Protocol of the Session on September 5, 2001

Es stellt sich natürlich die Frage, was sich in den letzten Jahren verändert hat. Haben sich die Kinder verändert, weil die Welt immer hektischer, die Ablenkungen immer verführerischer, die Eltern immer beschäftigter und die Schule immer leistungsorientierter wird,

(Karl-Heinz Ehlers CDU: Das letzte bestimmt nicht!)

oder haben wir Erwachsenen uns so sehr verändert, daß wir für die Kinder keine Zeit, für ihre Sorgen kein Ohr und für ihr Bedürfnis nach Wärme und Ruhe kein Gefühl mehr haben? Oder sind medizinische Ursachen für die Hyperaktivität von Kindern verantwortlich, die, aus welchen Gründen auch immer, heute verstärkt auftreten?

Ist es vielleicht eine falsche Ernährung, die bei Kindern zu den Problemen führt? Könnte eine bestimmte Diät ihnen vielleicht helfen? Wie so oft gibt es wahrscheinlich nicht nur eine Ursache für dieses Problem, sondern viele. Einige davon habe ich eben aufgezählt. Ich habe mit Eltern, die ein sogenanntes ADS-Kind in der Familie haben, gesprochen. Ich habe Verständnis für diese Eltern, die an ihren hyperaktiven Kindern zu verzweifeln drohen. Viele dieser Eltern haben Schuldgefühle, weil sie glauben, in der Erziehung versagt zu haben. Sie ergreifen den Rettungsanker Ritalin und haben mit einer regelmäßig verabreichten Pille endlich ein Kind, das wie die anderen spielt, lernt, liest und auch zuhört.

Und dennoch dürfen die Gefahren, die eine Einnahme von Psychopharmaka im Kindesalter beinhalten, nicht verharmlost werden. Noch ist nicht erwiesen, daß das Medikament keine Spätfolgen nach sich ziehen kann. Auch die Frage einer möglichen Abhängigkeit ist nicht zufriedenstellend beantwortet. Ritalin ist immerhin ein Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt und mit dem sehr sorgsam umgegangen werden muß. Auf jeden Fall dürfen wir es uns nicht zu einfach machen und denken, mit einer Pille wäre das Problem gelöst. Vor allem die Mediziner tragen hier eine riesengroße Verantwortung und dürfen auf keinen Fall das Medikament leichtfertig verschreiben.

(Wolfgang Beuß CDU: Das sagt ja auch keiner!)

Den Eltern, die das Medikament für ihr Kind fordern, damit es in der Schule mehr Leistung bringt, muß vom Arzt eine

(Lutz Jobs REGENBOGEN – für eine neue Linke)

klare Absage erteilt werden; diese Schilderung ist kein Einzelfall. Nur in absoluten Ausnahmefällen, wo erwiesen ist, daß medizinische Ursachen vorliegen, sollte zu diesem letzten Strohhalm gegriffen werden und das auch nur im Zusammenhang mit einer psychologisch-pädagogischen Betreuung. Wenn allerdings familiäre, emotionale Probleme oder soziale Belastungen die Ursachen sind, ist eine Pille ganz bestimmt nicht die Lösung. Manchmal gibt es ein ganz einfaches Rezept, und das heißt: Viel Zuneigung, Liebe und viel Zeit für die Kinder.

Um noch einmal auf die Große Anfrage der REGENBOGEN-Gruppe zurückzukommen. Wie die Antwort belegt, befaßt sich der Senat seit längerem intensiv mit der Problematik. Das Institut für Lehrerfortbildung und die Hamburgische Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung machen Fortbildungsveranstaltungen für Lehrkräfte, Schulberater und Schulärzte, damit früh erkannt wird, wo die Ursachen für das auffällige Verhalten liegen. Wenn sicher ist, daß pädagogische, sozialtherapeutische und psychologische Maßnahmen gefordert sind, geben die regionalen Beratungsstellen den Eltern Hilfestellung und unterstützen bei der Suche nach der richtigen Therapie. Aber das Wichtigste bei diesem Thema bleibt für mich, daß sich Eltern und Mediziner ihrer Verantwortung bewußt sind und nicht leichtfertig mit der Gesundheit der Kinder umgehen.

