Protocol of the Session on December 15, 2010

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktion der SPD betreffend 60. Jahrestag der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ und 60. Jahrestag des „Wiesbadener Abkommens“ – Drucks. 18/2912 –

Ich begrüße zu dieser Debatte ganz herzlich die Landesbeauftragte, unsere ehemalige Kollegin Frau ZieglerRaschdorf. Herzlich willkommen.

(Beifall bei der CDU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die vereinbarte Redezeit beträgt fünf Minuten. Die erste Wortmeldung kommt von Herrn Kollegen Sürmann für die FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ursächlich für die Flucht und Vertreibung der Deutschen waren der durch Deutsche begonnene Weltkrieg und das furchtbare Unrecht nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, ihrer Mitläufer und Helfer. Vorausgegangenes Unrecht wendete sich schließlich als anderes Unrecht gegen Deutsche. So entstand neues Leid undifferenziert, ohne Frage nach individueller Schuld. An dieses Leid darf und muss erinnert werden, ohne das frühere Geschehen und die Ursachen zu relativieren.

Auch in unserer jüngeren Geschichte war Flucht aus politischen Gründen aus Deutschland nach Deutschland noch ein Thema. Auch das sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen, wenn wir die Charta würdigen, die am 5. August 1950 von den Sprechern der Vertriebenenverbände bzw. ostdeutschen Landsmannschaften unterzeichnet wurde – und das anlässlich einer Massenkundgebung mit über 70.000 Heimatvertriebenen in Stuttgart.

Ende der Vierzigerjahre wurde in den westlichen Besatzungszonen das Koalitionsverbot für Vertriebene von den Alliierten gelockert. Man sieht noch an der Stelle, dass die Vertriebenen nicht nur dafür zu leiden hatten, ihre Heimat verloren zu haben, zu Unrecht vertrieben worden zu sein, sondern sie durften sich auch nicht in Verbänden zusammentun. Das war zunächst verboten und hat das Leid sicher noch einmal um vieles erhöht.

Es gründete sich 1949 zu den Landesverbänden auch ein Zentralverband vertriebener Deutscher in Deutschland. Flüchtlinge und Vertriebene stellten 16,5 % der Bevölkerung der Bundesrepublik. Bis zu 14 Millionen infolge des Zweiten Weltkrieges zählten die vertriebenen Deutschen. Das Selbstverständnis des Zentralverbandes wurde in der Charta niedergelegt. Im November 1951 bildete der Zentralverband zusammen mit den Landsmannschaften der Sudetendeutschen und Schlesier den Bund der Vertriebenen, der diese Charta unverändert übernahm.

Die Charta ist bis heute die Wertegrundlage des Bundes der Vertriebenen, und dies ist unverändert. Interessant ist noch, dass einen Tag vor der Unterzeichnung dieser Charta in einem sogenannten Wiesbadener Abkommen der Tschechische Nationalausschuss von den im Londoner Exil lebenden Tschechen und die Münchener Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen ein Versöhnungsdokument gefertigt hatten, das eine Kollektivschuld und Rachegedanken von beiden Seiten ablehnte, gleichzeitig aber eine Bestrafung der Hauptverantwortlichen forderte.

Die Kernpunkte der Charta der Heimatvertriebenen sind Verzicht auf Rache, Gewalt und Revanchismus, Schaffung eines geeinten Europas und das Recht auf Heimat.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Weitere Forderungen wie etwa gleiches Staatsbürgerrecht im Gesetz, gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des Krieges, die Eingliederung der Vertriebenen und Beteiligung am Wiederaufbau Europas sind Forderungen, die auch heute noch modern sind. Zu erwähnen ist auch,

dass gerade in Hessen eine vorbildliche Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft gelungen war. Dass mit großen Kraftanstrengungen diese Menschen in ihrer völlig neuen Heimat tatsächlich eine Heimat gefunden haben, zeigt sich heute noch am Hessentag, der aufgrund der Vielfältigkeit der Vertriebenen, die hier in Hessen leb ten – –

Herr Sürmann, entschuldigen Sie ganz kurz. – Ich weiß, dass es schon spät ist. Nichtsdestotrotz hat auch dieser Redner es verdient, dass wir ihm zuhören. Also darf ich Sie bitten, etwas mehr Ruhe im Saal einkehren zu lassen. Herzlichen Dank.

