Herr Präsident, meine Damen und Herren! Niemand macht ohne triftigen Grund eine Wahlkreisreform. Anlass für die Notwendigkeit, Wahlkreise neu einzuteilen, sind zwei Fakten, die in der bisherigen Debatte von niemandem in Zweifel gezogen wurden. Das ist zum einen die demografische Entwicklung. Wir haben in Nordhessen eine Bevölkerungsabnahme im ländlichen Raum und in Südhessen eine Bevölkerungszunahme in den Ballungsgebieten. Zum anderen gelten in einer Demokratie Wahlrechtsgrundsätze, dass Wahlen „allgemein“, „unmittelbar“, „frei“ und „geheim“ sein müssen. Sie müssen auch „gleich“ sein, d. h., jede Stimme muss den gleichen Zähl- und Erfolgswert haben. Der Gleichheitsgrundsatz ist auch bei der technischen Gestaltung der Wahl, also auch bei der Wahlkreiseinteilung, zu beachten. Durchschnittlich kommen 80.000 Wahlberechtigte auf einen hessischen Landtagswahlkreis. Aber wir haben weitaus auffällige Extreme. Um nur zwei zu
nennen: Der Wahlkreis Rotenburg liegt um 28,8 % unter diesem Schnitt; und der Wahlkreis Gießen I liegt mit 28,9 % über diesem Schnitt. Angesichts dieser Umstände hat die FDP auf das Schreiben des Innenministers reagiert und verfassungsrechtliche Bedenken geäußert.
Die aktuelle Situation lässt sich angesichts der bereits gravierenden Differenzen nicht aufrechterhalten. Es muss sich etwas ändern. Eine Toleranzgrenze von 25 % ist das Maß an Abweichungen, wie sie auch andere Bundesländer haben und wie sie der Bund als Grenze festgelegt hat. Ab dann ist eine Neuabgrenzung vorzunehmen. Auch wir sind nach dem Anschreiben des Innenministers und den eben erwähnten Rückmeldungen der FDP zu der Auffassung gekommen, dass man, wenn man die Toleranzgrenze von 25 % ernst nimmt, in wenigstens acht Wahlkreisen mit Blick auf die Rechtssicherheit der Wahl Änderungen vornehmen muss.
Wir als Parlamentarier, kein anderer, regeln die Kriterien der Zusammensetzung. Das ist ganz ausdrücklich keine Sache der Regierung. CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, der Rechtssicherheit schafft und zeitnah im Sinne des Kontinuitätsgedankens nur zwingend erforderliche Änderungen anhand mathematischer Notwendigkeiten regelt und in insgesamt 14 Wahlkreisen Änderungen vornimmt. Wir nehmen diese Anpassungen auf der Basis der aktuell verfügbaren statistischen Zahlen vor. Ich sage ganz ausdrücklich: Auch wir würden uns einen aktuelleren validen Datenbestand wünschen.
(Günter Rudolph (SPD): Das konnte man auch gar nicht feststellen! Dann haben alle geschlafen! Abends werden die Faulen fleißig!)
Er liegt aber nicht vor, und alle anderen Vorschläge, wie etwa auf Wahlverzeichnisse der Bundestagswahl zurückzugreifen, führen lediglich zu Annäherungswerten, die nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Wir haben diesen unbefriedigenden Zustand natürlich im Rahmen der Anhörung beim Hessischen Statistischen Landesamt hinterfragt und von der Präsidentin, Frau Dr. Figgener, folgende Antworten erhalten:
Ich wurde nach dem Grund der Verzögerungen der amtlichen Statistikzahlen gefragt. Das ist ein bundesweites Problem. Es liegt nicht in Hessen. Es ist eine schwierige Programmierung. Wir verwerten die Daten aus allen Ländern in einem einzigen Programm. Das sind über 10 Millionen Datensätze, die aus Tausenden von Meldebehörden kommen. Es handelt sich um Daten der Kommunen aus den Melderegistern, die in die Statistik eingehen. Das ist hochkomplex. Dafür ist ein neues Programm erforderlich, das komplexer war, als es sich die programmierenden Ämter gedacht haben. Diese sitzen nicht in Hessen. Das sage ich dazu.
Hinzu kam, dass der Standard der Datenlieferung von den Meldebehörden mitten in die Programmierung auf den sogenannten X-Meld-Standard geändert wurde. Darauf werden jetzt alle Datenlieferungen im öffentlichen Bereich umgestellt.
Das sind die beiden Gründe, die für eine bundesweite Verzögerung gesorgt haben. Jetzt ist man bei einer sogenannten Aufholjagd.
Die zweite Frage war, ob man aus Wählerverzeichnissen oder auf anderem Wege die Zahl der Wahlberechtigten für die Bundestagswahl ermitteln kann. Das ist kein Geheimnis. Diese Zahl ist da; sie steht im Internet. Aber das hat jetzt nichts mit Statistik zu tun. Deshalb verstehe ich den Vorwurf an die Statistik nicht. … Ich gehe nicht davon aus, dass sie deckungsgleich ist. Das habe ich nicht untersucht. Es kann nicht ganz deckungsgleich sein, weil die rechtliche Grundlage andere Merkmale enthält.