Noch einmal kurz zum Antrag der REGENBOGEN-Gruppe. Wir sind wie Sie der Meinung, daß dies ein wichtiges Thema ist, halten aber die Problematik für zu umfassend, um jetzt schnell etwas zu beschließen. Darum möchten wir den Antrag an den Gesundheitsausschuß überweisen, um das Thema mit der notwendigen Sorgfalt zu behandeln. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Das Wort bekommt der Abgeordnete Beuß.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Medikament Ritalin ist sicherlich nicht der Stein der Weisen. Ritalin darf nicht aus pharmazeutischem Selbstzweck heraus verordnet werden. Ritalin ist sicherlich auch kein Königsweg, was die Behandlung angeht. Aber es ist eine von vielen Hilfen für kranke Kinder, die unter ADS leiden. Kein Grund ist es deshalb, Ritalin in Bausch und Bogen zu verdammen. Aber es ist auch kein Grund, es in den Himmel zu jubeln und als Wundermittel zur Ruhigstellung von unruhigen Kindern und Jugendlichen zu glorifizieren. Das Medikament gehört mit Sicherheit in die Hand eines dafür ausgebildeten Facharztes, und es muß auch in der Stadt möglich sein, die Diagnostik entsprechend zu finanzieren; das ist nämlich bisher nicht der Fall.

Hier ist schon viel Vernünftiges und Richtiges zum ADS gesagt worden. Deshalb gestatten Sie mir, aus der Sicht eines Sonderschullehrers kurz zwei Beispiele für Kinder zu geben, die Ritalin erhalten oder erhalten haben; ich nenne einmal Oliver. Oliver ist unruhig, aggressiv und hat Lernstörungen. Was bedeutet unruhig? Er läuft permanent in der Klasse herum, macht Geräusche, beginnt unvermittelt zu lachen oder auch zu schreien. Er entwickelt Ticks und lenkt sich, aber auch die gesamte Lerngruppe davon ab, dem Unterricht zu folgen. Die Folge davon ist, daß er sich immer stärker in der Gruppe isoliert.

Was bedeutet aggressiv bei diesen Kindern? Aggressiv bedeutet, daß diese Kinder zum Beispiel keine Nähe ertragen können. Sobald ihnen jemand nahe kommt, empfinden sie

das als Angriff und schlagen zu. Die Kinder werfen mit Gegenständen durch die Klasse, dabei sind Federtaschen noch das Geringste. Es können auch schon mal Stühle und Tische sein. Die Folge ist, daß die Mitschüler eine ungeheure Angst vor dem körperlichen Aufbegehren dieser kranken Kinder entwickeln.

Was bedeutet Lernstörungen? Lernstörungen bedeutet, unkonzentriert zu sein, eine gestörte Aufmerksamkeit zu haben, nichts zu behalten, und in den meisten Fällen wissen die Schüler überhaupt nicht, worum es eigentlich geht. Die schriftlichen und mündlichen Leistungen sinken vielfach ins Unermeßliche ab. Die Folge ist, daß die Eltern total verzweifelt sind, weil sich zu Hause spiegelbildlich genau das gleiche Verhalten ihrer Kinder zeigt.

Wir hatten vor einiger Zeit in der Schule eine Mutter, die so verzweifelt war, daß sie, ihr Kind an der Hand, den Kinderund Jugendnotdienst aufgesucht hat, um zu bitten, daß dieses Kind eine Pflegefamilie bekommt. Sie würde es hier abgeben, weil sie es mit ihm nicht mehr aushalten würde. Das ist nicht zum Lachen, sondern bare Realität.

Die Eltern haben es versucht mit Diäten, sie haben es versucht mit psychologischer Behandlung, sie haben es mit Spielgruppen versucht, mit der Erziehungsberatung. Diese Kinder sind nicht zu erreichen und stehen sich quasi selbst im Wege und sind oftmals am meisten darüber verzweifelt.

Alarmschrei ist, wenn dann eine Psychiatrieeinweisung erfolgt, und das kommt häufiger vor. Und gut ist es, wenn da die richtigen Fachleute kommen, und aus meiner Sicht ist das insbesondere das Werner-Otto-Institut. Dort werden Testbatterien bei den Kindern mit erstaunlichen Ergebnissen durchgeführt. Diese zeigen, daß die Kinder oftmals eine große Intelligenz haben, die sich aber im täglichen Unterricht überhaupt nicht darstellt. Die Kinder werden im Werner-Otto-Institut so behandelt, daß mit Ritalin nicht drauf losgeballert wird, sondern es wird sich, wie man das so schön nennt, eingeschlichen. Man erhöht die Dosis und guckt, ob das zu einer Verhaltensänderung führt. Dabei wird ein enger Kontakt zu Elternhaus und Schule gesucht.

