Protocol of the Session on May 4, 2017

An dieser Stelle wiederhole ich das, was René Rock gesagt hat. Ich fand das ein bisschen ärmlich. Selbstverständlich müsste dies alles in einer Landessozialberichterstattung berücksichtigt werden. Ein paar Hinweise, was dabei zu bedenken gewesen wäre oder noch zu bedenken ist, wären

schon hilfreich gewesen. Was nicht ist, kann aber noch werden.

Da wir die Anträge im Ausschuss haben werden, will ich ausdrücklich anbieten, dass wir uns fraktionsübergreifend zusammensetzen und einmal genau das tun, wovon ich jetzt versucht habe zu sprechen, nämlich auf der Grundlage des Landessozialberichts eine genaue politische Analyse vorzunehmen. Mit wem haben wir es zu tun? Welche Maßnahmen haben wir in den unterschiedlichen Feldern bisher schon seitens der Landesregierung, seitens der Kommunen und seitens der Träger der freien Wohlfahrtspflege ergriffen? Inwieweit haben diese Maßnahmen gewirkt? Können wir sagen, dass sie gewirkt haben? Können wir sagen, dass sie nicht gewirkt haben? Welche Bedingungen müssten gegeben sein, damit sie wirken können? Wie bringen wir die Hilfe, die es häufig schon gibt, an die Personen, die diese Hilfe benötigen? Wie schaffen wir es, diese Hilfe im Zusammenwirken mit den Organisationen der freien Kinderund Jugendhilfe sowie mit vielen ehrenamtlichen Initiativen und Stiftungen dauerhaft zu organisieren?

Jetzt lassen Sie mich noch einige Worte zu dem zweifellos zentralen Punkt sagen, über den man sprechen muss, wenn man von Kinder- und Jugendarmut diskutiert. Wir wissen, dass Kinder- und Jugendarmut in Familien vererbt wird.

In der Stadt Gießen haben wir drei angestammte soziale Brennpunkte, über die unser früherer Ehrenbürger HorstEberhard Richter viel geschrieben hat. Aber auch andere haben sich auf diesem Feld verdient gemacht. Wir konnten über Jahrzehnte hinweg beobachten, wie sich Armut vererbt und wie sie sich namentlich über Bildungsarmut vererbt, nämlich über den schlechteren Zugang zu besseren Bildungschancen.

Das ist trotz allem, was über Jahrzehnten hinweg in unterschiedlichen Konstellationen erreicht worden ist, nach wie vor so. Da beißt die Maus keinen Faden ab, dass Kinder aus einkommensschwächeren Familien schlechtere Bildungschancen haben. Das gilt übrigens für kleine und mittlere Einkommen. Das ist genau der Punkt, sodass ich sage, dass kostenfreie Angebote zur frühkindlichen Bildung und Kinderbetreuung auch ein Beitrag zur Prävention vor Familienarmut sind. Hohe Kosten entstehen im U-3-Bereich. Hier sehen wir am deutlichsten, wie sozial-selektiv das Angebot an Kinderbetreuung ist. Ich glaube, im Evaluationsbericht steht das auch. Wir wissen das aber auch aus anderen Quellen. Wir haben das in der Enquetekommission Bildung herausgearbeitet. Hier haben wir ein stark sozial-selektives Nutzungssystem. Das hat selbstverständlich auch etwas mit den Preisen zu tun, weil nicht jeder, der sich das nicht leisten kann, zum Jugendamt geht und bei der Wirtschaftlichen Jugendhilfe die Kostenübernahme beantragt. Selbst derjenige, der das tut, bekommt das nicht genehmigt.

Wir haben eine Kleine Anfrage hierzu gestellt, auf deren Beantwortung ich sehr gespannt bin. So viel zu dem Punkt in ihrem Antrag, Frau Kollegin Ravensburg. Das gilt auch für den Bereich der Nachmittagsbetreuung an Schulen. Der Pakt für den Nachmittag und vieles andere, was damit einhergeht, ist kostenpflichtig. In einem Berichtsantrag ist herausgearbeitet worden, dass die Kosten zwischen 40 € und 260 € betragen.

Nun gehen Sie einmal zu einem Jugendamt und beantragen die Übernahme der Kosten dafür. Beantragen Sie das einmal für ein Flüchtlingskind. Da werden Sie Ihr blaues

Wunder erleben, was da für eine Freude aufkommt, wenn diese Kosten übernommen werden sollen.

