Protocol of the Session on January 25, 2006

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 91. Plenarsitzung des Hessischen Landtags und stelle die Beschlussfähigkeit des Hauses fest. – Dem wird nicht widersprochen.

Ich teile Ihnen zur Tagesordnung mit, dass wir die Punkte 1, 2, 3, 6, 7, 41 und 75 erledigt haben.

Wir tagen heute bis 18 Uhr mit einer Stunde Mittagspause. Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 36, den ich nachher aufrufen werde. Die Reihenfolge der Tagesordnung ist Ihnen bekannt.

Meine Damen und Herren, ich darf Sie darauf hinweisen: Heute Abend findet eine Veranstaltung der Stadt in der Lobby statt. Daher steht uns dieser Bereich nach 18 Uhr nicht mehr zur Verfügung. – Ich darf die Regierungsbank um etwas mehr Ruhe bitten; nach drei Jahren darf erlaubt sein, das einmal zu sagen, okay?

Meine Damen und Herren, das waren die amtlichen Mitteilung, diesmal ein bisschen weniger. Ich habe es Ihnen erspart, die Tagesordnung vorzulesen.

Ich rufe jetzt vereinbarungsgemäß den Tagesordnungspunkt 36 auf:

Antrag der Fraktion der CDU betreffend Schutz vor Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern – Drucks. 16/5136 –

Zum gleichen Thema werden Tagesordnungspunkt 73:

Dringlicher Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend Elternkompetenz stärken – Familien unterstützen – Kinder schützen – Drucks. 16/5200 –

sowie Tagesordnungspunkt 78:

Dringlicher Antrag der Abg. Fuhrmann, Eckhardt, Habermann, Dr. Pauly-Bender, Dr. Spies, Schäfer-Gümbel (SPD) und Fraktion betreffend wirksamer Schutz von Kindern vor Misshandlung und Verwahrlosung – Drucks. 16/5205 –

mit aufgerufen. Vereinbarte Redezeit: 15 Minuten. Das Wort hat Frau Kollegin Ravensburg.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! In Hamburg lässt eine Frau ihre Tochter qualvoll verhungern. Ein 17 Monate alter Junge in Kaiserslautern wird gequält und misshandelt, bis er schließlich an zwangsweise in ihn hineingestopftes Essen erstickt. In Kassel wird gegenwärtig der Fall des misshandelten und getöteten Marcel vor Gericht verhandelt. Das sind nur drei Fälle von gravierenden Kindesmisshandlungen, die die Medienaufmerksamkeit in jüngster Zeit erregten.

Jedes Mal werden die gleichen Fragen gestellt: Wie konnte das passieren? Warum hat sich niemand darum gekümmert? Haben die Nachbarn nichts bemerkt? Ist dem Kinderarzt nichts aufgefallen? – Meine Damen und Herren, aber diese öffentlich bekannt gewordenen Fälle sind nur die Spitze eines Eisberges. Die nicht tödliche, körperliche und seelische Misshandlung geschieht meist im Verborgenen hinter den Wohnungstüren und innerhalb der eigenen Familie. Ich will hier nicht mit Zahlen

spekulieren. Aber nach einhelliger Meinung aller Experten ist die Dunkelziffer hoch, für uns viel zu hoch.

Die Kinder erleiden physische, aber auch seelische Schädigungen, die ihr weiteres Leben prägen. Oftmals ist diese in ihrer Kindheit erlebte Erfahrung leider auch die Basis, dass sie später als Eltern ihre eigenen Kinder ebenso behandeln. Hier ist es Aufgabe der Gesellschaft, also unsere Aufgabe, zu intervenieren. Dazu gehören alle, die im Kontakt mit den Familien stehen. Die Kinderärzte, die Erzieherinnen, auch die Jugendämter müssen aufmerksam sein.

Aber – das möchte ich betonen – die Nachbarn und Freunde der Familie müssen sich kümmern. Sie dürfen nicht einfach wegschauen. Beobachten, nachfragen und notfalls auch Verdachtsfälle weitermelden – das erfordert sicherlich Mut und Zivilcourage. So sagte die Mutter des sechsjährigen verhungerten Dennis in Cottbus: Es hat ja niemand nach Dennis gefragt.