Meine Damen und Herren, wir haben keinen anderen Datenbestand. Wir müssen auf den vorhandenen Datenbestand zurückgreifen, da beißt die Maus keinen Faden ab, unter der Berücksichtigung, dass wir eine weitestgehende Kontinuität wollen; denn Sie müssen sich einmal vorstellen, bei den schon jetzt vorgenommenen Änderungen waren logischerweise alle betroffenen Bürgermeister dagegen. Wenn wir andere Kriterien heranziehen würden, wären viel mehr Wahlkreise betroffen. Wir hätten genau die gleichen Argumente gehört, wobei noch viel mehr dagegen gewesen wären. Keiner möchte die Änderungen bei sich haben. Das erinnert mich an das Sankt-Florians-Prinzip, wo man sagt: Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andere an. – Alle sehen die Notwendigkeit von Änderungen, aber keiner war bereit, die Änderungen bei seiner Kommune vornehmen zu lassen.
Wir schlagen einen minimalinvasiven Eingriff vor; so würde es der Mediziner sagen. Ich habe einmal nachgeschaut, laut Duden heißt das: „Die Durchführung operativer Eingriffe ohne größere Schnitte“. Entsprechend machen wir mit klaren Grundsätzen eine minimalistische Lösung, die Rechtssicherheit schafft. Es geht um die Wahlkreisgrößen; diese werden angeglichen. Es geht um ein zusammenhängendes Gebiet, das erforderlich ist. Wir haben auch natürliche, historische, politische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen zu berücksichtigen, und das alles, so sagt der Gesetzentwurf, muss gegeneinander abgewogen werden und in einer Weise zum Ausgleich gebracht werden, dass alle Interessen berücksichtigt werden.
Wir haben einen Vorschlag vorgelegt. Ich kenne keinen anderen, und ich kenne keinen besseren, der diesen Kontinuitätsgedanken beinhaltet.
Die Sachverständigen selbst sagen: Man kann auch weit größere Eingriffe vornehmen. – Ich darf Herrn Prof. Dr. Will zitieren, Seite 16 des Protokolls:
Kreisgrenzen sind kein Dogma. Es gibt diverse rechtliche Vorgaben in anderen Bundesländern, nach denen sogar Gemeindegrenzen durchschnitten werden können.
Das wollen wir alles nicht. Wir wollen eine weitestgehende Kontinuität im Sinne von Rechtssicherheit. Das ist unser Vorschlag. Nichts anderes liegt in diesem Hause bis zum
jetzigen Zeitpunkt vor. Wir haben hier viele Besserwisser, aber keinen Bessermacher, meine Damen und Herren.
Für eine grundlegende Befassung mit dem Landtagswahlgesetz sollten wir uns in der nächsten Wahlperiode auf den Weg machen. Deshalb haben wir in dem heute eingebrachten Änderungsantrag Drucks. 19/5450 einen Vorschlag für diesen gemeinsamen Weg erarbeitet. Der neue § 7 Abs. 4 sieht entsprechend dem Bundeswahlgesetz die Regelung vor, dass dem Hessischen Landtag zukünftig in jeder Wahlperiode eine Wahlkreiskommission über Änderungen der Bevölkerungszahlen im Wahlgebiet berichtet und Änderungsvorschläge unterbreitet.
Die Mitglieder der Wahlkreiskommission sollen nach dem Beginn der Wahlperiode vom Präsidenten des Hessischen Landtags ernannt werden. Die Wahlkreiskommission soll sich aus dem Landeswahlleiter als dem Vorsitzenden, dem Präsidenten des Hessischen Statistischen Landesamtes, dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs und fünf Abgeordneten zusammensetzen. Mit dieser Wahlkreiskommission wollen wir ein objektives, unabhängiges und neutrales Gremium schaffen, das dann entsprechende Kriterien erarbeiten kann, um eine große Reform anzugehen. Um diese Änderungen entsprechend zu bewerten – wir haben den Änderungsantrag heute eingebracht –, werden wir natürlich auch im eigenen Interesse eine dritte Lesung beantragen.
Wir können Änderungen vornehmen. Wir haben im Änderungsantrag auch eine kleine Änderung vorgenommen, die einen Vorschlag beinhaltet, der nicht zulasten Dritter geht. Im südhessischen Bereich hat die Gemeinde Groß-Rohrheim selbst vorgeschlagen, dass sie eine andere Zuteilung wünscht. Das ist unter Beibehaltung der von mir genannten Kriterien möglich. Die Wahlkreisgrenzen werden eingehalten; die entsprechenden Toleranzzahlen werden eingehalten. Es ist eine Möglichkeit, dass man zum einen dem Ansinnen entgegenkommen und zum anderen die entsprechenden politischen Gebietskörperschaften berücksichtigen kann. Das entspricht im Übrigen dem Wunsch der Gemeinde, des Kreistags und meiner zwei Kollegen aus dem Kreis Bergstraße, die diesen Vorschlag selbst in die Debatte eingebracht haben. Ich bin gespannt, wie sie sich dazu verhalten werden.