Die Interessierten hören zu, das merke ich schon. – Die Forderungen wurden im Lastenausgleichsgesetz von 1952 und ein Jahr später im Bundesvertriebenengesetz von 1953 im Wesentlichen erfüllt.

Die Charta ist für mich ein früher Meilenstein auf dem Weg der Aussöhnung zwischen den Vertriebenen und Vertreibern, aber auch zwischen den sogenannten Binnendeutschen und den Millionen Flüchtlingen. Die Charta ist ein Dokument der Versöhnung, zur Integration und zum Wiederaufbau.

Die Opferrolle war Heimatvertriebenen lange versagt worden, bis die Anerkennung da war, dass sie auch Opfer sind. Erika Steinbach erklärte zum Jubiläum, der Wert der Charta lasse sich nur dann ermessen, wenn man sich in ihre Zeit hineinbegebe und sich vor Augen führe, welchen Weg die Vertriebenen damals leicht hätten gehen können. Die Charta hat dies verhindert.

In Würdigung dieser Charta hat das Land Hessen den deutschen Heimatvertriebenen einen Preis gestiftet. Das Land Hessen hat den Preis Flucht, Vertreibung, Eingliederung gestiftet. Damit soll der hohe geschichtliche Wert der Charta unterstrichen werden. Hier sollen Bürger oder auch Schulklassen, die sich in besonderer Weise mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen beschäftigt haben, gewürdigt werden.

Rund ein Drittel aller noch in Hessen lebender Bürger hat entweder Flucht oder Vertreibung noch selbst erlebt, ist durch das Schicksal der nächsten Angehörigen betroffen oder lebt als Spätaussiedler hier. Durch diese bedeutende Bevölkerungsgruppe wurde und wird das aktuelle wirtschaftliche und soziale Leben in Hessen nach wie vor bereichert; ich hatte es erwähnt.

Die Charta war damals und ist heute ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus, nicht Niedergeschlagenheit bestimmt diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, der Glaube an ein einheitliches Europa ohne Krieg, Flucht und Vertreibung und an die christliche Humanität.

Herr Sürmann, ich darf Sie bitten, zum Schluss Ihrer Rede zu kommen.

Ich denke, dass unser Antrag in diesem Sinn das ausreichend würdigt. Ich finde es schade, dass ich mit dem Kollegen Franz nicht übereingekommen bin, dass wir ein Thema weglassen, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Wladyslaw Bartoszewski und Erika Steinbach. Deshalb hat es keinen gemeinsamen Antrag gegeben. Aber wir haben uns entschlossen, dann zu sagen: Wenn es nicht möglich ist, bei einem solchen Thema gemeinsam etwas zu tun, dann werden wir unseren Antrag auch mit unseren Stimmen beschließen. Abweichungen, die zu einer unsäglichen Debatte führen, wollen wir nicht zustimmen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Sürmann. – Nächste Rednerin ist nun für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin Schulz-Asche. – Wieso schauen Sie so irritiert?

(Minister Stefan Grüttner: Frau Kollegin, das geht alles von Ihrer Redezeit ab!)

Frau Präsidentin, ich dachte, erst sprechen die Antragsteller. Aber wenn es so ist, rede ich halt schnell.

(Günter Rudolph (SPD): Eigentlich wären wir dran, aber das ist egal!)

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich teile völlig die Auffassung des Bundestagspräsidenten Herrn Prof. Lammert, der gesagt hat, die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950 ist von historischer Bedeutung, und zwar weil sie innenpolitisch radikalen Versuchen den Boden entzog, außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung und Versöhnung unter Einbeziehung der mittelund osteuropäischen Nachbarn vorbereitete und wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, sondern über sie hinaus einen beispiellosen Wirtschaftsaufbau ermöglichte.

Diese Auffassung teile ich. Ich hätte mir gewünscht, dass in den darauffolgenden Jahrzehnten viele Funktionäre der Vertriebenen in diesem Geist weiter gewirkt hätten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das war überflüssig!)