Herr Merz, kommen Sie bitte zum Ende.

Ich komme zum Ende. – Das heißt, wenn man all dies anpacken will, dann könnten wir weitere fünf bis zehn Debatten im Landtag führen. Ich bleibe dabei, dass eine Entlastung der Familien insgesamt nicht nur eine Entlastung der Familien ist, sondern auch einen größeren Anreiz bietet, Kinder früh in Kinderbetreuungseinrichtungen zu bringen. Das ist ein Beitrag zur Durchbrechung der Spirale der Kinderarmut durch Bildungsarmut.

Mein Angebot steht, sich darüber fraktionsübergreifend weiter zu verständigen. – Danke schön.

(Beifall bei der SPD)

Danke, Herr Merz. – Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht jetzt Herr Bocklet.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es überraschend positiv, dass es doch eine sehr sachliche Diskussion über Kinderarmut geworden ist. Das ist nicht immer selbstverständlich, wenn es darum geht, das Wort „Skandal“ zu benutzen. Dennoch kann ich mich den Vorrednern anschließen. Es ist natürlich insgesamt ein Skandal, dass wir so viele arme Kinder haben. Ich würde bei den Gemeinsamkeiten hier im Saal gerne einen Schritt weitergehen. Ich glaube, dass jedes Kind, das in Armut lebt, ein Kind zu viel ist, und dass wir alle, die wir hier im Raum sitzen, darin übereinstimmen, dass wir diese Kinderarmut vermeiden wollen, reduzieren wollen und zukünftig möglichst gar nicht mehr haben wollen. Darüber sollte doch Einigkeit bestehen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU)

Es ist viel gesprochen worden, Kollege Merz, Kollege Rock. Warum aber reden wir so viel von Kinderarmut, wenn es doch eigentlich selbstverständlich ist, dass es um Familienarmut geht? Was macht es so skandalös, dass das Kind in Armut lebt, wenn man weiß, dass die Familie in Armut lebt? Warum ist das weniger skandalös, wenn es die Familie ist?

Ich finde es in hohem Maße bedauerlich, dass Menschen ihr eigenes Einkommen nicht erwirtschaften können und dass sie deshalb in den SGB-II-Bezug fallen. Genau so ist Armut ja definiert. Nach der sozialstaatlich definierten Armutsgrenze gelten diejenigen Kinder als arm, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, also in einem Haushalt, der Leistungen nach dem SGB II erhält.

Das heißt, diese Menschen schaffen es aus unterschiedlichen Gründen nicht, ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften. Das ist der Ansatzpunkt Nummer eins. Ich glaube, dass jede politische Ebene, die Kommunalpolitik, die

Landespolitik und die Bundespolitik, ihre Hausaufgaben zu erledigen hat. Herr Merz, Sie haben es selbst angesprochen. Ich habe auch sehr lange Kommunalpolitik betrieben. Sie machen Kommunalpolitik in Gießen. Wir können das gern an einem Beispiel festmachen. Soziale Brennpunkte gibt es nicht nur in Gießen, sondern soziale Brennpunkte haben wir auch in Frankfurt. Dass es diese schon seit Jahrzehnten gibt, bedeutet aber auch, dass es seit Jahrzehnten nicht gelungen ist, diese aufzulösen. Es gibt beispielsweise immer noch Orte, an denen Menschen zusammenkommen, die über ein geringes Einkommen verfügen, denen es offensichtlich nicht gelingt, durch Netzwerke einen besseren Zugang zu Bildung zu erreichen.

Da das so ist, könnte man genauso gut sagen, dass man einmal genauer nachschauen müsste, warum es uns nicht gelingt, diese sozialen Brennpunkte aufzulösen. Dann hätten wir die Armut ja bekämpft. Da uns das nicht gelingt, ist es eine bundespolitische Aufgabe, die Regelsätze zu diskutieren.

Wir haben über unsere Bundestagsfraktion Anträge in den Bundestag eingebracht, mit denen wir zum Ausdruck bringen, dass wir die Berechnungsgrundlage für falsch halten. Nun muss die Große Koalition in Berlin sagen, warum sie an diesen Berechnungsgrundlagen festhält, die wir schon mehrfach als nicht auskömmlich kritisiert haben. Auch das ist eine Hausaufgabe, die auf einer anderen Ebene zu erledigen ist.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU)

Herr Bocklet, Herr Merz möchte Ihnen eine Frage stellen.