Es gibt also Fälle, wo Ritalin wirklich angezeigt ist und wo den Kindern damit wirklich geholfen wird, aber das muß sehr differenziert angeguckt werden. Wichtig ist, daß das Verhalten unter Ritalin stabilisiert wird, und ich habe gerade einen Fall erlebt, wo bei einem Kind im Rahmen dieser Therapie das Ritalin wieder abgesetzt wurde, weil die Persönlichkeit so stabilisiert war, daß es ein vernünftiges weiteres Leben ohne Medikament führen konnte; das ist dann auch ein Erfolg.

Im Grunde ist der vorliegende Antrag berechtigt. Ich glaube zwar auch nicht, daß Hamburg der Nabel der Welt ist. Deswegen wollen wir diesen Antrag an den Ausschuß überweisen, um in Ruhe darüber zu reden. – Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort bekommt die Abgeordnete Dr. Freudenberg.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! ADS und Ritalin sind auf jeden Fall ein wichtiges Problem, das wir nicht einfach nur im Gesundheitsausschuß behandeln sollten, sondern zusammen mit den Kollegen und Kolleginnen vom Jugend- und Schulausschuß, und das ist auch das Interessante an der Geschichte. Ritalin hilft gegen das Symptom der Zappelei, der Aufmerksamkeitsstörung im Zusammenhang mit über

(Erika Woisin SPD)

mäßiger motorischer Aktivität, aber nur gegen das Symptom, denn das ADS ist eine Anpassungsstörung und zeigt, daß sich die Kinder nicht an vorgegebene Verhältnisse anpassen können. Wir dürfen nicht einfach das Symptom kurieren und sehen, daß die Kinder ruhiger werden. Wir müssen vielmehr überlegen, ob die Verhältnisse in Ordnung sind, von denen wir verlangen, daß sich die Kinder an sie anpassen, oder was bei den Kindern vorliegt, daß sie dazu nicht in der Lage sind. Es ist auf keinen Fall richtig, jetzt zu sagen, wir haben ein Medikament, das in vielen Fällen hilft, und damit gut. Sondern wir müssen erfassen, was hinter der Zunahme dieser Störungen steckt und was wir tun können, um den Kindern und Familien gerecht zu werden.

Ich finde es richtig, diesen Antrag zu überweisen und uns in der nächsten Legislatur bald damit zu befassen, möchte dies aber auf keinen Fall nur unter uns Medizinern abhandeln, denn dann werden wir der Sache bestimmt nicht gerecht. – Danke.

(Beifall bei der GAL)

Das Wort erhält Senatorin Pape.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die jetzt in Gang gekommene öffentliche Diskussion ist zu begrüßen, denn sie schafft Aufmerksamkeit für eine Entwicklung, die viele Eltern besorgt und verunsichert. Durch die Gegenüberstellung von Pro und Kontra der Ritalin-Vergabe und die zum Teil sehr unterschiedlichen Aussagen von Fachärzten hat sich auch gezeigt, daß die Frage nach den Folgen bisher aus medizinischer Sicht keineswegs eindeutig zu beantworten ist. Aufgabe meiner Behörde kann es aber nicht sein, die medizinische Fachdiskussion zu führen. Die muß schon dort geführt werden, wo sie wirklich hingehört. Aufgabe meiner Behörde ist es vielmehr, die Fachdiskussion zu verfolgen und die Ergebnisse kritisch zu bewerten und verantwortungsvoll in bezug auf die Möglichkeiten schulischen Handelns zu setzen. Insofern gebe ich Frau Dr. Freudenberg vollkommen recht, daß es wichtig ist, diese Diskussion gemeinsam zu führen, und die Zuordnung zu dem einen oder anderen Ausschuß würde ich auch für falsch halten. Da gibt es unterschiedliche Anteile, und wichtig ist, gemeinsam diese Diskussion zu führen.

Hier ist schon darauf hingewiesen worden, wie Ritalin wirkt, daß es nämlich nicht eine Krankheit heilt, aber Symptome lindern kann. Wichtig ist deswegen, es nicht isoliert zu verabreichen, sondern im Rahmen einer multimodalen Therapie, um die Aufnahmefähigkeit der Kinder für geeignete pädagogische, psychologische und sozialtherapeutische Maßnahmen zu erhöhen. Deswegen sollten auch Lehrerinnen und Lehrer in der Schule Kenntnis davon haben, wenn Kinder ihrer Klasse sich in einer solchen Therapie befinden.