Im Jahr 1970 waren fast ein Drittel der Bevölkerung in Hessen zugereiste Menschen, die Mehrheit davon waren sogenannte Vertriebene. Das zeigt, dass in Hessen eine unglaubliche Integrationsleistung vollbracht wurde. Wir sollten aus der Geschichte lernen und sehen, welche Probleme es damals mit der Integration gegeben hat, welche Erfahrungen wir heute daraus ziehen können und, vor allem im Hinblick auf die Integrationsfragen heute, welche Potenziale in zugereisten Menschen stecken und wie wir sie für unser Hessen heute nutzbar machen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden dem Antrag der SPD zustimmen, weil er die richtigen Beschreibungen der historischen Einbettungen vornimmt und die historischen Bezüge verbessert. Wir glauben, dass man nicht über die Frage der Vertriebenen

diskutieren kann, ohne den historischen Bezug darzustellen. Von daher werden wir das unterstützen.

Ich habe gerade gehört, es habe Versuche gegeben, gemeinsam zu handeln. Deswegen möchte ich abschließend sagen: Wir sollten uns in diesem Landtag einig sein und in Zukunft anstreben, wenn in Anträgen historische Bewertungen vorgenommen werden, gemeinsam zu handeln. Das ist in diesem Fall, jedenfalls mit meiner Fraktion, nicht passiert. Wir werden dem Antrag der SPD aber zustimmen. – Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Herr Kollege Franz für die SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Hessische Landtag hat mit Debatten über historische Ereignisse – ich erinnere an die für mich peinliche Debatte über die Wiedervereinigung am 29. September 2010 – keine guten Erfahrungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies liegt daran, dass insbesondere die CDU-Fraktion dieses Hauses aus vordergründigen politischen Motiven eine verkürzte Betrachtung und Bewertung geschichtlicher Zusammenhänge vornimmt.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Fängt der schon wieder damit an!)

Durch systematisches Weglassen und Unterschlagen geschichtlicher Fakten wird eine parteipolitische Interpretation historischer Abläufe suggeriert, die nicht akzeptabel ist. Dass die Freiheitspartei der FDP dies im Schlepptau der CDU immer mitmacht, ist bedauerlich, das kann man aber nicht ändern.

Dies trifft auch auf den von CDU und FDP vorgelegten Entschließungsantrag zum 60. Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen und dem 60. Jahrestag des Wiesbadener Abkommens zu. Die SPD hat aus diesem Grund einen eigenen Entschließungsantrag, Drucks. 18/2912, eingebracht.

(Beifall bei der SPD)

Den Ergänzungen unseres Antrags könnte auch von der FDP zugestimmt werden; es sei denn, der Konflikt zwischen Außenminister Westerwelle, FDP, und der BdVVorsitzenden Erika Steinbach, CDU, über die Besetzung des Beirats der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ war nur ein mediales Geplänkel ohne substanzielle Überzeugung.

(Beifall bei der SPD)

Dass sowohl die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950 als auch das Wiesbadener Abkommen vom Vortag, also vom 4. August 1950, von den Grundüberzeugungen von Verständnis und Versöhnung in Europa getragen sind, ist die rationale Konsequenz aus dem Zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten und unendlichem menschlichen Leid.

Leider bekennt sich weder die Charta der deutschen Heimatvertriebenen noch das Wiesbadener Abkommen zu den Gräueltaten des Naziregimes. Diese Fakten der damals jüngsten Geschichte, 1950, wurden ausgeblendet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch die Tatsache, dass die Hälfte der 12 Millionen Vertriebenen auf Veranlassung der deutschen Behörden vertrieben wurde, wird in der Charta leider verschwiegen. „Die Völker der Welt“, heißt es in der Charta, „sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid in dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden“. Leider wird der Völkermord an Millionen von Juden, Sinti und Roma, Andersdenkenden und Behinderten noch nicht einmal erwähnt.

Wer das Geschehene nicht beim Namen nennt, kann das Trennende nicht überwinden. Er legt zumindest den Keim für künftiges Misstrauen oder nimmt dies billigend in Kauf. Dieses Misstrauen ist dem Bund der Vertriebenen daher auch oft in den Nachbarländern, insbesondere aus Tschechien und der Republik Polen, entgegengeschlagen. Leider hat die Spitze des BdV auch oft bis in die jüngste Zeit mit den Forderungen auf Entschädigungen bis ins Jahr 2005 hinein diese Vorurteile durchaus durch ihr Handeln bestätigt.