Protocol of the Session on October 12, 2005

Die vereinbarte Redezeit beträgt 15 Minuten. Die Frau Kollegin Pfaff hat das Wort für die SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in zweiter Lesung die Novelle des ÖPNV-Gesetzes. Vorausgegangen ist dazu im Verkehrsausschuss eine breit angelegte Anhörung, in der gleichzeitig die neu geordnete Wettbewerbs- und Ausschreibungspraxis des Landes im ÖPNV gemäß Güttler-Erlass vom März 2004 mit behandelt und angehört wurde. Diese von uns beantragte Erweiterung der Anhörung war überaus sinnvoll, da nicht zuletzt die Ausschreibungspraxis in kausalem Zusammenhang mit der Novelle steht und zudem für die Weiterentwicklung des ÖPNV in Hessen von herausragender Bedeutung ist.

Nach einer sorgfältigen Auswertung der Anhörung sieht sich die SPD-Fraktion in ihrer kritischen Haltung bestätigt und bestärkt.

(Dr.Walter Lübcke (CDU): Dann waren Sie auf einer falschen Veranstaltung!)

Novelle und Erlass haben in der Anhörung eine breite Kritik erfahren. Insbesondere die Kommunalen Spitzenverbände, die Verkehrsunternehmen und deren Interessensverbände, Sachverständige und Gewerkschaften sind mit der Novelle an entscheidenden Stellen und in wichtigen Punkten nicht einverstanden.

Sie selbst, Herr Minister Rhiel, haben im Ausschuss eingeräumt, dass Sie von allen Seiten massiv Kritik erfahren haben. Davon abzuleiten, dass Sie auf dem richtigen Weg sind, halte ich für falsch.

(Beifall bei der SPD)

Einzig und allein die beiden großen Aufgabenträgerorganisationen, also die Verbünde, waren allem Anschein nach zufrieden und begrüßten die Novelle. Kein Wunder, meine sehr verehrten Damen und Herren, denn dieses Gesetz ist ganz nach dem Munde der beiden Verbünde gestaltet und stellt eine überaus einseitige Stärkung der Verbünde dar, während die lokalen Aufgabenträger, die Städte und Gemeinden, die kommunalen Verkehrsbetriebe und die Privaten einen drastischen Kompetenzverlust erfahren.

Das zentrale Anliegen der Novelle, die strikte Trennung der Besteller- und Erstellerebene, wird von unserer Seite nicht infrage gestellt, wie wir überhaupt einen fairen und diskriminierungsfreien Wettbewerb mit sozial- und arbeitsrechtlichen Standards,also mit Marktspielregeln,voll und ganz unterstützen.Die konkrete Ausgestaltung dieses Prinzips in der vorgelegten Novelle führt jedoch nicht zu einem von mir definierten Wettbewerb und nicht zu einer konstruktiven Partnerschaft der Besteller und Ersteller. Vielmehr werden die Verkehrsunternehmen zu reinen Fahrdienstleistern degradiert, deren Know-how und Mitwirkung bei der Erfüllung dieser Aufgabe wie bislang nicht mehr gefragt sind. Wir kommen jedenfalls auf der Basis der Anhörung und der dort vorgetragenen Stellungnahmen weiterhin zu dem Ergebnis: Mit der Novelle wird die Landesregierung ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreichen, nämlich Bewährtes zu erhalten und auszubauen, klare Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb zu schaffen und die Finanzierung des ÖPNV zu optimieren. Ich will unsere Vorstellungen und unsere Forderungen anhand dieser drei Ziele darstellen.

Zunächst zum ersten Ziel: Bewährtes erhalten und ausbauen. Meine Damen und Herren, wir sehen nicht, dass der Entwurf in wichtigen Bereichen Bewährtes erhalten will, geschweige denn ausbauen; ganz im Gegenteil, die bewährten Grundsätze und bewährten Strukturen des öffentlichen Verkehrs in Hessen werden vollständig verändert. Das macht sich zunächst an dem Prinzip der öffentlichen Daseinsvorsorge fest. Das alte Gesetz enthält in § 2 Abs. 2 eine sehr klare Regelung, die heißt: „Der öffentliche Personennahverkehr ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge.“

(Dr.Walter Lübcke (CDU): Das ist im Bundesrecht geregelt!)

