Antrag der Fraktion der CDU betreffend eine Aktuelle Stunde (Leistung belohnen – Defizite beheben: Sitzen- bleiben muss als pädagogische Maßnahme an hessi- schen Schulen aufrechterhalten werden – rot-grüne Gleichmacherei schadet Schülerinnen und Schülern) – Drucks. 18/7040 –
(Janine Wissler (DIE LINKE): Herr Schork, wollen Sie nicht lieber sitzen bleiben? – Gegenruf des Abg. Mathias Wagner (Taunus) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Wissler, er will lieber individuell gefördert werden!)
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Sitzenbleiben ist uns allen aus unserer Schulzeit bekannt. Wir kennen es auch als pädagogische Maßnahme. Seit unserer Schulzeit – wenn ich das so sagen darf – hat sich der Anteil der Sitzenbleiber erfreulicherweise reduziert. Die Zahl ist rückläufig. Das macht deutlich, dass individuelle Fördermaßnahmen, die an den Schulen ergriffen werden, Wirkung zeigen.
Nichtsdestotrotz gibt es Schülerinnen und Schüler, die ein zusätzliches Schuljahr benötigen, um wieder in die Spur zu finden und wieder Freude am Lernen und an der Leistung zu entwickeln. Anstelle des Sitzenbleibens eine Vollkaskoversorgung anzubieten, die Leistungsanreize ausklammert, kann man pädagogisch zumindest als fragwürdig bezeichnen.
Die Abschaffung des Sitzenbleibens, der Noten und der differenzierten Bildungsabschlüsse dient der Gleichmacherei. Notwendig ist es aber, höchst unterschiedlichen Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Förderung anzubieten. Wenn dies nicht ausreicht, ist die Wiederholung einer Jahrgangsstufe im Sinne des Förderns und Forderns ein probates Mittel, um jungen Menschen in ihrer schulischen Entwicklung zu helfen.
In einer speziellen Studie zum Sitzenbleiben, die vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung erstellt worden ist, wurde mittels einer Vergleichsgruppenbildung von Sitzenbleibern und Nichtsitzenbleibern, an der 2.000 Schülerinnen und Schüler teilnahmen, festgestellt, dass Sitzenbleiben die Chance, den angestrebten Schulabschluss zu erreichen, um 50 % erhöht.
Entscheidend ist, ob das Wiederholungsjahr den Schüler und die Schülerin dem angestrebten Ziel, nämlich dem Schulabschluss, näher bringt. Das ist die entscheidende Frage.
Wenn man sich die Schülerinnen und Schüler unter dem Gesichtspunkt des Sitzenbleibens anschaut, stellt man fest, dass man zwischen drei Gruppen unterscheiden kann:
Die erste Gruppe besteht aus Schülerinnen und Schülern, bei denen Sitzenbleiben mithilfe zusätzlicher Förderung vermieden werden kann. Dass dies gelingt, habe ich am Anfang deutlich gemacht.
Bei der zweiten Gruppe von Schülerinnen und Schülern handelt es sich um diejenigen, bei denen man feststellen muss, dass sie in der jeweiligen Schulart dauerhaft überfordert sind und dass ein Schulwechsel notwendig ist.
Es gibt eine dritte Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die von einem Wiederholungsjahr tatsächlich profitieren: die, wie ich vorhin gesagt habe, ihre Freude am Lernen und an der Leistung wiederentdecken und sich entsprechend entwickeln.
Ein Jahr der Kompensierung von Defiziten ist eine Chance, Ziele zu erreichen. Wir sind der Auffassung, dass diese pädagogische Maßnahme an den hessischen Schulen erhalten bleiben muss. Wir sind auch der Auffassung – um dies zum Abschluss zu sagen –, dies führt nicht notwendigerweise dazu, dass Laufbahnen korrigiert werden und man bestimmte Dinge nicht erreichen kann. Dafür ist der Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, das beste Beispiel. Er bekennt, dass er sitzen geblieben ist, und er hat es immerhin zum Kanzlerkandidaten der SPD gebracht. – Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Schork. – Als nächste Rednerin hat sich Frau Kollegin Habermann von der SPD-Fraktion
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Herr Schork, wenn man zitieren will, sollte man sich tunlichst bemühen, nicht nur die Überschriften, sondern auch den dazugehörigen Text zu lesen und zu verstehen.
Herr Steinbrück hat in „Spiegel Online“ erklärt, eine Abschaffung des Sitzenbleibens sei nur sinnvoll, wenn es eine grundlegende Bildungsreform gebe. Er verweist unter anderem auf das finnische Bildungssystem, das statt Sitzenbleiben Förderkurse vorsieht. Herr Steinbrück, unser Kanzlerkandidat, hat zumindest in diesem Punkt völlig recht.
