Protocol of the Session on June 22, 2016

(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Andrea Ypsi- lanti (SPD))

„Europa muss sich neu begründen!“ heißt es in einem Aufruf von Gewerkschaften. Dem stimmen wir ausdrücklich zu.

Ihren Antrag des undifferenzierten „Weiter so“, dem jetzt auch die SPD beigetreten ist, werden wir ablehnen. Der Einigungsprozess braucht eine neue identitätsstiftende Leitidee.

Immer mehr Menschen verbinden mit Europa Staatsschulden, Sozialabbau und Bürokratie. Sie entziehen der EU Sympathie und Zustimmung. Dank TTIP und CETA wissen nun deutlich mehr Menschen, welche Interessen die

EU vertritt – nämlich die der großen Konzerne und nicht die der normalen Bevölkerung.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Stephan Grü- ger (SPD))

Wir plädieren für eine europäische soziale Bürgerbewegung, die gegen die desaströse Krisenpolitik und für einen radikalen Politik- und Systemwechsel eintritt.

(Beifall bei der LINKEN)

Auf die resultierende Flüchtlingskrise hat die EU keine Antwort gefunden – höchsten mit Frontex. Statt Fluchtursachen zu bekämpfen und europäische Werte und Grundrechte zu verteidigen, haben die EU-Staaten Mauern und Zäune gebaut, Grundrechte geschreddert

(Holger Bellino (CDU): Ei, ei, ei!)

und ausgerechnet mit dem Terrorpaten Erdogan einen schmutzigen Deal ausgehandelt.

(Holger Bellino (CDU): Ach du lieber Gott!)

In Ungarn und Polen sind schon Rechtspopulisten an der Macht, in vielen anderen EU-Staaten treiben sie die Regierung vor sich her. Gut möglich, dass die von den nationalistischen „Britain First“-Kräften betriebene Brexit-Bewegung morgen erfolgreich sein wird und sich die britische Bevölkerung mehrheitlich für einen Ausstieg aus der EU entscheiden wird. Dass diese Kräfte dabei nicht vor einem Mord an der Labor-Abgeordneten Jo Cox zurückschrecken, besorgt uns sehr und macht deutlich, dass wir uns diesen nationalistischen Tendenzen überall in Europa entschieden entgegenstellen müssen.

(Beifall bei der LINKEN und des Abg. Corrado Di Benedetto (SPD))

Lieber Kollege van Ooyen, Sie müssen zum Schluss kommen.

Letzter Satz. – Nach meiner Auffassung ist es notwendig, dass das Gespenst, von dem Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 sprechen, europaweit international und grenzenlos lebendig gemacht wird. Ein anderes Europa ist möglich – und dringend erforderlich. – Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank, lieber Kollege van Ooyen. – Es gibt keine Wortmeldung aus dem Parlament.

(Wortmeldung der Ministerin Lucia Puttrich)

Frau Staatsministerin Puttrich hat das Wort. Bitte.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Beim letzten Redebeitrag blieb eigentlich nur die Antwort übrig: Dann treten Sie doch aus.

Ich bin ein bisschen darüber erschrocken, dass Europa mit einem solchen Katastrophenszenario beschrieben wird. Ich muss sagen, das wäre ein Redebeitrag bei den Leave-Befürwortern gewesen: zu beschreiben, was in Europa alles schlecht ist, was alles schlimm ist, und Europa auf Griechenland zu beschränken.

Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Ich danke denjenigen, die hier die Vorteile Europas dargestellt haben, die einmal dargelegt haben, was Europa für uns bedeutet.

Das ist in der einen oder anderen öffentlichen Diskussion ein bisschen untergegangen. Ja, es ist richtig: Wir haben viele wirtschaftliche Vorteile. Wir sind ein wichtiger Standort. Wir wollen die Briten bei uns haben. Wir wollen mit ihnen Geschäfte machen – gar keine Frage.

Aber ich glaube, wenn wir über Europa diskutieren, müssen wir noch ein bisschen tiefer gehen: Was hat uns Europa gebracht?

