Protocol of the Session on October 12, 2000

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Zu später Stunde kommt jetzt noch ein Schulthema. Es geht um unsere Jüngsten. Der Schulausschuß hat sich in mehreren Sitzungen mit der Großen Anfrage der CDU über den Nutzen und die Kosten der Integrationsmaßnahmen befaßt.

(Präsidentin Dr. Dorothee Stapelfeldt übernimmt den Vorsitz.)

Am 23.Februar 1999 führte der Schulausschuß eine Sachverständigenanhörung zum Schulversuch „Integrative Regelklassen“ durch. Wir haben uns in der Bürgerschaft ausführlich mit den Hamburger Integrationsmaßnahmen befaßt und dabei festgestellt, daß der Hamburger Weg zu mehr Integration mit Behinderten und Benachteiligten der richtige Weg ist und in ein Regelangebot überführt werden soll.

Ich will nicht noch einmal im einzelnen auf das eingehen, was ausführlich im Bericht des Schulausschusses nachzulesen ist. Zwei Dinge möchte ich allerdings hervorheben. Da ist zum einen die Bedeutung des Schulversuchs „Integrative Grundschule“ für die Verwirklichung der Empfehlung der Kultusministerkonferenz von 1994. Das Leitmotiv dieser Empfehlungen ist, die Bildung und die Förderbedürfnisse aller Kinder zunächst in der allgemeinen Schule zu verwirklichen. Diesem Leitgedanken folgte die „Integrative Grundschule“, die in ihren Klassen Behinderte und Benachteiligte gemeinsam mit allen anderen unterschiedlich begabten Kindern unterrichtet.

Mit diesem wichtigen Baustein in der Pädagogik kommt Hamburg wie kein anderes Bundesland dem Anspruch der Kultusministerkonferenz nach Integration nach. Was im Schuljahr 1991/1992 mit 13 Schulen neben den bereits 1983/1984 eingerichteten Integrationsklassen begann, hatte sich bis September 1997 auf 36 Schulen ausgedehnt, und die Zahl wächst weiter. Zur Zeit liegen 51 Anmeldungen von Schulen vor, die „Integrative Regelklassen“ einrichten wollen.

(Beifall bei Sonja Deuter und Dr. Hans-Peter de Lo- rent, beide GAL)

Und die Praxis gibt ihnen recht. Die Eltern, deren Kinder integrative Grundschulen besuchen, die also miterleben, wie positiv sich das Miteinander auf das soziale Verhalten ihrer Kinder auswirkt, unterstützen den Schulversuch.

Ich konnte zum Beispiel in der U-Bahn erleben, wie die Schüler einer integrierten Grundschulklasse – ich schätze, es war eine 2. Klasse – mit einem ihrer behinderten Mitschüler umging. Der kleine Junge, der offensichtlich noch etwas müde war, wurde von einem Mitschüler liebevoll in den Arm genommen, damit er noch ein Stückchen schlafen konnte. Diese unbefangene Selbstverständlichkeit im Umgang mit Behinderten kann man nun einmal am besten im Kindesalter lernen.

Als zweites möchte ich den Einsatz der Lehrerinnen und Lehrer hervorheben, die diese wichtige Arbeit leisten. Integration in der Grundschule ist natürlich ein anspruchsvolles Konzept. Neben allen anderen Qualifikationen erfordert

(Senator Dr. Thomas Mirow)

es bei den Lehrern diagnostische Kompetenz. Sie müssen erkennen, welche Kinder welche Probleme haben, um dann ein entsprechendes geeignetes Förderkonzept zu entwickeln. Die Arbeit, die dort geleistet wird, kann man nicht hoch genug bewerten.

Die Lehrer sind heute hier in der Bürgerschaft schon einige Male sehr gelobt worden, und ich möchte mich anschließen und an dieser Stelle allen Lehrerinnen und Lehrern, die diese wichtige Aufgabe erfüllen, meinen Dank aussprechen.

(Beifall bei der SPD)

Die Hamburger Integrationsmaßnahmen sind gut, richtig und wichtig.Natürlich müssen auch Alltagsprobleme, die es nun einmal gibt, angepackt werden, denn auch Gutes kann verbessert und muß begleitet werden. Die SPD-Fraktion bringt zu den Ergebnissen des Schulversuchs der „Integrativen Grundschule“ einen Antrag ein, der den Senat ersucht, dafür Sorge zu tragen, daß „Integrative Grundschulen“, die an dem Versuch teilnehmen, ihr Schulprogramm im Sinne von Integration weiterentwickeln. Es sind entsprechende Konzepte zu entwickeln, die evaluiert werden können, und Schulen sollen flexibel über ihren Ressourceneinsatz im Sinne des individuellen Förderbedarfs der Schülerinnen und Schüler entscheiden können.