Hier ist schon darauf hingewiesen worden, daß die für die Behandlung erforderliche ärztliche Diagnose des sogenannten Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms ADS nur dann erstellt werden darf, wenn Verhaltensweisen wie erhöhte Ablenkbarkeit, Impulsivität und in vielen Fällen Hyperaktivität dauerhaft und in den verschiedenen sozialen Situationen auftreten. Gerade hat Herr Beuß plastisch dargestellt, daß häufig aggressives Verhalten und Lernschwierigkeiten zusätzlich auftreten. Aber es kommt natürlich immer darauf an, eine intensive Differentialdiagnose durch

zuführen, denn solche Auffälligkeiten können auch durch viele andere Faktoren wie emotionale, familiäre und soziale Belastungen hervorgerufen werden. Und nicht in allen Fällen, wo man das Gefühl hat, das Kind sei unruhig, darf ein entsprechendes Präparat verordnet werden.

Das Amt für Schule beschäftigt sich seit längerem mit der Frage des angemessenen pädagogischen Umgangs mit ADS. Das Amt für Schule hat sich aber nicht an dem beteiligt, was im nachhinein Arbeitsgruppe genannt worden ist. Es sind vielmehr zwei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu einem Gesprächskreis eingeladen worden, und diese haben den wahrgenommen. Das ist dann später als Gruppe definiert worden. Aber als bekannt wurde, daß die Zusammenkünfte in diesem Zusammenhang zu sehen sind und von der Firma gesponsert werden, was diesen Mitarbeiterinnen vorher nicht bekannt war, haben wir nicht mehr mitgemacht.

Die Beratungslehrer erhalten im Rahmen ihrer Aus- und Weiterbildung Informationen zum Umgang mit ADS. Auch die regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Schulen im Umgang mit unaufmerksamen und impulsiven Kindern unterstützen, und es gibt eine ämterübergreifende Arbeitsgruppe, die sich mit Fragen des pädagogischen Umgangs mit Schülerinnen und Schülern mit Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten beschäftigt.

Geplant ist weiterhin eine interdisziplinäre Fachtagung, die medizinische, therapeutische und pädagogische Aspekte einer wirksamen Prävention thematisieren soll. Außerdem wird zur Zeit ein Auftrag zur Erstellung eines Leitfadens zur pädagogischen Diagnostik vorbereitet, der auch eine Beschreibung der notwendigen schulischen und außerschulischen Maßnahmen bei ADS-Kindern enthalten soll.

Meine Damen und Herren! Es gibt keine Patentrezepte im Umgang mit Kindern mit Aufmerksamkeitsstörungen, und deswegen müssen sich Eltern und Schule den pädagogischen Herausforderungen stellen und nach Antworten suchen. Die jetzt begonnene Diskussion halte ich in diesem Zusammenhang für hilfreich und hoffe sehr, daß sie uns voranbringen wird. Den Vorschlag, den Antrag an den Gesundheitsausschuß zu überweisen, halte ich auch für sinnvoll, denn dort wird man in Ruhe prüfen können, ob der Vorschlag, eine hamburgspezifische Untersuchung anzustellen, Sinn macht. Ich kann es nicht beurteilen, darüber kann man in Ruhe noch einmal reden, und deswegen halte ich das auch für einen guten Vorschlag. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der GAL)

Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung.

Wer stimmt einer Überweisung der Drucksache 16/6639 federführend an den Gesundheitsausschuß und mitberatend an den Schulausschuß zu? – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Dies ist einstimmig so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 48, Drucksache 16/6316: Bericht des Wissenschaftsausschusses über die Neustrukturierung des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf.

[Bericht des Wissenschaftsausschusses über die Drucksache 16/5760: Neustrukturierung des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf (UKE) (Senatsvorlage) – Drucksache 16/6316 –]

(Dr. Dorothee Freudenberg GAL)

Hierzu liegt Ihnen als Drucksache 16/6643 ein Antrag der SPD-Fraktion vor.

[Antrag der Fraktion der SPD: Bericht des Wissenschaftsausschusses über die Neustrukturierung des Universitäts-Krankenhauses Eppendorf (Drucksache 16/5760) – Drucksache 16/6643 –]

Die Bürgerschaft hat in ihrer Sitzung vom 12. Juli 2001 das Gesetz zur Neustrukturierung des UKE mit den vom Wissenschaftsausschuß vorgeschlagenen Änderungen sowie die übrigen vom Senat in der Drucksache 16/5760 beantragten Maßnahmen bereits in erster Lesung beschlossen.

Wer meldet sich zu Wort? – Der Abgeordnete Zamory.