Protocol of the Session on October 12, 2005

Mit der Politik von Frau Lautenschläger wurde ein in Hessen seit Jahrzehnten bestehender gesellschaftlicher Konsens aufgegeben. Das ist nicht allein eine Frage des Geldes, wie es uns manche glauben machen wollen. Vielmehr bewegen uns alle die Fantasielosigkeit und die Kaltschnäuzigkeit, mit der in Hessen Sozialpolitik gemacht wird.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die „Operation düstere Zukunft“ ist ein Paradebeispiel dafür. Jede Landesregierung und speziell das Sozialressort mussten immer mit Kürzungen umgehen, und das häufige Unverständnis von Finanzpolitikern – Frank sei entschuldigt –, was die langfristige Einsparwirkung sozialer Leistungen betrifft, kennen Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitiker jeder politischen Couleur.

Doch die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang lautet: Nimmt man als Sozialministerin die Verantwortung an, oder wird man – in diesem Fall: Frau – lediglich zum ausführenden Organ der Finanzpolitik? Auch wenn ich es in der Vergangenheit nur mittelbar miterlebt habe, stelle ich fest, dass es in diesem Land durchaus Sozialministerinnen gab, die sich ihrer Verantwortung für die Sozialpolitik und für die Menschen durchaus bewusst waren.

Was geschah mit der „Operation düstere Zukunft“, durch die in Hessen der sozialen Landschaft innerhalb eines Jahres 30 Millionen c entzogen wurden, nachdem bereits im gleichen Jahr zuvor 4 Millionen c gekürzt worden waren? Die Folge war, dass die finanzielle Grundlage und damit auch die in den Neunzigerjahren konstituierte Zusammenarbeit zwischen Land, Kreisen, Kommunen und den Trägern sozialer Dienstleistungen zusammenbrachen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Damit wurde die Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse der Menschen in den verschiedenen Regionen, Kreisen und Gemeinden als sozialpolitisches Ziel aufgegeben. Das ist meiner Meinung nach die heftigste Folge der „Operation düstere Zukunft“. Es wurde und wird immer wieder behauptet, dass die Kürzungen im Sozialbereich unausweichlich und letztendlich intelligent gewesen seien. Doch alle Rechtfertigungsversuche sind von uns bereits widerlegt worden. Deswegen möchte ich hier nicht in die Details gehen, sondern nur einige bestimmte Punkte herausgreifen.

Zur „Operation düstere Zukunft“ ist noch einmal festzuhalten: Sie, Frau Lautenschläger, müssen sich als Sozialministerin den Vorwurf gefallen lassen, gerade bei denjenigen gekürzt zu haben,die unsere Unterstützung und Solidarität am meisten benötigen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Sie haben bei denen gekürzt, die unsere Unterstützung brauchen, um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden oder zu behaupten. Ich nenne z. B. die Obdachlosen und die Menschen, die in benachteiligten Stadtvierteln wohnen, denen Sie das Begleitprogramm „Soziale Stadt“ gestrichen haben.

Sie haben die Landesförderung für die Schuldnerberatung eingestellt und bei der Förderung von Frauenhäu

sern gekürzt. Entgegen Ihrer virtuellen Öffentlichkeitsarbeit in der Familienpolitik haben Sie die Mittel für die Erziehungsberatungsstellen und die Familienbildungsstätten gestrichen. Das Gleiche gilt für die Jugendberufshilfe.

Sie haben aber auch das gestrichen,was Ihnen ideologisch unlieb war, z. B. die Frauenbildungsprojekte, die Hilfen für jugendliche Strafgefangene, die Mittel für Suchtprävention und Maßnahmen zur Eindämmung von HIV/Aids – obwohl wir gerade sehen, dass die Zahl der mit HIV infizierten Menschen wieder ansteigt. Die Mittel für das,was Ihnen ideologisch in den Kram passte,wurden hingegen nicht gestrichen, sondern zum Teil sogar erhöht. Das gilt z. B. für die Kulturarbeit der Vertriebenen. Auch hier hätten ganz andere Weichenstellungen, z. B. in Richtung Drogenprävention und HIV/Aids-Prävention, erfolgen müssen.All das haben Sie zu verantworten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Diese Abwendung von denjenigen, die unserer Hilfe bedürfen, ist tatsächlich das größte Versäumnis der „Operation düstere Zukunft“; denn damit haben Sie sich bewusst von dem Anspruch einer modernen Sozialpolitik verabschiedet, nämlich von der Fürsorge für sozial Benachteiligte.