Dieses klare Bekenntnis ist weggefallen.

(Dr. Walter Lübcke (CDU): Das ist doch Bundesrecht!)

Wir fordern die Wiederaufnahme in der bisherigen Fassung, denn dies, Herr Kollege Dr. Lübcke, ist der eindeutige Auftrag, den das Bundesregionalisierungsgesetz den Ländern im Rahmen der Bahnreform aufgegeben hat.

(Beifall bei der SPD)

Folgerichtig stellt der Bund den Ländern dafür öffentliche Gelder zur Verfügung. Hessen erhält für den Betrieb und die Infrastruktur alljährlich über 500 Millionen c vom Bund.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union, an dieser Stelle beginnt allerdings Ihr Problem.Anders als dem Bundesgesetzgeber ist Ihnen der ÖPNV als Aufgabe der Daseinsvorsorge des Landes ein Dorn im Auge. Dementsprechend streben Sie dreierlei an: a) kurzfristig die Verlagerung der politischen und finanziellen Verantwortung auf die kommunale Ebene, b) längerfristig den generellen Ausstieg aus der Daseinsvorsorge und c) die drasti

sche Absenkung der öffentlichen Mittel für den ÖPNV, was Sie auch bereits in Hessen seit einigen Jahren praktizieren und was Herr Koch im Rahmen des Subventionsabbaus bei den Regionalisierungsmitteln schon durchgesetzt hat. Getreu Ihrem marktradikalen Wettbewerbsmodell würden Sie sehr gern den ÖPNV europaweit vollständig liberalisieren und ganz den Kräften des freien Marktes übereignen.

Übrigens, Herr Kollege Rhiel,

(Heiterkeit – Dr. Walter Lübcke (CDU): So weit sind wir!)

Herr Minister Rhiel, beim Postmonopol war das ebenfalls Ihr Weg und waren das ebenfalls Ihre Wettbewerbsvorstellungen. Sie sind damit im Bundesrat an den eigenen CDU-geführten Ländern gescheitert. Ihre Wettbewerbsvorstellungen gehen jedenfalls weit über die der EUKommission hinaus, wie inzwischen nach Vorlage des neuen Verordnungsentwurfs Verkehr der EU-Kommission bekannt geworden ist. Ihre marktradikalen Wettbewerbsvorstellungen im ÖPNV würden im Ergebnis allerdings zu einer massiven Benachteiligung der Mobilitätsverhältnisse im ländlichen Raum mit einer Ausdünnung des Angebots gegenüber den Ballungszentren führen; denn niedrigere Kostendeckungsgrade, die ja gerade bei den Linien im flachen Lande eher entstehen, sind für gewinnorientierte Unternehmen vollkommen unattraktiv. Ihr Wettbewerbsmodell lehnen wir daher ab. Wir wollen gleiche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen.

(Beifall bei der SPD)

Lediglich aufgrund massiver Proteste wegen der bundesgesetzlichen Vorgaben haben Sie die Daseinsvorsorge so ganz am Rande in einem Nebensatz wieder hineingeschrieben.

Damit wäre ich bei einem weiteren Punkt, den grundsätzlichen Zielen, die in § 1 des alten Gesetzes enthalten sind und die nach Ihrer Lesart ideologischer Schnickschnack sind und gestrichen wurden.Auch dies findet nicht unsere Zustimmung. Neben der zentralen Ausgabe als überaus wichtigem Teil des Gesamtverkehrssystems, zur Bewältigung der Mobilitätsbedürfnisse und des Gesamtverkehrsaufkommens beizutragen, erfüllt der ÖPNV noch weitere Funktionen. Diese müssen Bestandteil eines modernen Gesetzes sein:

Erstens soll der ÖPNV Umweltqualität und Lebensbedingungen der Menschen durch eine deutliche Verringerung der Verkehrsimmissionen verbessern, zweitens soll er als Teil des Umweltverbundes dem Umweltschutz, der Verkehrssicherheit, der Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur sowie der Herstellung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse dienen, und drittens soll er als möglichst vollwertige Alternative zum motorisierten Individualverkehr zur Verfügung stehen. Die Inhalte des neuen § 3 halten wir für zu unbestimmt, um als gesetzliche Grundlage den Ansprüchen an Verfügbarkeit, Qualität und Service gerecht werden zu können.