Der wichtigste Punkt unseres Antrags jedoch ist, daß der Schulversuch „Integrative Regelklassen“ weitergeführt wird, um bei der nächsten Novellierung des Schulgesetzes in ein Regelangebot überführt zu werden. Als frühester Zeitpunkt dafür kommt nun leider erst der Beginn der nächsten Wahlperiode in Frage.Ich habe keine Zweifel, daß dies auch geschieht, denn der Schulversuch ist nicht mehr wegzudenken aus der Hamburger Schullandschaft.

Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, diesem Antrag zuzustimmen, und zwar ohne den Zusatzantrag der CDU. Herr Beuß, ich sage es mal wieder wie in der Schule: Dieses Thema haben Sie verfehlt. Andererseits wird etwas gefordert, was bereits sichergestellt ist. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort hat Frau Machaczek.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Nicht immer ist alles Mehr auch gut, Frau Woisin. Sie laufen mit Ihrem Antrag leider Gefahr, wieder alles gleichzumachen.

Ich will nicht verhehlen, daß die Anhörung zu dem Thema „Integrative Grundschule“ gute neue Aspekte gebracht hat und wir auch einiges dazugelernt haben.

(Beifall bei der GAL und vereinzelt bei der SPD)

Wir würden Ihrem Antrag auch zustimmen, könnten Sie sich dazu entschließen, unserem Antrag zuzustimmen.

(Vereinzelter Beifall bei der CDU)

Um gleich mit dem Ende anzufangen: Sie sagen ja selbst, daß das, was wir fordern, schon sichergestellt ist. Ich will Ihnen aber kurz erklären, warum wir Sorge haben, daß es nicht mehr sichergestellt ist.

Ein Wort vorweg: Ich denke, wir sind uns alle einig, daß die soziale und auch emotionale Kompetenz von Kindern, behinderten und nichtbehinderten, die gemeinsam lernen, immer gestärkt wird.Es ist sicherlich etwas Gutes, worüber

wir froh sein können. Ich bin jedoch fest der Ansicht, daß dieses Ziel, in eine „Integrative Regelgrundschule“ zu kommen, nicht für alle Kinder sinnvoll ist.

So einfach, wie Sie es sich machen, ist es nicht.Wenn man sich den Bericht und die Antwort auf die Große Anfrage ansieht, weiß man, daß das alles nicht mehr kosten soll. Man geht davon aus, daß später mehr und mehr Kinder aus Sonderschulen in diese Regelschulen kommen. Deswegen besteht natürlich die Gefahr, daß irgendwann eine Sonderschule leider auslaufen muß, weil vielleicht die Marge, die der Senat setzt, nicht mehr eingehalten wird.

(Sonja Deuter GAL: Was ist daran so schlimm?)

Warum sage ich das? Mir ist berichtet worden, daß Kinder – ich nenne sie jetzt Rückläufer – aus einer integrativen Regelklasse wieder in Sonderschulen, Sprachheilschulen kommen, weil sie aus irgendwelchen Gründen in diesen Klassen nicht verbleiben. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, daß sichergestellt ist, daß die sozialpädagogische Förderung und Therapie behinderter Kinder in Hamburg weiter unter individuellen Gesichtspunkten auch in Sonderschulen stattfinden kann. Nur darum geht es uns.

(Beifall bei der CDU)

Ich will zum Schluß kurz darauf hinweisen, daß die Schulbehörde auch hier ein recht gut klingendes Konzept entwickelt hat, das REBUS heißt. Damit wird versucht, verhaltensauffällige Kinder schon am Anfang in der Schule zu begleiten und dadurch zu verhindern, daß sie in eigene Schulen müssen.

(Unruhe – Glocke)

Meine Damen und Herren! Es ist eindeutig zu laut hier im Raum. Ich bitte, die Zwischengespräche einzustellen. Frau Machaczek, Sie haben das Wort.