Das Abschaffen ergibt keinen Sinn, wenn die Schulen nicht gleichzeitig dabei unterstützt werden, zu fördern, statt zu sanktionieren.
Aber auch seine Zweifel an der Reformfähigkeit der Länder sind berechtigt. Man braucht nur nach Hessen zu schauen, wo sich die CDU samt ihrem gelben Partner in einem Refugium der bildungspolitischen Steinzeit verschanzt.
(Hans-Jürgen Irmer (CDU): Sie wollen ins letzte Jahrhundert zurück! – Gegenruf des Abg. Gerhard Merz (SPD): Ihr seid im vorletzten! Im 19. Jahrhundert!)
Es genügt nicht, die Unterschiedlichkeit von Kindern zu betonen. Sie müssen auch die Bedingungen schaffen, damit Schulen unterschiedliche Begabungen, unterschiedliche Entwicklungen und unterschiedliche Lernzeiten ihrer Schüler fördern können, ohne Kinder zu beschämen.
Deshalb hat die SPD in Hessen in ihr Wahlprogramm aufgenommen, dass wir in der Perspektive auf das Sitzenbleiben verzichten wollen und den Schulen zusätzliche Möglichkeiten für individuelle Förderung geben. Darüber hinaus haben wir in unserem Programm festgehalten
die flexible Schuleingangsstufe, die sechsjährige Mittelstufe und eine individuell gestaltbare Oberstufe,
um Kindern mehr Zeit zum Lernen und zur Entwicklung zu geben und Versagen zu verhindern. Denn auch das gehört zu einer Reform der Bildungspolitik, die verhindern will, dass Kinder zurückbleiben.
Wenn der Ministerpräsident und Herr Schork jetzt sagen, das Abschaffen des Sitzenbleibens ist Gleichmacherei, dann ist das inkompetent und ignorant.
Denn nicht allein wir in Hessen sagen das. Das sagen inzwischen sehr viele Bundesländer, die ich nicht alle aufzählen will. Unter anderem hat Hamburg unter SchwarzGrün beschlossen, das Sitzenbleiben abzuschaffen.
Die Hamburger CDU war aber auch schon immer ein bisschen weiter als Sie. Wenn ich über dieses Land hinausschaue – Frau Präsidentin, ich würde gern weiterreden, ohne zu schreien –,
dann sehe ich, dass es weder in Kanada, in Großbritannien, in den skandinavischen Ländern noch in Japan Sitzenbleiben gibt. Wer sich das japanische Bildungssystem einmal angeschaut hat, wird wohl kaum auf die Idee kommen, dass da der Leistungsanspruch dadurch heruntergesetzt wird, dass es Sitzenbleiben nicht gibt. Dort ist ganz genau das Gegenteil der Fall.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Kennen Sie das japanische System? Mit Leistungsdruck ohne Ende und Nachhilfe ohne Ende!)
Da Sie rot-grünen Politikern ohnehin nicht glauben, will ich Ihnen einige Aussagen ganz renommierter Bildungswissenschaftler aus Deutschland vortragen, unter anderem von Herrn Prof. Baumert, dem PISA-Koordinator, verantwortlich für die TIMSS-Studie:
Generell ist Sitzenbleiben schulpädagogisch wenig erfolgreich. Sitzenbleiber erreichen im Schnitt nicht das mittlere Niveau der nachfolgenden Klasse. Es macht nur bedingt Sinn, jemanden mit einer Fünf in Mathe und Physik einfach eine Klasse runterzusetzen in der Hoffnung, er lerne beim zweiten Mal.
Beispielsweise antwortet Manfred Prenzel, ebenfalls Mitglied im Konsortium von PISA auf die Frage: „Sollte man Sitzenbleiben abschaffen?“:
Ja. Die Forschungsbefunde, die belegen, dass Klassenwiederholungen wenig nützen, reichen zurück bis in die frühen Siebzigerjahre. Sie zeigen, dass das Sitzenbleiben pädagogisch fragwürdig und teuer ist, schließlich muss jedes zusätzliche Schuljahr bezahlt werden.
Zum Abschluss zitiere ich Herrn Prof. Tillmann, der erst diese Woche im Rundfunk zu hören war. Er erklärte:
Sitzenbleiben ist eine sinnlose Maßnahme. … Dann haben wir da mehrere internationale Untersuchungen, die eindeutig aufweisen: Wenn man Schüler trotz schwacher Leistungen mitnimmt, lernen sie in den Fächern, in denen sie bisher Probleme hatten, mehr, als wenn man sie sitzen lässt.