Mittelfristig wird eine bislang gut funktionierende soziale Landschaft ausgetrocknet. Aber langfristig – das ist meiner Meinung nach besonders zu betonen – wird es höhere gesellschaftliche Folgekosten geben, die vor allem dadurch entstehen, dass die Vielfalt der Präventionsangebote nicht mehr existiert.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ein weiterer wesentlicher Punkt, der deutlich macht, wie hier Sozialpolitik betrieben wird, ist die Integrationspolitik. Obwohl es den Integrationsbeirat gibt, in dem sehr viele Menschen sehr engagiert arbeiten, sendet die Landesregierung ständig andere Signale aus. Dazu gehören unter anderem das Kopftuchverbot für alle Beamtinnen und die Tatsache, dass es nach wie vor keinen islamischen Religionsunterricht an den Schulen gibt. Dadurch wird es überhaupt erst ermöglicht, dass Kinder in islamistischen Koranschulen abgeschottet werden.

Das wird auch dadurch deutlich, dass Sie bei den Finanzleistungen für die Integration gekürzt haben. Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass Sie einen großen Teil der Mittel für die Sprachförderung ausgeben. In der Migrationsforschung ist es ja auch unbestritten, dass Sprachkenntnisse ein wesentlicher Integrationsbaustein sind.

Meine Damen und Herren, dennoch muss mehr geschehen, damit sich Migrantinnen und Migranten in eine Aufnahmegesellschaft integrieren können. Das weltweit bestfunktionierende Integrationsmodell ist nicht die Assimilation, sondern die Akzeptanz der Vielfältigkeit der Kulturen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben auch die Integrationsleistungen gekürzt,von 7,2 Millionen c im Jahr 2003 auf 4,9 Millionen c nach der „Operation düstere Zukunft“.Von diesen 4,9 Millionen c entfallen allein 3,3 Millionen c auf Sprachkurse. Meine Damen und Herren, für andere Integrationsleistungen bleibt da nicht mehr viel übrig. Das heißt, auch hier haben Sie sich von der gestaltenden Sozialpolitik verabschiedet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kommen wir zu einem weiteren Punkt, der Kinder- und Familienpolitik. Auch hier können wir nur Ihr Versagen feststellen. Eine gestaltende und mit finanziellen Mitteln ausgestattete Kinder- und Familienpolitik ist – entgegen der selbstbeweihräuchernden Öffentlichkeitsarbeit der Ministerin, die soeben von Frau Oppermann weitergeführt wurde – eigentlich nicht vorhanden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die Philosophie und die Praxis bleiben trotz moderner Lippenbekenntnisse eher das Modell Kirchhof. Die Familienpolitik der CDU beschränkt sich auf Virtuelles – auf Wettbewerbe, auf „Familienfreundliche Stadt“,

(Petra Fuhrmann (SPD):Auf Familientische!)

„Kinderfreundliche Stadt“, auf Familientage, Fachtage und Familientische. In die Verbesserung der Strukturen wird trotz des belegten Bedarfs nur unzureichend investiert.

Meine Damen und Herren, Kinderfreundlichkeit kann man sicherlich nicht mit Geld kaufen. Dennoch weisen sämtliche Untersuchungen darauf hin, dass ein wesentlicher Grund dafür, dass junge Menschen heute kein oder nur ein Kind bekommen, darin liegt, dass die nötige Infrastruktur fehlt, um Familie und Berufsleben miteinander zu vereinbaren.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

Dennoch sind die Landesmittel von 66,5 Millionen c im letzten Regierungsjahr von Rot-Grün in Hessen auf jetzt 18,8 Millionen c im Jahr 2005 hinuntergegangen. Meine Damen und Herren, allein das ist ein Beweis dafür, dass Kinder- und Familienpolitik mitnichten ein Schwerpunkt dieser Landesregierung ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Die Beliebigkeit, mit der man hier glaubt, Familienpolitik machen zu können, zeigt sich auch darin, dass der Demographiebeauftragte der Landesregierung, Herr Grüttner, feststellt, dass in Hessen eine Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau notwendig wäre, um dem zu erwartenden wirtschaftlichen Niedergang Hessens entgegenzuwirken.

