Protocol of the Session on September 22, 2015

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Flüchtlingskrise ist eine Herausforderung für Deutschland, ist eine Herausforderung für Hessen. Aber sie ist vor allem – das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren – eine Herausforderung für die Flüchtlinge, die ihre Länder verlassen müssen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Rede die Frage stellen, wie die Situation in den Ländern ist, aus denen die Menschen fliehen. Wovor fliehen die Menschen?

Schauen wir nach Syrien. Was im Jahre 2011 hoffnungsvoll als arabischer Frühling begann, wurde brutal niedergeschlagen. Es gab in Syrien Massenexekutionen. Es wird davon ausgegangen, dass in Syrien Giftgas zum Einsatz kommt. Hier hält sich ein barbarisches Regime im Kampf gegen die eigene Bevölkerung an der Macht.

Das ist die Situation, vor der mittlerweile 11 Millionen Menschen – 11 Millionen Menschen –, die Hälfte der Bevölkerung Syriens, auf der Flucht sind. 7 Millionen davon sind es innerhalb ihres Landes. 4 Millionen haben das Land verlassen, weil sie vor diesen barbarischen Zuständen, vor dem Terror des IS und vor dem eigenen Regime fliehen. Wir sollten uns immer vergegenwärtigen, über welche Schicksale wir angesichts dieser Situation reden.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Es kommen viele Menschen aus dem Irak zu uns. Das ist ein Land, das faktisch keine staatliche Ordnung mehr hat. Es ist ein Land, in dem Rebellen gegeneinander kämpfen. Das ist ein Land, in dem auch die Terrorgruppe IS aktiv ist. Es ist ein Land, in dem seit dem Ende des letzten IrakKrieges Hunderttausende Zivilisten ermordet wurden. Auch hier gab es Massenexekutionen, Vergewaltigungen, ethnische Säuberungen und brutales Vorgehen gegen die Jesiden. 4 Millionen Menschen sind im Irak auf der Flucht vor diesen Zuständen.

Schauen wir nach Afghanistan. Auch Afghanistan ist alles andere als ein stabiler Staat. Da gibt es alles andere als eine Situation, in der die Dinge geregelt werden. Auch hier wird die staatliche Ordnung vielfach nicht akzeptiert und infrage gestellt. Es gibt gewaltsame Konflikte zwischen den Taliban, der Regierung und regierungsfeindlichen Gruppen. 3,7 Millionen Menschen sind vor diesen Zuständen auf der Flucht.

In Eritrea geht ein totalitäres Militärregime gegen die eigene Bevölkerung vor. Dort sind willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann dort völlig willkürlich von der Straße weg zu Arbeits- und Militärdiensten auf unbestimmte Zeit eingezogen werden. 400.000 Menschen sind dort auf der Flucht.

Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Situation in diesen Ländern ist, dann verstehen wir, dass diese Menschen auf der Flucht sind. Daraus erwächst eine Verantwortung. Denn das Maß unserer Hilfsbereitschaft sollte das Leid und das Elend der Flüchtlinge sein.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Ger- hard Merz (SPD))

Ja, wir stehen vor großen Herausforderungen in Deutschland, in Europa und in Hessen. Ja, es wird uns sehr viel abverlangen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. Aber wir können das packen, wir wollen das packen, und wir müssen das packen. Denn die Anstrengungen, die wir als wohlhabendes Land auf uns nehmen, sind ungleich geringer als das Leid und das Elend, vor dem die Menschen flüchten.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Wenn wir sehen, welche Hilfsbereitschaft es in unserem Land in diesen Tagen gibt, dann merken wir, dass viele Menschen genau diese Zusammenhänge kennen. Sie wissen um die Verantwortung. Sie engagieren sich in wirklich vorbildlicher Weise.