Vielleicht zum Ende meiner Ausführungen. Jetzt möchte ich zunächst meinen Gedanken zu Ende bringen.

Wir haben auch als Land Instrumente, mit denen wir auf die Symptome der Armut reagieren können. Bei Armut können wir darüber nachdenken, wie wir es vermeiden, dass Kinder, die jetzt in solchen Bedarfsgemeinschaften sind, in Armut bleiben. Das sind die beiden Handlungsansätze. Ich finde, dass wir das in unserem Antrag auch etwas beschreiben. Wir haben darin gesagt, dass wir das Thema durch eine Fülle von Maßnahmen angehen.

Über Schulpolitik kann man lange und trefflich streiten. Dass sie verbesserbar ist, ist auch unbestritten. Wir brauchen bessere Schulen, noch mehr gemeinsamen Unterricht, noch weniger Schulabbrecher, bessere Bildungsabschlüsse. An alldem wird gearbeitet. Das ist natürlich die Prävention gegen die Verstetigung von Kinderarmut, damit es die Kinder selbst schaffen, dort herauszukommen.

Wir haben Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden und keinen Abschluss machen. Es gibt eine Fülle von Programmen, die sich dieser Frage widmen. Insofern wird man nicht sagen, dass sich das Land an dieser Stelle aus der Verantwortung zieht. Wir wissen, dass jedes zweite Kind, das in Armut lebt, aus dem Haushalt einer Alleinerziehenden kommt.

(Zuruf des Abg. Torsten Warnecke (SPD))

Die Frage ist also: Wie gelingt es, dass Alleinerziehende Beruf und Familie vereinbaren können?

(Torsten Warnecke (SPD): Das bestreitet niemand!)

Da das niemand bestreitet – auch Sie nicht, Herr Kollege –, ist doch die Frage: Wie geht man das Stück für Stück und konzentriert an, wie lange arbeitet man das ab?

Ich habe auch nicht den Vorwurf gehört, dass im Lande Hessen nichts passiere. Selbst Sie von den LINKEN haben diesen Vorwurf nicht formuliert. Deshalb finde ich die Frage spannend: Welche Ansätze verfolgen wir, und welche Ansätze führen offensichtlich nicht zum Erfolg?

Wir haben eine Umorientierung in der Schulpolitik vorgenommen. Es gibt mehr und mehr Ganztagsschulen, mehr und mehr Nachmittagsbetreuungsangebote. Wir haben Verbesserungen bei den Arbeitsmarktprogrammen, bei den Ausbildungsprogrammen für die Jugend, und die Zahl der Schulabbrecher ist gesunken. Wir haben in den letzten Jahren eine immense Zahl an Betreuungsplätzen für unter Dreijährige eingerichtet. Wir haben die Zahl der Ganztagsplätze erhöht. Durch Verbesserungen in der Kinderbetreuung ist noch mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich geworden.

Bei den Familienzentren wird jetzt flächendeckend gefördert.

Es ist natürlich ein großes Problem, wenn ein Großteil des Familienbudgets für eine zu teure Wohnung draufgeht. Daher haben wir die Haushaltsmittel für den Wohnungsbau in den letzten Jahren deutlich erhöht.

Auch wenn man sich alle diese Maßnahmen betrachtet, braucht man keine Selbstbeweihräucherung zu betreiben; denn es muss noch mehr passieren, weil die Zahlen so sind, wie sie sind. Es sind noch zu viele Kinder in Kinderarmut, noch viel zu viele Familien in Armut. Aber es passiert eine Menge, und wir müssen und wollen an die Probleme verstärkt herangehen.

Herr Merz, Ihr Gesprächsangebot nehmen wir gerne auf. Ich würde das aber gern dann tun, wenn der Landessozialbericht – mit dem Schwerpunkt auf Kinderarmut – vorliegt. Das wird im Sommer der Fall sein. Der Bericht wird uns sogar Handlungsempfehlungen geben – im Gegensatz zu dem ersten, vor vier oder fünf Jahren veröffentlichten Landessozialbericht. Dann werden wir hier präzise über die Ursachen von Kinderarmut in Hessen sprechen: Wo findet sie statt, wie sehr hat sie sich verstetigt – wir wissen, dass Kinder immer länger in Armut bleiben müssen, nicht ein oder zwei Jahre, sondern drei oder vier Jahre –, wo greift man ein?