Abgesehen davon,dass ich mich frage,wie er eigentlich zu diesem Wissen kommt, denke ich, es wird bestimmt noch einmal Gelegenheit bestehen, darüber zu diskutieren,

(Zuruf der Abg. Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP))

was das im Prinzip für die Frauenpolitik der Hessischen Landesregierung bedeutet.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber es gibt auch andere Beispiele für das Versagen der Familienpolitik dieser Hessischen Landesregierung. In einem Beschluss des CDU-Parteitages am 13.11.2004 wurde ein bedarfs- und flächendeckendes Angebot der Kinderbetreuung,insbesondere für Kinder unter drei Jahren,bis zum Jahre 2010 vorgesehen:Hessen soll zum Land der Tagesmütter werden.Kurze Zeit darauf wurden in den Haushaltsberatungen für diesen gesamten Komplex keinerlei zusätzliche Gelder zur Verfügung gestellt. Stattdessen wurde ein Schloss gekauft.

Meine Damen und Herren, schon solche Gegenüberstellungen zeigen, dass Sie nicht bereit sind, in die Infrastruktur für Familien zu investieren. Das zeigt sich dann auch

an den Zahlen. Zurzeit gibt es – das sind die Aussagen Ihrer eigenen Ministerin – nur 1.448 Tagesmütter in Hessen; nötig aber wären über 5.000.

(Ministerpräsident Roland Koch verlässt die Regie- rungsbank und nimmt neben Dr. Franz Josef Jung (Rheingau) (CDU) auf dem Sitz der Abg. Nicola Beer (FDP) Platz.)

So gibt es im Moment 7.800 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren; bedarfsdeckend – auch nach Beschluss der CDU – wären aber 32.000.

Meine Damen und Herren, allein diese Zahlen belegen doch, wie weit Sie davon entfernt sind, Ihre eigenen Versprechungen wahr zu machen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Noch so ein Lieblingskind von Ihnen, bei dem das Virtuelle überwiegt und nur wenig Inhalt vorhanden ist: die Offensive für Kinderbetreuung. Mit diesem Förderprogramm macht Hessen angeblich einen Riesenschritt nach vorne – der Stapel der Presseerklärungen dazu ist praktisch nicht mehr zu überschauen. Aber von den 29.782 Plätzen aus der Offensive für Kinderbetreuung – die angeblich ein Programm für unter Dreijährige ist – wurden im Jahr 2005, also im laufenden Jahr, 23.469 für Schulkinder finanziert.

(Petra Fuhrmann (SPD): Hört, hört!)

Meine Damen und Herren, das Programm „Offensive für Kinderbetreuung“ ist mitnichten ein Kleinkinderprogramm,

(Petra Fuhrmann (SPD): So ist es!)

sondern dient dazu, die Defizite der Landesregierung in der Hortbetreuung auszugleichen. Dafür werden diese Gelder verwandt.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Obwohl jedes Jahr eine vierstellige Zahl neuer Plätze entstehen müsste, um die nachfragegerechte Betreuungsquote zu erreichen, sind im Jahr 2002 325 Plätze entstanden, im Jahr 2003 477 und im Jahr 2004 rund 600. Meine Damen und Herren, um bis zum Jahr 2010 unser Ziel tatsächlich zu erreichen, bräuchten wir jährlich eine mindestens vierstellige Zahl neuer Plätze. Wenn Sie in diesem Tempo mit dem Ausbau weitermachen, brauchen wir 34 Jahre, um die Betreuungsquote von 20 % zu erreichen. Das ist wirklich ein Armutszeugnis für diese Landesregierung.