Protocol of the Session on June 18, 2009

sondern dadurch wird schlicht charakterisiert, dass sie schlicht und ergreifend missbraucht werden, politisch missbraucht werden. Ich will Ihnen auch sagen, wie das geschieht.

Sie brauchen nur die heutige Zeitung aufzuschlagen. Der Schulleiter des Mosbacher Gymnasiums hier in Wiesbaden hat erklärt – das ist öffentlich nachzulesen –: „Die wenigsten Teilnehmer wussten, worum es geht.“ Der Schulleiter des Oranien-Gymnasiums in Wiesbaden hat Gleiches erklärt. Es seien Schüler zurückgekommen, weil die Demo diffus gewesen sei und sie unter anderen Umständen dorthin gegangen seien. Schüler haben erklärt: „Da gab es Transparente zur Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems. Das wollten wir gar nicht; unter dem Aspekt sind wir gar nicht mitgelaufen.“ Und der Schulleiter der Elly-Heuss-Schule erklärte: „Viele Schüler wollten eigentlich nur die Stadt Wiesbaden bei schönem Wetter genießen.“

(Zuruf von der LINKEN)

Das will ich gar nicht werten, aber ich stelle eines fest: Wenn Sie mit Schülern sprechen, dann werden Sie zum Ergebnis kommen, dass viele in der Tat gar nicht wissen, worum es in der Sache geht.Sie können einiges überhaupt nicht beurteilen.

(Anhaltende Zurufe von der LINKEN)

Meine Damen und Herren, das ist genau das, was ich unter dem Aspekt „nützliche Idioten im Sinne Lenins“ formuliert habe. Schade ist nur, dass auch Sie selbst auf diesen Leim gegangen sind, denn dieser Bildungsstreik ist bundesweit organisiert. Es gibt auch Bundesländer, wo SPD und GRÜNE regieren, glaube ich zumindest. Das heißt dieser Bildungsstreik richtet sich logischerweise doch auch gegen die Regierungen, die Sie verantworten. Das haben Sie gar nicht begriffen.

(Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):Aber das hat man doch aushalten können!)

Meine Damen und Herren, deshalb wundert es mich sehr, dass Sie dieser linksextremen Seite auf den Leim gegangen sind.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Herr Kollege Irmer, vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Frau Kollegin Habermann für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Irmer, ich will Ihren letzten Satz aufgreifen, der da hieß, diese Demonstrationen und Proteste richteten sich auch gegen Bundesländer, in denen andere Parteien in der Regierungsverantwortung seien. – Natürlich richten sie sich auch gegen andere Regierungen in anderen Bundeslän

dern, auch gegen SPD-geführte Bundesländer. Man muss es aber aushalten können, wenn junge Menschen ihre Anliegen vorbringen, diese demokratisch vertreten und darauf von der Politik eine Antwort erwarten.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Herr Irmer, was diese jungen Menschen sicherlich nicht erwartet haben, ist, dass ein Mitglied dieser Regierungspartei in Ablenkung von eigenen Fehlern in der Bildungspolitik in Hessen lieber Schülerinnen und Schüler – engagierte junge Menschen – beschimpft und sie in die Ecke von linksextremistisch beeinflussten Menschen steckt, statt ihnen zuzuhören und zur Kenntnis zu nehmen, dass das, was sie hier über unsere hessische Bildungspolitik auszusagen haben, den Nagel auf den Kopf trifft.

(Beifall bei der SPD – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Das ist lächerlich!)

Sie haben damit begonnen, dass der Ton die Musik macht, und ich will einmal feststellen: Der Experte für falsche Töne in diesem Haus hat wieder in entsprechender Lautstärke seinen Beitrag abgegeben. Ich glaube, dem ist nicht viel hinzuzufügen, außer dass Sie hier davon ablenken wollen, was in diesem Lande passiert und was bei der Bildungspolitik in diesem Lande versäumt worden ist. Sie knüpfen in der Tat genau dort an, wo Sie mit der absoluten Mehrheit aufgehört haben. Die ganzen Sprüche im vergangenen Jahr,von der Lernfähigkeit und der Toleranz gegenüber den Anliegen von Eltern, Lehrern und Schülern und Ihrer Bereitschaft, auf sie zuzugehen, waren leere Phrasen, Herr Irmer.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Wo Sie gelandet sind, das haben wir gemerkt!)