Danke. – Wir hören aber aus der Praxis, daß die Mittel dafür an allen Ecken und Enden fehlen. Genau die Sorge habe ich auch. Es gibt gute Projekte, es gibt immer wieder neue Ideen, aber sie werden nicht richtig ausgestattet. Insofern können wir mit der integrativen Grundschule nicht das Thema Integration abfeiern, sondern Sie müßten unseren Antrag unterstützen, um glaubwürdig zu bleiben und das zu unterstützen, was der Senat in der Anfrage beantwortet hat.Wir verleihen unserer Sorge Ausdruck, daß es so ist, und Sie können sie uns nehmen, indem Sie unserem Antrag zustimmen. Tun Sie das nicht, werden wir Ihren ablehnen.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort hat Frau Deuter.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich versuche, die Kirche ins Dorf zurückzuholen.

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

So legt es das Grundgesetz ausdrücklich fest.

Allein die Tatsache, daß es dieses Artikels 3 Absatz 3 überhaupt bedurfte, zeigt, wie dornig der Weg war und ist, wenn es darum geht, etwas gegen Ausgrenzung und Selektion zu setzen und zu einem solidarischen Weg der Integration aller innerhalb einer Gemeinschaft zu finden.

(Erika Woisin SPD)

(Unruhe – Dr. Hans-Peter de Lorent GAL: Können wir jetzt mal wieder zuhören?)

Ich warte einen Moment, dann wird es automatisch still.

Dies ist ein Weg, den Hamburg durch seinen Schulversuch „Integrative Grundschule“ für alle anderen Bundesländer prägend beschritten hat. In diesem Schulversuch sind zwei Organisationsformen zusammengefaßt: die Integrationsklassen mit dem Ziel, daß behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen, und das spätere Modell der integrativen Regelklasse, in die alle Kinder eines Schulbezirks – unabhängig von deren Lernstand – gehen können, wodurch bisher angewendete Kategorien von Behinderungsetikettierung außer Kraft gesetzt werden. Beide Organisationsformen prallten anfänglich fast auf unüberwindbare Hindernisse. Die Lehrer sind heute schon oft genug gelobt worden. Ich möchte heute einmal andere loben. Es ist nämlich nur der Entschlossenheit und dem Engagement der Arbeitsgemeinschaft Eltern für Integration zu verdanken, daß der erste, 1982 gescheiterte Versuch, Integrationsklassen einzurichten, nicht zum Aufgeben zwang, sondern 1983 endlich durchsetzbar war.

(Beifall bei der GAL und der SPD)

Das war ein wichtiger Baustein, der 1991/92 um die integrative Grundschule erweitert werden konnte, einem Modell, das bundesweit Beachtung fand.

Anliegen des integrativen Unterrichts ist es, alle Kinder ihren Möglichkeiten entsprechend zu fördern und zu fordern und in ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Damit das gemeinsame Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern funktioniert, müssen die angewendeten Unterrichtsformen sowohl der Unterschiedlichkeit der Kinder gerecht werden als auch – bei aller Verschiedenheit der Kinder – Erfahrungen der Gemeinsamkeit ermöglichen. Es gilt also, das Gleichgewicht zu finden von individuellen Lernangeboten einerseits und gemeinsamen Lernsituationen andererseits. Das hat mit Gleichmacherei gar nichts zu tun, Frau Machaczek. Es ist ein sehr komplexes Vorhaben, aber es ist das einzige, das dazu geeignet ist, der Individualität von Kindern gerecht zu werden – und ich betone es noch einmal –, und zwar von allen Kindern und nicht nur der behinderten und nicht behinderten Kinder im Vergleich, nein, der Vielfalt und der Unterschiedlichkeit aller Kinder.

Jedes einzelne Kind bringt unterschiedliche Anlagen, eine sich unterscheidende Sozialisation und verschiedene Erfahrungen mit, und es verfügt über vollkommen unterschiedliche Möglichkeiten, sich zu entwickeln und zu lernen. Darin, in dieser gelebten Chance der Betrachtung, liegt der wirkliche Wert des Integrationsgedankens.Hier lernen Kinder, sich selbst und ihre Klassenkameraden als das anzunehmen, was sie sind.

Sich angenommen zu fühlen – das bestätigen alle Studien –, ist die Grundvoraussetzung für Selbstvertrauen, und zu lernen anzunehmen, das ist die Grundvoraussetzung für Toleranz, egal wie anders der andere ist. Die daraus abzuleitende realistische Selbsteinschätzung mündet in ein positiveres Fähigkeitsselbstkonzept. So ergab es die Anhörung für Integration hier im Rathaus. Das sind Werte, meine Damen und Herren, die es verschmerzen lassen, dem Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Schulversuch zu entnehmen, daß die Leistung in Mathe und Deutsch in nicht integrativen Klassen größer ist.