Dazu muss man nur einmal in die Länder hineingehen, die neu dabei sind. Jetzt gehen wir einmal nicht im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zu denjenigen, die eine andere Position dazu haben, ob sie Flüchtlinge aufnehmen oder nicht. Gehen Sie einmal zu den neuen Mitgliedern in den baltischen Staaten. Dort finden Sie glühende Europabefürworter, die heilfroh sind, dass sie dabei sind. Übrigens sind die auch heilfroh, dass sie den Euro haben. Das sind diejenigen, die die Dynamik in Europa vorantreiben, die aber auch ein Stück weit die Problematik Europas darstellen: dass sich Europa verändert hat.

Na klar, Europa hat sich verändert. Es gibt Mitgliedstaaten, die schon lange dabei sind, alte Demokratien. Zum Beispiel ist Großbritannien schon lange dabei. Es gibt aber auch welche, die neu hinzugekommen sind.

Es ist richtig, dass wir auf manche Fragestellungen unterschiedliche Antworten geben. Am Ende aber müssen wir mit einer gemeinsamen Stimme sprechen. Man sollte auch immer wieder einmal hervorheben, was uns Europa gebracht hat: ein einmaliges Friedensprojekt. Lassen Sie uns doch wieder einmal ein bisschen mehr darüber reden, statt in den Zeiten, in denen es schwierig ist, immer wieder zu sagen: Europa taumelt von einer Krise in die andere.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn ich dann höre „Mehr Demokratie in Europa!“ – bitte schön: Die Mitgliedstaaten in Europa sind demokratische Staaten, die – wie Frau Hamann gerade sagte – ihre Werte teilen. Lassen Sie uns doch darüber einmal reden. Lassen Sie uns einmal darüber reden, dass die Mitgliedstaaten ihre Werte teilen und für diese Werte auch kämpfen, und sie in der Gemeinschaft erhalten wollen, gerade in schwierigen Zeiten. Na klar, Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – zu Recht ist gesagt worden, das beschert uns Wohlstand und Sicherheit. Das sind doch die Dinge, um die wir streiten und für die wir kämpfen müssen.

Die Diskussion, wie sie im Moment stattfindet, Thema Brexit, ist eine Gelegenheit, bei der man auch wieder ein

mal mehr über Europa spricht; und das ist der Vorteil bei solchen Diskussionen. In jeder Krise liegt eine Chance.

Natürlich hoffen wir, dass die Briten letzten Endes dabei bleiben. Ich möchte es mir gar nicht vorstellen, dass sie nicht dabei bleiben. Wir werden es morgen sehen.

Sicher geht die Welt nicht unter, wenn die Briten aussteigen. Es darf auch nicht so sein. Aber Europa wird sich verändern, wenn sie aussteigen. Und was wir doch alle miteinander nicht wollen, ist, dass Rechtspopulisten, europafeindliche Gruppierungen die Gelegenheit nutzen, das Projekt Europa zu verlassen. Wir wollen doch gemeinsam für ein erfolgreiches Europa streiten, und zwar nicht nur aus Prinzip heraus, sondern weil es dringend notwendig ist.

Vor einigen Wochen war ich in London und habe sowohl mit Leave-Befürwortern als auch mit Remain-Befürwortern gesprochen. Ja, es ist richtig, die Emotionalität dort ist schon erschütternd, dieser Hass, der dort zum Ausbruch kommt. Die einen wollen das alte Empire zurück haben. Junge Leute, die eigentlich dabei bleiben wollen, sagen: Wir wollen bei Europa bleiben. – Aber sie artikulieren sich nicht in der Art und Weise wie diejenigen, die aussteigen wollen.