Alarmsignale erkennen, wenn Eltern Kinder misshandeln oder seelisch vernachlässigen – das ist eine wichtige Aufgabe. Mangelnde Körperpflege, Apathie oder blaue Flecken an den falschen Stellen sind erkennbare Zeichen von Misshandlung oder Verwahrlosung. Die emotionale Vernachlässigung zu erkennen ist aber noch viel schwieriger.

Besondere Risiken für Eltern nennt der Präsident des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendärzte, Dr. Wolfgang Hartmann. Dazu gehören die psychische Erkrankung eines Elternteils, Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, unerwünschte Schwangerschaft, auch Schwierigkeiten der Eltern, das eigene Leben zu meistern, und in der eigenen Kindheit erlebte häusliche Gewalt.Aber auch junge Mütter und Alleinerziehende sind betroffen, wenn sie sich mit ihrer Mutterschaft überfordert fühlen. Trotzdem – das möchte ich betonen – erzieht der größte Teil dieser Eltern ihre Kinder sehr ordentlich. Jedoch trägt ein kleiner Teil dieser Menschen die Probleme und Risiken nicht allein.

Ihnen müssen wir helfen. Meine Fraktion sieht die Notwendigkeit, jetzt zu helfen. Wir wissen, dass dieses Problem nicht durch eine einfache Maßnahme zu lösen ist, sondern unseres Erachtens brauchen wir ein ganzes Maßnahmenbündel,um Risikofamilien frühzeitig zu erkennen und ihnen Unterstützung und Hilfsangebote zu geben. Deshalb schlagen wir Ihnen heute einen umfassenden Aktionsplan vor.

Oftmals sind es Kleinigkeiten, die der Erzieherin auffallen, dem Kinderarzt die blauen Flecken, für die er eine scheinbar plausible Erklärung der Eltern bekommt. Die Nachbarn bemerken oftmals laute Auseinandersetzungen aus der Wohnung und wissen, dass dort viel Alkohol konsumiert wird.Aber allein für sich ergeben diese einzelnen Informationen noch keinen Verdacht auf Kindesmisshandlung. Könnte man sie zusammenfügen, ergäbe sich durchaus ein Grund, einmal näher hinzuschauen.

Deshalb muss unser Ziel die bessere Zusammenarbeit aller Beteiligten sein. Eine bessere Zusammenarbeit von Gesundheits- und Jugendämtern, ein Netzwerk aus Kliniken, Ärzten, Erzieherinnen und Lehrern, aber auch die Zusammenarbeit mit dem Kinderschutzbund sind erforderlich. Wir sehen auch einen weiteren Schwerpunkt des Aktionsplanes in der Information und Schulung der Personen, die in Kontakt mit den Kindern stehen, insbesondere die Schulung und Sensibilisierung der Jugendamtsmitarbeiter.

Das große Interesse an einer Veranstaltung des Sozialministeriums zur häuslichen Gewalt bei Mädchen und Jungen im vergangenen Jahr in Kassel zeigt auch die landesweite Bereitschaft, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Im Rahmen der Erstellung des Landesaktionsplanes gegen die häusliche Gewalt hat der Landespräventionsrat einen Empfehlungskatalog zur Unterstützung der Fachleute erstellt.

Wir müssen ganz früh ansetzen. Das hat man auch in Düsseldorfer Kliniken erkannt. Statistisch sind sechs von 100 Müttern nicht in der Lage, ihre Babys ausreichend zu versorgen. Sie werden mit den schreienden Säuglingen nicht mehr fertig. In solchen Fällen kommt es immer wieder einmal zu Misshandlungen. Gerade die Säuglinge und Kleinkinder sind besonders gefährdet. Bei ihnen treten bei mangelnder Versorgung sehr schnell lebensbedrohliche Gesundheitszustände auf.