Ich komme zum zweiten Ziel: klare Rahmenbedingungen für faire Wettbewerbsbedingungen schaffen. Sehr geehrter Herr Minister Rhiel, meine Damen und Herren von der Union, von diesem Ziel sind Sie mit Novelle und Erlass Lichtjahre weit entfernt,

(Dr.Walter Lübcke (CDU): Na, na, na!)

insbesondere von § 8 Abs. 2. Dort heißt es:

... eine Angebotsvielfalt (ist) zu fördern, mittelständische Strukturen des Verkehrsgewerbes sind zu unterstützen.

In Wirklichkeit passiert in Hessen, als einzigem Bundesland übrigens, genau das Gegenteil. Sie haben mit Erlass vom März 2004 den bundesweiten Alleingang fast übergangslos im Hauruckverfahren im europaweiten Ausschreibungswettbewerb verordnet. Alle anderen Bundesländer ermöglichen einen behutsamen Übergang in den Wettbewerb.Daher lassen diese neben der Ausschreibung weiterhin entsprechend Bundes- und EU-Recht eine Direktvergabe unter Beachtung der Kriterien, die der Europäische Gerichtshof zur Finanzierung aufgestellt hat, zu. Die Novelle selbst verankert zwar keine generelle Ausschreibungspflicht, eine solche Regelung war Ihnen dann doch zu riskant; allerdings normiert sie in § 9 in Verbindung mit dem genannten Erlass faktisch die ausnahmslose Ausschreibungspflicht. Das lehnen wir ab, und das lehnen auch die Kommunalen Spitzenverbände ab,wie in der Anhörung deutlich geworden ist.

(Beifall bei der SPD)

Daher wurden Sie, Herr Minister Rhiel, in der Anhörung insbesondere vom Städtetag aufgefordert, entsprechend der Rechtsprechung des EuGH und den Vorgaben des vorliegenden EU-Verordnungsentwurfs den Städten wie in den anderen Bundesländern auch ein Wahlrecht einzuräumen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Minister Rhiel, seit Monaten fordern wir Sie auf, Ihre Wettbewerbspraxis dahin gehend zu verändern. Sie haben unsere Forderungen und Warnungen in den Wind geschlagen, und jetzt, nach Vorlage des neuen EU-Verordnungsentwurfs, rudern Sie zurück und müssen die von uns seit Monaten geforderte Kurskorrektur vornehmen. In der letzten Ausschusssitzung mussten Sie einräumen, dass die hessischen Vergaberichtlinien mit dem EU-Verordnungsentwurf nicht kompatibel sind. Herr Minister, Sie haben überaus vorsichtig anklingen lassen, Ihren Erlass anpassen zu wollen, und den Rückzug auf Raten bereits eingeläutet.

(Dr. Walter Lübcke (CDU): Da ging es doch um ganz andere Fragestellungen!)

Ihr bundesweiter Alleingang ist damit kläglich gescheitert,

(Gerhard Bökel (SPD): Mittelstandsfeindlich!)

und der so genannte hessische Weg ist ein verhängnisvoller Irrweg,

(Beifall bei der SPD)

ein Irrweg, der bereits heute zahlreiche kleine Mittelständler in die Insolvenz geführt hat, Dumpinglöhne bewirkt hat und einigen Städten unverantwortliche finanzielle Risiken gebracht hat. Das habe ich bereits in der Debatte zur ersten Lesung deutlich gemacht.Wir fordern Sie in unserem Antrag zur Novelle erneut auf, den Erlass zurückzunehmen und eine Veränderung Ihrer Vergabepraxis vorzunehmen. Wir raten Ihnen, relativ schnell zu handeln, da Ihnen ansonsten ein riesiger Ärger ins Haus steht. Sie wissen, Herr Minister, dass die Städte Kassel, Gießen, Marburg,Wetzlar und Hanau eine Direktvergabe unter Beachtung der EuGH-Vorgaben prüfen und gegebenenfalls auch in die Tat umsetzen. Kassel zumindest hat bereits öffentlich angekündigt, sich mit Ihnen in dieser Frage anzulegen.