Die Aufgabe der Politik wird es sein, diese Hilfsbereitschaft dauerhaft zu erhalten. Auf diese Hilfsbereitschaft muss aufgebaut werden. Diese Hilfsbereitschaft muss ernst genommen werden. Die Politik muss alles tun, was wir tun können, um diese Hilfsbereitschaft zu unterstützen. Denn es wäre wirklich fatal, wenn wir eine hilfsbereite Bevölkerung hätten, und die Antwort der Politik wäre der übliche Parteienstreit. Ich werde später darauf noch zurückkommen.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Zur Wahrheit in dieser Debatte gehört auch, dass all die Probleme, wegen derer die Menschen fliehen, nicht neu sind. Auch, dass Menschen fliehen, ist alles andere als neu. Wir wissen schon lange, dass im Libanon, in der Türkei, in Jordanien und im Irak viele Menschen auf der Flucht sind. Millionen Menschen haben Zuflucht gefunden. Es wird davon ausgegangen, dass es 1,3 Millionen Menschen im Libanon, 2 Millionen Menschen in der Türkei, eine halbe Million Menschen in Jordanien und 2 Millionen Menschen im Irak sind.

Auch an den europäischen Grenzen von Griechenland und Italien ist das Problem schon lange angekommen. Dort ist die Flüchtlingskrise schon lange ein Thema. Deshalb müssen wir uns auch sagen lassen, dass wir zu lange weggeschaut haben und dass die Probleme für uns zu lange zu weit weg waren. Jetzt sind sie im wahrsten Sinne des Wortes vor unserer Haustür angekommen. Auch daraus erwächst eine Verpflichtung.

(Zustimmung bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU und der SPD)

Es erwächst auch eine Verpflichtung für uns, weil die westliche Welt alles andere – wirklich alles andere – als unschuldig an den Zuständen in den Ländern ist, aus denen die Menschen fliehen.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): So ist es!)

Das große Thema auf diesem Planeten ist die ungleiche Verteilung der Armut und des Reichtums.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Michael Boddenberg und Holger Bellino (CDU))

Diese ungleiche Verteilung hat viel damit zu tun, dass wir in vielen Staaten keine stabile staatliche Ordnung haben. Das hat viel damit zu tun, dass die Menschen in ihrer Heimat keine Zukunft sehen. Das hat viel mit unserer Wirtschaftsweise und damit zu tun, dass einige Länder sehr reich und andere Länder bitterarm sind. Auch da gibt es einen Auftrag, der uns aus dieser Debatte heraus entsteht.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Schauen wir nach Eritrea oder insgesamt nach Afrika. Das ist ein geschundener Kontinent. Es ist ein Kontinent, der immer noch von den Nachwirkungen der Kolonialisierung geprägt ist und von der Ausbeutung, die einzelne Länder diesem Kontinent angetan haben. Auch das gehört zu dieser Debatte. Auch hier tragen wir mit Verantwortung.

Wenn wir uns anschauen, wie die Staatengemeinschaft mit Konflikten auf dieser Welt umgeht, dann erkennen wir, dass doch allzu oft nach dem Prinzip gehandelt wurde: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. – Alles, was danach kommt, interessiert mich nicht. Die werden unterstützt. Da werden Waffen geliefert.

Dann stellt man fest, dass man die Auswirkungen in diesen Ländern überhaupt nicht im Griff hat. Man destabilisiert diese Länder. Man destabilisiert ganze Regionen. Auch das gehört zu unserer Verantwortung hinsichtlich der Flüchtlingskrise, die wir gerade erleben.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abg. Judith Lannert (CDU) und Janine Wissler (DIE LINKE))

Dazu gehört auch, dass wir über das Thema Waffenexporte reden. Denn noch immer machen viele Länder viel zu gute Geschäfte mit dem Elend und dem Krieg in anderen Ländern.

Wir haben zu spät hingesehen. Wir sind alles andere als unbeteiligt an den Zuständen, vor denen die Menschen fliehen. Deshalb gilt, dass aus dieser Mitverantwortung eine Verpflichtung entsteht, die Flüchtlinge in unserem Land bestmöglich willkommen zu heißen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Diese Flüchtlingsbewegung ist Teil dessen, was wir Globalisierung nennen. Auch das gehört zur Globalisierung. Globalisierung ist nicht nur der weltweite Markt des Kapitals. Globalisierung ist nicht nur das schicke und bequeme Surfen im World Wide Web vom Wohnzimmer aus. Globalisierung hat vor allem etwas mit den Menschen zu tun. Das erleben wir in diesen Tagen sehr deutlich.