Aber ich will Ihnen eines sagen: Es wird Ihnen nicht gelingen, mit diesen Manövern davon abzulenken, was in Hessen passiert. Es wird Ihnen auch nicht gelingen, die Proteste gegen Ihre Bildungspolitik zum Verstummen zu bringen, indem Sie die Schulpolitik von Berlin erklären und indem Sie raten, andere Parteien sollten sich einmal anschauen, wie sie woanders auftreten. Ich kann Ihnen eigentlich nur raten: Schauen Sie nach Hamburg, da hat Ihre CDU nämlich die Augen geöffnet und macht eine Bildungspolitik,

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Die geht Sie nichts an!)

mit der sie die Zukunftsprobleme aufgreift und auch in der Lage ist, darauf einzugehen, dass die Hauptschule ein aussterbendes Modell ist und dass man neue Antworten finden muss, damit Schüler bestmögliche Bildungsabschlüsse erreichen. Ich habe kein Problem damit, Herrn Beust an dieser Stelle zu loben. Da müssen Sie mich gar nicht von der Seite anmachen, denn diese CDU hat es zumindest verstanden, einmal darauf zu schauen, was uns internationale Bildungsstudien sagen und wie man die Perspektiven von Bildungspolitik in einem Land so entwickelt, dass nicht so viele hinten runterfallen und auf dem Bildungsweg abgehängt werden. Da ist dieser kleine Schritt, den Hamburg geht, ein Meilenstein im Vergleich zu dem, was die hessische CDU hier schon seit Jahren in ideologischer Verbohrtheit betreibt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU: Oh!)

Es gab im letzten Jahr einen kleinen Hoffnungsschimmer, und zwar durch das Intermezzo von Herrn Banzer. Bei den Eltern, Lehrern und Schülern keimte sogar die Hoffnung auf, dass, wenn die Bildungspolitik schon nicht besser, sie zumindest pragmatischer wird. Ich glaube, die Ereignisse in den ersten Monaten dieser neuen Landesregierung haben aber gezeigt, dass diese Hoffnung die Eltern, Lehrer und Schüler gründlich getrogen hat.

Meine Damen und Herren, es ist schon bezeichnend, dass ausgerechnet das Türschild dieses Ministeriums die Farbe wechseln musste. Denn dies scheint inzwischen die beste Garantie dafür zu sein, dass mit den alten Weichenstellungen weitergearbeitet wird und dass in der Bildungspolitik nichts,aber auch gar nichts Neues und Visionäres entwickelt wird.

(Beifall bei der SPD)

Ich will aber auch konkret auf die Forderungen eingehen, die hier in Hessen in den Aufrufen von Schüler- und Studierendenräten zu lesen waren. Herr Irmer, denn das betrifft auch ganz konkret Ihre Bildungspolitik. Da nützt es auch nichts, immer wieder gebetsmühlenhaft zu wiederholen, wie viele Lehrer Sie in den vergangenen zehn Jahren eingestellt haben.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sie haben sie abgebaut! Wir haben aufgestockt!)

Es nützt deswegen nichts, weil sich diejenigen, die an den Schulen lernen und arbeiten, fragen, was davon bei ihnen angekommen ist. Sie haben den Schulen ein Paradies versprochen, das niemals existiert hat. Es gab niemals eine Unterrichtsgarantie. Es gab an den Schulen niemals die Situation, dass hier keine Unterrichtsstunde mehr ausgefallen ist. Mit dem Sündenfall 2004, der Arbeitszeitverlängerung der Lehrkräfte und dem Streichen von 1.000 Stellen, haben Sie selbst dafür gesorgt, dass Sie dieses Versprechen niemals einlösen konnten. Sie haben es damals durch die Einführung der Unterrichtsgarantie plus verschlimmert, als Sie Lehrer durch Menschen mit gutem Willen, aber ohne berufliche Qualifikation ersetzten.

(Minister Michael Boddenberg: Immer der gleiche Unsinn!)

Die Arbeitsbelastung hat zugenommen, und die Lehrkräfte haben immer größere Klassen bekommen. Die Regelungswut und die Gängelung der Schulen haben ein Übriges dazu getan, um das Arbeitsklima in den Schulen und damit auch Bildungschancen zu verschlechtern.

Meine Damen und Herren, mangelnde Unterstützung der Ganztagsschulentwicklung und individuelle Förderung nur als Etikett, nicht als Inhalt – diese Liste ließe sich beliebig verlängern und manifestiert sich auch im Haushalt des Kultusministeriums,den wir gestern verabschiedet haben.

Eine weitere Forderung der Schülerinnen und Schüler war die Aufhebung der Verkürzung der Gymnasialzeit, des G 8.

(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Nein!)