Ich bin wirklich daran interessiert, dass wir die Maßnahmenfülle, die wir in unserem Antrag beschrieben haben, so verbessern und präzisieren, dass es in Zukunft signifikant weniger Armut in Hessen gibt. Der richtige Ansatz dafür ist, die Vorlage des Sozialberichts abzuwarten, der sich dem Schwerpunkt Kinderarmut widmet und es außerdem unternimmt, Handlungsempfehlungen auszusprechen. Wir stehen danach einem Ideenwettbewerb darüber, was wir noch verbessern können, selbstverständlich offen gegenüber, und natürlich stehen wir auch Gesprächsangeboten offen gegenüber. Wir werden mit allen Akteuren in einer Anhörung über den zweiten Landessozialbericht darüber diskutieren, was wir machen müssen, damit es weniger Kinderarmut in Hessen gibt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Insofern beschreibt unser Antrag genau das, was ich formuliert habe. Wir wollen die Vorlage des Landessozialberichts mit dem Schwerpunkt Kinderarmut abwarten. Wir weisen in unserem Antrag zweitens darauf hin, dass schon einiges getan wird. Wir haben sieben Maßnahmen herausgegriffen und unter den jeweiligen Spiegelstrichen dargestellt. Es hätten auch 27 oder 28 Spiegelstriche sein können, je nachdem, wie ganzheitlich man über das Thema Armut diskutiert.

Ich sage es noch einmal: Das, was wir tun, ist nie genug, solange noch Familien und Kinder in Armut leben. Die Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben vereinbart, dass dieses Thema im täglichen Regieren und Handeln, aber auch bei den Perspektiven und im Ausblick auf das, was wir anpacken wollen, ganz oben auf der Tagesordnung bleibt.

Unser Gesprächsangebot ist offen und ehrlich. Armut ist kein Thema für kleines politisches Karo, sondern wir alle müssen gemeinsam daran arbeiten, dass wir in den nächsten Jahren die Zahl der Kinder in Hessen, die in Armut leben, verringern. Das ist unser ehrliches Interesse – ich hoffe, das Interesse von uns allen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Danke, Herr Bocklet. – Zu einer Kurzintervention hat sich Herr Merz zu Wort gemeldet.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich habe ein Missverständnis produziert, das ich nicht so stehen lassen wollte. Das gibt mir aber auch Gelegenheit, einen Gedanken zu vertiefen, der vielleicht nützlich ist, wenn wir denn tatsächlich in die Gespräche eintreten, die ich eben angeboten habe.

Als Beispiel für das Entstehen des Problems Armut habe ich die Situation in sozialen Brennpunkten der Stadt Gießen herangezogen. Selbstverständlich hat sich die Stadt Gießen schon vor 30 Jahren auf den Weg gemacht, diese Brennpunkte zu sanieren – mit massiver Unterstützung des Landes, ab einem bestimmten Zeitpunkt mit einem eigenständigen Landesprogramm zur baulichen und sozialen Sanierung der sozialen Brennpunkte, um mit einem Bündel von Maßnahmen der Lebenssituation in den drei Brennpunkten – ehemalige Obdachlosensiedlungen mit einer teilweise 70- bis 80-jährigen Geschichte, entstanden aus Eisenbahnwagensiedlungen am Ende der Weimarer Republik – gezielt zu Leibe zu rücken.

Wir sind diese Sanierung unter Beteiligung der Betroffenen angegangen, mit einem größtmöglichen Maß an Mitbestimmung der durch Mieterräte vertretenen Betroffenen in einem gemeinsamen Sanierungsbeirat. Man kann aus diesem Beispiel sehr viel lernen, sowohl was die Maßnahmen als auch was die Prozeduren angeht. Darauf wollte ich hinweisen.

Die Ergebnisse können sich sehen lassen. Ich kann mich noch daran erinnern, wie in einer der Siedlungen gefeiert wurde, als das erste dort lebende Mädchen das Abitur ge

macht hat. Das hatte es seit Menschengedenken nicht gegeben. Es ist in diesen früheren Brennpunkten gelungen, die Kinder- und Jugendkriminalität unter den Gießener Durchschnitt zu drücken. Ich weiß nicht, wie die Zahlen im Moment sind, aber zumindest war es früher so.

Die Lebens- und Wohnsituation ist verbessert worden. Die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und der Jugendhilfe ist ebenfalls worden. Das heißt, wir müssen auch das in den Blick nehmen.