Globalisierung bedeutet, dass die Probleme der Menschen überall auf dieser Welt auch unsere Probleme sind. Globalisierung macht die Welt zum Dorf. Sie holt die Probleme der Welt in jedes Dorf. Das ist es, was geschieht, wenn wir heute Flüchtlinge in unseren Dörfern, Gemeinden, Städten und Landkreisen willkommen heißen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

„Global denken, lokal handeln“, dieses Prinzip gewinnt in dieser Krise eine neue Aktualität. Wir müssen zum einen lokal handeln und den Flüchtlingen helfen. Wir müssen aber auch global denken und die Fluchtursachen bekämpfen.

Ich habe einiges schon angefügt. Aber wenn wir global denken, dann gehört in diesen Zusammenhang auch, dass nach wie vor die Art, wie wir wirtschaften, zulasten eines ganzen Teils unseres Planeten geht. Unsere Form, zu wirtschaften, ist nicht globalisierbar, und zwar weder im ökonomischen noch im ökologischen Sinne.

Dazu gehört, dass die Klimakrise gelöst werden muss. Denn es werden vor allem die Menschen in den armen Ländern sein, die von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sein werden. Sie werden sich dann auch auf die Flucht machen. Auch deshalb müssen wir dieses Thema bearbeiten.

Wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir Lebensmittel produzieren und in welchen Ländern das zulasten der

Menschen geht. Es geht um unseren Wohlstand und unsere Bequemlichkeit. Auch das werden die Debatten sein, die elementar mit dem Thema zu tun haben, weshalb so viele Menschen zurzeit auf dieser Welt fliehen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Flüchtlingskrise hätte die Stunde der Vereinten Nationen sein müssen – sie war es bislang leider nicht. Herr Schäfer-Gümbel hat es schon angesprochen: Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, fehlen die Mittel, die im Libanon und den angrenzenden Krisenstaaten dringend für Flüchtlinge gebraucht werden. Die Mittel pro Flüchtling im Libanon beispielsweise sind sogar zurückgegangen. Die Staatengemeinschaft kann sich bis heute nicht darauf einigen: Wie geht sie mit den Zuständen in Syrien um, was kann eine internationale Strategie in der Syrienfrage sein?

Meine Damen und Herren, jetzt seien wir doch einmal ehrlich. Was für ein gigantischer Unterschied: Wie schnell konnte sich die Staatengemeinschaft darauf einigen, Banken zu retten, und wie schwer tut sie sich damit, Flüchtlinge zu retten?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sollte von diesem Hessischen Landtag auch eine ganz klare Botschaft ausgehen: Menschen sind vor allem anderen systemrelevant, und Menschen muss geholfen werden. So, wie es gelungen ist, ein Rettungspaket für Banken zu schnüren, muss es uns auf der internationalen Ebene gelingen, ein Rettungspaket für Menschen, ein Rettungspaket für Flüchtlinge zu schnüren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Die Flüchtlingskrise hätte auch die Stunde Europas sein können – auch das war sie bislang leider nicht. Statt mit einem gemeinsamen Vorgehen der Europäischen Union wurde mit einzelstaatlichen Maßnahmen reagiert. Wir sind in diesem Jahr im 25. Jahr der deutschen Einheit – welch ein Glück für unser Land. Wir sind im 26. Jahr, in dem der Eiserne Vorhang, in dem Grenzbarrieren gefallen sind. Was ist das für eine Antwort von Europa, wenn 25 Jahre nach der deutschen Einheit nicht mit Solidarität, nicht mit den Werten von Europa auf die Flüchtlingskrise reagiert wird, sondern mit Stacheldraht und neuen Grenzen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU)

Deshalb ist es gut, dass die Innenminister der europäischen Staaten heute verhandeln, heute versuchen, Lösungen zu finden. Denn diese Situation, die Flüchtlingskrise, schreit geradezu nach einer europäischen Lösung, schreit nach einer gemeinsamen Anstrengung der 28 Staaten, und sie schreit auch danach, dass wir das Dublin-Abkommen endlich überwinden;

(Janine Wissler (DIE LINKE): Allerdings!)

denn das Dublin-Abkommen kann in zwei Richtungen nicht funktionieren. Es kann nicht funktionieren, dass wir die Hauptlast für die Flüchtlingskrise in Griechenland, in Spanien, in Malta und in Italien haben und andere Länder daran überhaupt nicht beteiligt sind. Umgekehrt wird es nicht funktionieren, dass allein Deutschland die Probleme der Flüchtlingskrise löst. Deshalb müssen wir das als Chance für eine neue europäische Lösung, für einen neuen