Dr. Wilfried Kratzsch hat deshalb in Düsseldorf ein Risikoraster für die Entbindungsstationen erstellt, um solche Risikomütter möglichst frühzeitig zu erkennen. Dabei können die Hebammen wertvolle Hilfe leisten. Denn schon über den Mutterpass, der vorgelegt werden muss, kann die Hebamme erfahren, ob die Mutter während ihrer Schwangerschaft regelmäßig die Vorsorgetermine wahrgenommen hat. Hat sie das nicht, ist das ein Zeichen dafür, dass es sich um eine Risikofamilie handeln könnte.

Eine solche Hilfe bietet jetzt auch der Landkreis Bergstraße in einem Modellversuch an.

(Beifall des Abg. Roland von Hunnius (FDP))

Auch im Landkreis Bergstraße hat man erkannt, dass gerade die Hebammen diejenigen sind, die bereits während der Schwangerschaft einen besonders engen Kontakt zu den Müttern haben. Die Hebammen kommen auch zur Nachsorge in die Haushalte. Sie geben den Müttern Hilfestellung im Umgang mit ihrer neuen Lebenssituation mit dem Säugling.

Es sind nämlich längst nicht nur die Eltern aus sozial schwachen Schichten, die sich mit der Elternschaft überfordert fühlen. Warum schreit mein Kind? Wie kann ich die Signale verstehen, die mein Kind aussendet? Die Antworten auf diese Fragen kann man im Landkreis Bergstraße in einer Elternschule kennen lernen.

Es gibt in Hessen noch weitere vorbildliche Modellprojekte für Eltern. Dieses Projekt wird von den Krankenkassen, der Karl Kübel Stiftung und dem Landkreis Bergstraße unterstützt. Das Ziel besteht darin, die Kompetenzen der Eltern zu stärken und den Kindern den Aufbau einer sicheren Bindung zu ihren Eltern zu ermöglichen.

Solche guten Ansätze für eine engere Zusammenarbeit und einen engeren Kontakt zwischen den genannten Institutionen sind im Sinne des Kindeswohls richtig und sinnvoll. Das scheitert aber oftmals am Datenschutz. Der Leiter eines Jugendamtes berichtete mir, dass ihm die Hände gebunden sind, wenn Familien wegziehen, die dem Jugendamt wegen häuslicher Gewalt bekannt sind. Er darf dann nicht das Jugendamt des neuen Wohnortes benachrichtigen.Das halten wir für falsch.Unserer Meinung nach sollte man prüfen, ob man die Eltern landesweit erfassen sollte, bei denen es schon einmal zu einem Fall häuslicher Gewalt gegenüber den Kindern gekommen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Es muss auch geprüft werden, inwieweit der Datenschutz gegenüber dem Grundrecht des Kindes auf Leben und körperliche Unversehrtheit zurücktreten muss.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Beim Justizministerium ist eine Landeskoordinierungsstelle angesiedelt, die sich mit Fällen häuslicher Gewalt beschäftigt. Sie könnte in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion übernehmen.

Außerdem ist zu prüfen, ob der Arzt von der Schweigepflicht entbunden werden sollte, wenn er Kenntnis von Fällen der Misshandlung oder der Verwahrlosung von Kindern erlangt. Denn gerade die Kinderärzte verfügen über ein geeignetes Instrument, mit dem sie die Entwicklung unserer Kinder von Geburt an beobachten können. Das sind die Früherkennungsuntersuchungen. Insgesamt gibt es neun Untersuchungen für Säuglinge und Kleinkinder. Das reicht von der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr. Diese Untersuchungen haben das Ziel, die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder zu beobachten. Außerdem sollen möglicherweise auftretende Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt und behandelt werden. Dazu gehören der Seh- und Hörtest und auch die Überprüfung, ob sich die Sprache altersgerecht entwickelt.

Bei Entwicklungsdefiziten kann der Arzt frühzeitig durch Verordnung geeigneter Fördermaßnahmen, wie etwa die Krankengymnastik, die Sprachtherapie oder die Ergotherapie, eingreifen. Bei diesen Untersuchungen wird der Arzt aber auch auf Fälle der Kindesmisshandlung oder der Kindesvernachlässigung aufmerksam. Denn die Kinder werden ihm in regelmäßigen Abständen vorgestellt.

