieses Schulgesetz, indem das dreigliedrige Schulsystem gestärkt wird und die Übergänge in weiterführende Bildungsgänge systematisch beschnitten werden. All dies ist falsch und das exakte Gegenteil dessen, was jetzt zu tun wäre.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Die SPD-Fraktion legt heute erneut ein eigenes Schulgesetz vor, da wir aus den Anhörungen Anregungen aufgegriffen haben. Unser Gesetzentwurf ist davon geleitet, Leistungsorientierung und Chancengleichheit zu verbinden. Wir wollen Bildungswege offen halten und individuelle Förderung verstärken. Integrierte Schulsysteme und Unterrichtsformen müssen ausgebaut werden. Die PISASiegerländer zeigen, dass genau dieser Weg erfolgreich sein kann. Ausgrenzung und frühe Selektion vieler Kinder sind keine Voraussetzung für gute Schulerfolge. Dies ist ein konservativer Glaube, den Sie leider in Hamburg nicht abgelegt haben.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Die SPD-Fraktion schlägt vor, das Sitzenbleiben einzuschränken. Schlechte Leistungen von Schülerinnen und Schülern sind auch das Resultat mangelnder Unterstützung und Förderung an den einzelnen Schulen.

Wir wollen, dass alle Jugendlichen einen Schulabschluss erreichen. Die Anforderungen der Arbeitswelt sind in den letzten Jahren gestiegen und Jugendliche brauchen mehr Zeit zum Lernen, um in eine Berufsausbildung eintreten zu können. Herr Drews, Sie haben unseren Vorschlag kritisiert, zu einer obligatorischen Schulzeitverlängerung

zu kommen; schauen Sie sich die Realität an. Es gibt nur sehr wenig Jugendliche, die direkt nach der Hauptschule in das duale System übergehen. Vielen Betrieben sind Vierzehn-, Fünfzehnjährige zu jung und wir wollen nicht, dass Jugendliche in Maßnahmenkarrieren nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht, sondern schlagen eine Schulzeitverlängerung auf mindestens zehn Jahre vor, um sicherzustellen, dass Berufsorientierung ausreichend Raum findet.

Ich will Ihnen noch ein weiteres Beispiel nennen. Wieso muss eigentlich ausgerechnet bei den Schwächeren die Schulzeit kürzer sein? Gehen Sie in die internationale Schule nach Hamburg. Sie werden dort sehen, dass alle Schülerinnen und Schüler zwölf Jahre zur Schule gehen. Einige machen ein internationales Bakkalaureat, andere machen einen anderen Abschluss. Sie sollten sich da wirklich belehren lassen. Wir wollen den Gedanken des Rechts auf einen Abschluss für diejenigen aufgreifen, die nicht mehr zur Schule gehen. Daher schlagen wir vor, dass es in Hamburg ein lebenslanges Recht geben soll, den Hauptschulabschluss nachzuholen, weil wir darin eine wichtige Voraussetzung für eine dauerhafte Teilhabung in der Gesellschaft sehen.

Einigkeit bestand – Herr Drews, das haben Sie gesagt –, dass die Bildungsförderung früh beginnen muss. Schon jetzt besuchen über 90 Prozent aller Kinder entweder eine Kita oder eine Vorschule. Wir wollen auch die verbleibenden 10 Prozent erreichen. Wir glauben, dass unter ihnen viele sind, die dringend der Förderung bedürfen. Deshalb schlagen wir vor, dass bis zum Jahre 2007 eine verbindliche Bildungspflicht für alle fünfjährigen Kinder in Hamburg gelten soll, die wahlweise in einer Kita oder in einer Vorschule erfüllt wird. Ich glaube, dass dies ein entscheidender Beitrag für Chancengleichheit, aber auch für eine Steigerung von Bildung in Hamburg sein kann.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Bei einem anderen Punkt unterscheiden wir uns auch. Wir wollen Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten mit einer Stärkung der Eigenverantwortung der Schulen verbinden. Die Schulpolitik dieses Senats ist deutlich zentralistisch. Die Verantwortung für Schülerinnen und Schüler liegen jedoch vor Ort. Daher brauchen die Schulen andere Spielräume. Wir fordern deshalb unter anderem, für Schulen die Möglichkeit zu eröffnen, einen eigenen Haushalt zu führen. Profilierung und ein wenig Wettbewerb schaden den Schulen nicht, sondern stärken ihre Leistungsfähigkeit. Das muss ausgebaut werden.