Ich kann nur sagen: Hohen Respekt vor einer Leave-Befürworterin, die in den letzten Tagen gesagt hat: Ich steige zum jetzigen Moment aus; ich bin nicht eine, die bei den Brexit-Befürwortern sein will, weil diese fremdenfeindliche Kampagne unerträglich ist; ich mache da nicht mehr mit. – Davor habe ich hohen Respekt, so etwas noch kurz vor dem Ende zu sagen.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Was ich mir wünsche, ist, dass die Emotionalität, mit der diese Debatte geführt wird, ein Stück zurückgeht und man bei der Brexit-Diskussion in eine eher sachliche Debatte geht – dass wir aber gleichzeitig sagen: Lasst uns doch wieder einmal ein paar mehr Emotionen für Europa spüren, nicht nur eine Rationalität, sondern Liebe zu einem Gemeinschaftsprojekt. Lasst uns doch einfach einmal gut reden.

Wenn hier die Beschreibungen vorgetragen werden, warum Europa in den Köpfen der Menschen in einem schlechten Zustand sein soll – sind wir dann nicht selbst ein Stück schuld? Sind wir nicht diejenigen, die es auch im Klein-Klein schlechtgeredet haben? Sind wir nicht diejenigen, die in manchen Bereichen Kritik geübt haben

(Unruhe – Glockenzeichen des Präsidenten)

und nicht die Vorteile hervorgehoben haben? Deshalb will ich zu dem einen Punkt kommen: Was ist die Aufgabe der Regionen, der Länder?

Ich habe das Glockenzeichen gehört. Ich überziehe nur ein bisschen, weil auch alle anderen ein bisschen länger gesprochen haben.

Frau Ministerin, das galt nicht Ihrer Redezeit. Es war etwas Unruhe im Haus, deshalb. – Bitte sehr.

Wir haben in den Ländern, auf der Ebene, auf der wir sind, zum einen die Aufgabe und die Pflicht, logischerweise die Interessen unserer Bundesländer nach Brüssel zu tragen – dafür haben wir eine Landesvertretung, die eine gute Arbeit macht –; umgekehrt haben wir auch die Aufgabe, den europäischen Gedanken in unser Land, nach Hessen, hineinzutragen. Wir müssen ihn hineintragen. Wir sind diejenigen, die die Menschen begeistern können.

Ja, wir müssen darüber reden, was es uns bringt. Wir müssen darüber reden, welche Projekte verwirklicht werden. Wir müssen sagen, wohin europäische Mittel fließen, und können nicht immer so tun, als sei das in irgendwelchen Regionen weit weg, und wir hätten keine Möglichkeiten – sei es in der Wissenschaft, sei es in der Forschung, sei es im Bereich der Hochschulen, sei es im Bereich der Industrie, sei es in der Wirtschaft, sei es in der Landwirtschaft.

Wenn es uns gelingt, den Menschen zu vermitteln: „Wir haben viel von Europa, sowohl im inhaltlichen als auch im fachlichen und wirtschaftlichen Bereich, aber auch innerhalb des Projekts Frieden und Freiheit“, dann können wir unseren Teil dazu beitragen, um deutlich zu machen: Die Diskussion um den Brexit ist eine, um das Bewusstsein der Menschen wieder ein bisschen mehr zu schärfen.

Und dies zum Schluss: Ja, Hessen ist ein Bundesland, das sehr europäisch ist, mitten in Deutschland, mittendrin, ich möchte fast sagen: eines der europäischsten Bundesländer innerhalb Deutschlands. Wir sind diejenigen, die Impulse setzen können, wir sind diejenigen, die Signale geben können, wir sind diejenigen, die Begeisterung ausdrücken können.

Was ich mir mit Ihnen gemeinsam wünsche, ist klar: Morgen, bei der Abstimmung über den Brexit, wird hoffentlich das Ergebnis erzielt, dass die Briten dabei bleiben. Denn eines ist auch klar: Lieber ein kritisches Mitglied in einer Gemeinschaft, was es uns gemeinsam möglich macht, die Gemeinschaft zu verbessern, als eines, das als kritisches Mitglied aussteigt und die Möglichkeit der Veränderung nicht gibt.

In diesem Sinne: Hoffen wir alles Gute für morgen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.