Meine Damen und Herren, wir dürfen noch eines festhalten: Wir haben einen Vorschlag vorgelegt, der Rechtssicherheit schafft. Auf Alternativen warte ich bis heute. Ich kann nicht erkennen, wie man dieses Problem in der Kürze der Zeit besser lösen könnte. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Das Schreiben des Ministers des Innern und für Sport vom 25. April 2017 wird immer und immer wieder im Protokoll des Landtags und vielleicht auch darüber hinaus gebraucht. Der Innenminister schreibt in den letzten beiden Absätzen: altes Datenmaterial, Stand 31.12., weitere Entwicklungen müsse man unberücksichtigt lassen, wenn man handeln wolle. Letzter Absatz:
Ich rege vor diesem Hintergrund an, eine Neuabgrenzung der hessischen Landtagswahlkreise auf der Basis der dann aktuell vorliegenden Bevölkerungszahl in der neuen Wahlperiode anzugehen. Bei dieser Gelegenheit könnte man auch eine Wahlkreiskommission … machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dann kommt ein Brief bzw. eine Vorlage von Herrn Bouffier an Herrn Schäfer-Gümbel, und dann kommt irgendwann ein Gesetzentwurf von Schwarz-Grün. Herr Innenminister Beuth, was hat sich eigentlich zwischen dem 25. April – dem Datum Ihres Schreibens – und der Einbringung des Gesetzentwurfs geändert? Warum machen Sie jetzt einen Paradigmenwechsel?
Herr Kollege, jetzt hören Sie doch auf, das können Sie noch nicht einmal in Neu-Anspach erzählen, dass Sie auf ein Schreiben der Opposition reagieren und etwas umsetzen. Hören Sie doch auf, das ist geradezu kindisch.
Erste Lesung im Hessischen Landtag: Wir haben den Gesetzentwurf an vielen Punkten für problematisch gehalten. Am 9. November Anhörung im Hessischen Landtag: Meine sehr verehrten Damen und Herren, der eine oder andere Kollege war da, selten war in einer Anhörung ein Urteil über einen Gesetzentwurf so vernichtend.
(Michael Boddenberg (CDU): Den Satz habe ich von Ihnen mindestens schon 30-mal gehört. Das scheint Ihr Standardsatz zu sein!)
Dann stellt sich Kollege Bauer hin und wagt es, zwei Sätze von Herrn Will zu zitieren. Herr Bauer, Sie sollten alles von Herrn Will zitieren. Im Ergebnis sagen die Sachverständigen, die Rechtsgutachter: Dieser Gesetzentwurf ist in einigen Bereichen verfassungswidrig. – Das ist eine klare Aussage.
Sie reden heute Morgen von „nach Kompromissen suchen“ und „gemeinsam etwas machen“. Herr Kollege Bellino, es ist relativ einfach: Wir wollen ein geordnetes Verfahren, kein Hauruckverfahren, wie Sie das machen. Wir wollen Kriterien, die nachvollziehbar sind, und wir wollen, dass Landtagswahlkreise nicht nach politischen Gesichtspunkten zusammengeschustert werden, dass es möglicherweise der CDU nutzt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das wollen wir dezidiert nicht.
Aktuelles Datenmaterial gibt es nicht, das werden wir alles noch einmal in Ruhe überprüfen. Dann ermitteln Sie eben
händisch in 426 Gemeinden die Zahlen. Das ist machbar. Ein Gutachter hat gesagt, der Aufwand dürfe bei so wichtigen Fragen nicht die Rolle spielen. Herr Innenminister, im Übrigen haben Sie dreieinhalb Jahre Zeit gehabt. Sie haben dreieinhalb Jahre die Entwicklungen verpennt, so wie beim Verfassungsschutz. Abends werden bestimmte Leute fleißig. Dreieinhalb Jahre Zeit, die uns jetzt fehlen, die hätten wir gut gebrauchen können.
Ein Beispiel aus der Anhörung. Der Bürgermeister der Gemeinde Niederdorfelden aus dem Main-Kinzig-Kreis hat vorgetragen, dass dort schon jetzt mit den Veränderungen die 25-%-Grenze nicht erreicht wird. Wir haben dagegen in einigen Regionen um Frankfurt, um Wiesbaden, um Hanau, im Main-Kinzig-Kreis, im Kreis Bergstraße Veränderungen. Wir werden Handlungsbedarf haben, der weit über diese jetzt vorliegenden Änderungen hinausgeht.
Herr Bellino, das haben wir Ihnen gesagt. Wir werden eine umfassende Wahlkreisreform durchführen. In der ersten Lesung habe ich gesagt: Wir wissen nicht, ob wir dann Landkreisgrenzen einhalten können. Wir wollen das aber in einem sauberen und transparenten Verfahren und nicht kurz vor Toresschluss. – Das war das Ergebnis der Anhörung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist an dieser Stelle nicht haltbar, aber bei Ihnen gilt augenscheinlich: Augen zu und durch.