(Beifall bei der SPD und bei Dr. Verena Lappe GAL)

Ein Punkt, den Sie angesprochen haben, bleibt bei Ihnen in Wahrheit völlig offen: Keiner weiß, welche Rolle die Integration an Grundschulen künftig spielen wird und ob die integrativen Regelklassen erhalten bleiben werden. Die Regierungskoalition lehnt doch diese Schulen eigentlich ab. Das ist deutlich geworden. Aber der Widerstand war so groß, dass Sie beschlossen haben, diesen Konflikt erst einmal in Arbeitsgruppen zu vertagen, um den Widerstand in der Stadt klein zu halten. Der Schulgesetzentwurf des Senats ist an diesem wichtigen Punkt unausgegoren. Das allein ist schon ein Grund, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der GAL)

Sie wollten die Lernmittelfreiheit an Hamburgs Schulen abschaffen. Darüber hatten Sie dann Krach innerhalb der Koalition gehabt. Vor allem haben Sie schon über 1 Million Euro in diesem Bereich gespart, die in Hamburg konkret für Schulmittel fehlen werden. Es werden weitere Millionen Euro folgen, wenn es Ihnen nicht gelingt, finanzielle Hilfen für die Gastschüler aus Schleswig-Holstein zu bekommen. Wir lehnen generell die Abschaffung der Lernmittelfreiheit ab. Wir wollen keine Stigmatisierung von Eltern und ihren Kindern. Es darf nie so sein, dass die Bildungschancen der Kinder von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern abhängen.

(Beifall bei der SPD)

Das Schulgesetz dieses Senats ist ein Gesetz des Ausgrenzens, des Aussortierens, des Alleinlassens von Schülerinnen und Schülern. Herr Drews, unterschätzen Sie nicht die Proteste an den Hamburger Schulen, indem Sie Ihr beliebtes Feindbild, die GEW, zitieren. Mir ist vorhin berichtet worden, dass der Schulsenator sogar beim Reit- und Springderby in Hamburg ausgepfiffen wurde. Das war keine Veranstaltung von GEWFunktionären.

(Beifall bei der SPD und der GAL – Ekkehard Rumpf FDP: Das ist Herrn Mirow auch schon passiert!)

Sie legen heute ein Gesetz vor, das Sie gegen den Willen der Menschen und der Experten und im Übrigen unter Missachtung des Parlaments durch die Gremien gepeitscht haben. Wir werden dem nicht zustimmen.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort hat Frau Freund.

Sehr geehrte Präsidentin, meine Damen und Herren! Die letzte Aussage muss ich entschieden zurückweisen, dass wir dieses Gesetz durch die Gremien gepeitscht hätten. Wenn Sie nicht noch in allerletzter Sekunde irgendwelche Sondersitzungen anberaumt hätten, die Sie viel früher hätten beantragen können, dann wäre der Zeitrahmen nicht so eng gewesen

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP)

und wir hätten alle Beiträge ausreichend würdigen und einfließen lassen können, was dann teilweise sehr knapp war.

Ich möchte zu einem positiven Aspekt kommen. Hamburg wird mit dem heutigen Datum, spätestens bei der nächsten Bürgerschaftssitzung eines der fortschrittlichsten Schulgesetze in der Bundesrepublik Deutschland erhalten.

(Beifall bei der Partei Rechtsstaatlicher Offensive, der CDU und der FDP – Lachen bei der SPD)

Es freut mich, dass Sie so erfreut sind.

(Unruhe im Hause – Glocke)

Meine Damen, meine Herren! Man kann kein Wort der Rednerin verstehen.

(Wilfried Buss SPD: Das ist auch besser so!)

Ich glaube, wir sollten dem politischen Gegner den gebührenden Respekt zollen. Ich bitte Sie um etwas mehr Ruhe. Frau Freund, bitte fahren Sie fort.

Dass auch das Land Niedersachsen, von dem Sie vorhin noch das Schulschwänzerprojekt kopieren wollten, ein ähnliches Schulgesetz auf den Weg bringt, unterstreicht unsere Vorreiterrolle.

Unter dem Deckmantel der Chancengleichheit hat der Vorgängersenat den Schritt zu mehr Leistungen und Effizienz im Schulsystem nicht vollzogen, mit dem Ergebnis, dass unsere Schulabgänger bei den Arbeitgebern nicht die gleichen Chancen haben wie ihre Mitstreiter aus anderen Bundesländern. Wir werden das Hamburger Bildungssystem wieder wettbewerbsfähig machen. Mit dieser Schulgesetznovelle stellen wir die Weichen für mehr Bildung und bekennen uns zum Leistungsprinzip. Bei der nächsten PISA-Erhebung werden die Hamburger Schüler weit positivere Ergebnisse erzielen und diesem Senat trotz aller Proteste dankbar für diesen mutigen Schritt sein.