Ich denke, auch die Maßnahmen im vergangenen Jahr haben nicht dazu geführt, dass die Proteste gegen dieses falsche Modell einer Schulzeitverkürzung in der Mittelstufe abnehmen. Schülerinnen und Schüler wollen mehr Zeit zum Lernen, und sie wollen auch die Zeit haben, um Gelerntes zu vertiefen. Ich finde es von Frau Henzler schon pikant, in einem ihrer ersten Interviews zu sagen, dass die Verkürzung der Gymnasialzeit zu einem Jahr gewonnener

Lebenszeit führe,wenn ich dazu ein Zitat gegenüberstelle, das von Katharina Horn, der Landesschulsprecherin, stammt, die die Folgen von G 8 in der Formel zusammenfasst: „Ein Jahr weniger Schule – acht Jahre keine Freizeit“.

(Zuruf von der CDU: Oh!)

Meine Damen und Herren, ich glaube, die Schülerinnen und Schüler fühlen sich viel eher um diese Lebenszeit betrogen.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Angela Dorn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Denn auch die Schulzeit ist Lebenszeit. Sie fühlen sich um diese Lebenszeit betrogen, weil ihnen in einer entscheidenden Phase ihrer persönlichen Entwicklung die notwendige Zeit fehlt, ihre Interessen und Fähigkeiten zu vertiefen und sich entsprechend auf eine Perspektive nach der Schule vorzubereiten. Deshalb haben die Schüler und Schülerinnen recht: Das hessische G-8-Modell ist und bleibt falsch.

Herr Irmer, kommen wir noch einmal zu dem größten Dorn in Ihrem Auge. Das ist das Eintreten der Schüler und Schülerinnen für eine Aufhebung der frühen Selektion nach der Klasse 4.Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, werden die Schülerräte, die dies auf ihren Vollversammlungen beschlossen haben, als indoktriniert und instrumentalisiert abgestempelt. Aber es sind nicht Linksextreme, es sind nicht Verirrte, die dies unterstützen. Es sind, wie ich bereits ausgeführt habe, inzwischen auch CDU-Landesregierungen, die etwas über den Tellerrand hinausschauen können und aus ihrem Schützengraben herauskommen.

(Zuruf des Abg.Torsten Warnecke (SPD))

Es sind Schüler und Schülerinnen, es sind Lehrer, es sind engagierte Eltern, die alle darauf hinweisen, dass sowohl die demografische Entwicklung als auch die Möglichkeit, zu einem guten Schulabschluss zu kommen und Chancengleichheit herzustellen,durch gemeinsames Lernen gefördert werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf des Abg. Leif Blum (FDP))

Meine Damen und Herren, das wollen Sie nicht wahrhaben. Deswegen wollen Sie die Neugründung von integrierten Gesamtschulen wieder erschweren. Ich möchte dazu noch einmal auf das Argument von Frau Henzler in der letzten Debatte eingehen.Wenn sie sagt,nur eine dreizügige IGS sei sinnvoll, weil dort die einzelnen Schulformen abgebildet werden können, dann ist das eine Ignoranz gegenüber dem Ansatz der integrierten Gesamtschule.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN)

Es verkennt, dass viele integrierten Gesamtschulen in Hessen nur noch zweierdifferenziert arbeiten, und es verkennt auch, dass das Lernen, das dort praktiziert werden soll und will, nichts, aber auch gar nichts mit einem Abbild des dreigliedrigen Schulsystems zu tun hat, sondern dass es eine Alternative dazu ist.

Frau Kollegin Habermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich darf Sie bitten, zum Schluss Ihrer Rede zu kommen.

Frau Sorge, wenn Sie mich meinen Satz aussprechen lassen, bin ich sofort am Ende.

Ich will noch einmal zusammenfassen. Dieser Streik ist kein Anlass, Schüler und Studierende zu beschimpfen. Er ist ein Ansatz, sich endlich ernsthaft mit denjenigen auseinanderzusetzen, die das hessische Bildungssystem über sich ergehen lassen müssen. Ich fordere Sie auf, mit ihnen zu sprechen, zuzuhören und endlich einmal den Ankündigungen auch Taten folgen zu lassen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN)

Vielen Dank. – Nächster Redner ist Herr Kollege Döweling für die FDP-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Die FDP-Fraktion im Hessischen Landtag nimmt den sogenannten Bildungsstreik, der in dieser Woche durchgeführt wurde, zur Kenntnis. Es ist aus meiner Sicht eindeutig zu begrüßen, wenn sich junge Menschen an grundlegenden demokratischen Prozessen, wie dem Recht der freien Meinungsbildung und -äußerung, beteiligen. Nur die Auseinandersetzung mit dem eigenen Umfeld und dessen kritische Bewertung – ich betone: kritische Bewertung – befähigen zur Teilnahme an der Debatte über unser Bildungssystem.