Die Teilnahme an diesen sehr sinnvollen Untersuchungen der Kinder ist aber keine Pflicht. Erst zur Schuleingangsuntersuchung, die in der Regel im Alter von sechs Jahren stattfindet, muss das Kind vorgestellt werden. Unserer Meinung nach wäre es aber wichtig, dass gerade die Säuglinge und Kleinkinder in der Zeit, in der sie noch nicht die Schule besuchen, regelmäßig auf Entwicklungsverzögerungen untersucht werden.

Eine verstärkte Aufklärung der Eltern über den Sinn und den Zweck dieser Früherkennungsuntersuchungen erscheint uns angebracht. Denn die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage betreffend Gesundheit von Kindern in Hessen, die im Herbst letzten Jahres behandelt wurde, hat uns gezeigt, dass ca. 30 % der Eltern nicht alle Früherkennungsuntersuchungstermine für ihre Kinder wahrnehmen. Insbesondere nimmt die Wahrnehmung der Untersuchungstermine im Kleinkindalter stark ab.

Angesichts der Bedeutung dieser Frage reicht uns das allein nicht aus. Denn auch die Kinder, deren Eltern diese wichtigen Untersuchungstermine trotz aller Aufklärung nicht wahrnehmen, dürfen nicht durch das Raster fallen. Wir sind der Meinung, dass die Früherkennungsuntersuchungen für alle Kinder zur Pflicht werden sollten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Denn die Früherkennungsuntersuchungen liefern nicht nur wichtige Hinweise über die Gesundheit und die altersgerechte Entwicklung unserer Kinder. Vielmehr wird dadurch auch frühzeitiges und wirkungsvolles Gegensteuern bei Auffälligkeiten ermöglicht.

Wir sind davon überzeugt,dass die Früherkennungsuntersuchungen ein ganz wichtiger Baustein unseres Maßnah

menpaketes sind, das zu erstellen wir heute beantragen und für das wir um Zustimmung werben. Wir bitten deshalb die Landesregierung, eine Bundesratsinitiative zu unterstützen, die zum Ziel hat, diese Regeluntersuchungen für alle Säuglinge und Kleinkinder zur Pflicht werden zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Kritiker könnten jetzt sagen, die Verpflichtung, an einer solchen Untersuchung teilzunehmen, würde alleine noch nichts nützen, wenn sie nicht durchgesetzt werden kann. Dem stimme ich vollkommen zu.Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, wie man erreichen kann, dass dieser Pflicht nachgekommen wird und wie man das kontrollieren kann. Wie kann man die Einhaltung dieser Verpflichtung sicherstellen, wenn sich die Eltern durch Arzt- oder Wohnungswechsel dieser entziehen wollen? Hierzu gibt es Vorschläge. Das reicht von der Koppelung an das Kindergeld bis hin zu einer Meldepflicht der Krankenkassen.

Bei alldem darf aber eines nicht aus den Augen verloren werden: Auch in Zukunft muss die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt gewährleistet sein. Sanktionen dürfen nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr muss es das Kindeswohl sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Florian Rentsch (FDP))

Unser Ziel muss es sein, dass Fehlentwicklungen frühzeitig erkannt werden und dass den Eltern dann Hilfsangebote gemacht werden. Mit den Früherkennungsuntersuchungen kann das Problem allein nicht bewältigt werden. Das ist klar. Wir halten das aber für einen wichtigen Bestandteil unseres Aktionsplans. Wir wollen ein Maßnahmenbündel aufgrund unserer Verantwortung gegenüber den Kindern schnüren.

Die Eltern müssen auch wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen. Kummertelefone haben sich in anderen Bereichen bestens bewährt. Eine landesweit einheitliche Nummer sollte eingerichtet und dann auch landesweit bekannt gemacht werden.

Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede noch einige Worte zu dem Dringlichen Antrag der Fraktion der SPD sagen. Die Mitglieder der Fraktion der SPD ziehen sich, wie sie es schon oft getan haben, auf die Kritik an der „Operation sichere Zukunft“ zurück.