(Beifall bei der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir begrüßen in diesem Zusammenhang überaus den Antrag der FDP, der ebenfalls eine Modifizierung des Erlasses verlangt. Allerdings geht uns eine Modifizierung an dieser Stelle nicht weit genug. Zudem halten wir die Aufnahme einer Verordnungsermächtigung in den vorliegenden Gesetzentwurf für erforderlich. Um tatsächlich einen fairen, diskriminierungsfreien und mittelstandsfreundlichen Wettbewerb in Hessen zu erreichen, muss auf der Ermächtigungsgrundlage parallel zum Gesetz eine Rechtsverordnung erlassen werden, die alle Anbieter zur Vollkostenkalkulation verpflichtet, kleinere Losgrößen bei Ausschreibungen vorsieht und diese zeitlich versetzt ermöglicht, die Einhaltung von Mindeststandards bei der Produktion und der Leistungsqualität und insbesondere auch tariftreue Entlohnung vorsieht und letztlich den Gebietskörperschaften die Erbringung von Verkehrsdienstleistungen ohne Ausschreibung gemäß EU-Verordnung ermöglicht.

(Beifall bei der SPD)

Ich komme zum letzten der Ziele: die Finanzierung optimieren. Die in der Novelle vorgesehene Finanzierungsregelung läuft diesem Ziel eklatant zuwider.Auch an dieser Stelle wurde die Kritik der Kommunalen Spitzenverbände, insbesondere des Städtetages und des Städte- und Gemeindebundes, sehr deutlich vorgetragen. Ich halte die Fünfjahresbudgets für die beiden großen Verbünde mit der Zusammenführung der konsumtiven und investiven Mittel durchaus für einen Fortschritt. Aber das ist nicht neu, Herr Kollege Dr. Lübcke. Das wird seit einiger Zeit praktiziert. Voraussetzung ist für uns allerdings, dass die Mittel nicht, wie in den vergangenen Jahren, sukzessive gekürzt werden. Zudem erwarten wir mindestens eine Beibehaltung der Status-quo-Finanzierung, da diese jetzt schon eine große Herausforderung für die Weiterentwicklung des Angebotes darstellt.

Frau Kollegin Pfaff, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich komme zum Schluss. Gestatten Sie mir noch zwei letzte Anmerkungen.

Herr Minister Rhiel, wir erwarten, dass die pauschalen Zuwendungen für den lokalen Verkehr konkretisiert werden, und zwar konkretisiert mit landeseinheitlichen Kennzahlen und Größen, und dass es auch für die öffentlichen Aufgabenträger mehrjährige Finanzierungsvereinbarungen gibt.

Ein letzter sehr wichtiger Punkt ist für uns, dass wir erwarten, dass in dem Gesetz wieder eine Regelung auftaucht, wonach die Regionalisierungsmittel des Bundes für den ÖPNV zweckgebunden werden.Auch das ist weggefallen. Wir vermuten an dieser Stelle, dass der Finanzminister die eine oder andere Million Euro gerne aus den Regionalisierungsmitteln des Bundes für andere Zwecke einsetzen und damit abgrundtiefe Löcher stopfen will.

(Günter Rudolph (SPD): So sind sie! – Gerhard Bökel (SPD): Hart und radikal!)

Deshalb gehört diese Regelung wieder in das Gesetz. – Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin Pfaff. – Als Nächster hat Kollege Dr. Lübcke für die CDU-Fraktion das Wort.