Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Walter, Ihre Rede wie auch Ihre Replik auf die Kurzintervention war unangemessen, Ihre Bemerkungen waren teilweise widersprüchlich. Sie haben keine Antworten gegeben, sondern Sie haben, wie man gerade in Bezug auf Herrn Kollegen Dr. Jürgens gesehen hat, Wahlkampf gemacht. Dafür eignet sich die Hessische Verfassung nicht.
Bevor ich zur Bewertung der SPD-Haltung komme, lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches und der Sache Angemessenes sagen.
Die von der Enquetekommission zur Reform der Hessischen Verfassung vorgeschlagene Revision wäre die umfassendste und wichtigste Verfassungsänderung in Hessen seit 1946. Gleichwohl würde ihr historischer Charakter weitgehend gewahrt und sie weder quantitativ noch qualitativ einer Totalrevision unterzogen. Wir haben uns bei den Vorschlägen zur Verfassungsreform bewusst auf das unabdingbar Notwendige und vor allem auf das einem parteiübergreifenden Konsens Zugängliche beschränkt. Sie würde einerseits von völlig leer gelaufenen oder bundesrechtswidrigen Normen entrümpelt und damit entschlackt werden, andererseits dort zeitgerecht modernisiert, wo sie erkennbar nicht mehr den Werten der großen Bevölkerungsmehrheit entspricht bzw. auf zentrale Fragen für Staat und Gesellschaft keine Antworten gibt. Wir, die Union, sind der Überzeugung, dass der Vorschlag der Kommission maßstabsetzend für eine freiheitliche Landesverfassung des 21. Jahrhunderts wäre.
Dieser Abschlussbericht ist der Erfolg derer, die sich zum Ziel gesetzt haben, unsere Verfassung behutsam anzupassen.Es ist ein Kompromiss zwischen CDU,BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP, der einzigartig ist, weil jede der zustimmenden Fraktionen auf einen maßgeblichen Teil ihrer Handschrift verzichten musste. Wie heißt es so schön? Politik ist die Kunst des Kompromisses.Meine Damen und Herren, Kompromiss bedeutet Einigung. Einigung bedeutet meistens die Halbierung beider Positionen.
Welche zentralen Änderungen sieht die Union in diesem Kompromissvorschlag? Die Präambel unserer Verfassung erfährt eine umfassende Ergänzung, gleichsam ein vor die Klammer gezogenes Kurzprogramm unserer Verfassung. Das Bekenntnis zu der Verantwortung vor Gott und dem religiös-sittlichen Erbe ist für uns als hessische Christdemokraten von besonderer Bedeutung. Durch diese Formulierung wird auf die vornehmlich christliche und jüdische Verfassungstradition mit ihren Inhalten,wie etwa der Existenz von Menschenrechten oder der Unzulässigkeit totalitärer Herrschaftsformen, hingewiesen, ohne andere Religionen oder Weltanschauungen einschließlich des Atheismus auszugrenzen. Hierin liegt zugleich ein Bekenntnis zu unverrückbaren Grundwerten wie Demokratie,Freiheit,Menschenwürde,Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Besonders wichtig für die Union ist die Förderung der Eigeninitiative der Bürger zugunsten des Gemeinwohls. Die Reformvorschläge vermitteln ein moder
nes Bild von Bürgerinnen und Bürgern als eigeninitiativ zugunsten des Gemeinwohls handelnden Menschen.
Die Anerkennung der häuslichen Pflege und Erziehung ist ebenso bemerkenswert wie die Einführung des Staatsziels Förderung des Ehrenamtes, welches die erste Norm dieser Art auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland wäre. Die Festschreibung des Grundsatzes der Subsidiarität staatlichen Handelns im Verhältnis zur gesellschaftlichen Selbstorganisation ist eines der Grundelemente christdemokratischen Denkens und der von uns gewünschten Verfassungswirklichkeit. Ebenso befürwortet die Union ausdrücklich die Stärkung der Rechte der Kinder und der Familien.
Die Festschreibung einer an Freiheit und Eigenverantwortung ausgerichteten sozialen Marktwirtschaft ist für uns eine weitere wichtige Position der vorgeschlagenen Verfassungsreform. Dieser neuen Ausrichtung folgend werden ferner die stark ideologisch geprägten bundesrechtswidrigen und obsolet gewordenen Vorschriften zur Sozialisierung von Privateigentum, zum Umgang mit sozialisierten Unternehmen und zur Bodenreform beseitigt. Damit wird nach Auffassung der Union ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der normativen Verbindlichkeit und zur Autorität und Glaubwürdigkeit unserer Verfassung geleistet.
Meine Damen und Herren, wir können uns im 21. Jahrhundert keine Normruinen leisten, die einem historisch überholten Geist entsprechen. Ein beredtes Beispiel hierfür ist die überfällige Streichung der Todesstrafe.
Für uns ist besonders bemerkenswert, dass CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP exemplarisch gezeigt haben, dass sie durchaus in der Lage sind, über die Parteigrenzen hinweg einen belastbaren Kompromiss zu finden.
Hinzu kommt, dass wir Einvernehmen darüber erzielt haben, im Falle der weiteren Fortführung des Verfassungsreformvorhabens durch Voranhörungen der Öffentlichkeit diese noch stärker einzubeziehen und sodann die notwendigen Gesetzentwürfe zu erarbeiten. Ich sage aber auch ganz deutlich, Herr Walter, dass mit dem heute vorliegenden Kompromissvorschlag bereits erkennbar der kleinste gemeinsame Nenner gefunden sein dürfte.
Umso bedauerlicher finde ich es, dass sich die SPD nunmehr aus durchsichtigen politischen Motiven diesem Kompromiss verschließt.
Seit dem 10. Dezember, als die SPD-Landesvorsitzende entschieden hat, den Kompromiss nicht mittragen zu wollen, um sich gegen wen auch immer zu profilieren, gibt es eine für uns unverständliche Blockadehaltung der Sozialdemokraten. Zunächst beteiligte man sich nicht an der entscheidenden inhaltlichen Abstimmung. Dann wurde mit 22-seitigen Änderungsanträgen versucht, den Abschlussbericht massiv zu verändern. Sodann stimmte man gegen den Abschlussbericht, und dann belegte man den Bericht noch mit einem Sondervotum, das an Unglaublichkeit nicht zu überbieten ist.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, es stellt sich wirklich die Frage, auch nach der Rede von Herrn Walter, ob Sie überhaupt noch eine Reform der Hessischen Verfassung wollen, die Sie noch vor zwei Jahren selbst gewünscht haben.
Meine Damen und Herren, ich sagte Ihnen bereits, es ist ein Kompromiss, der vorliegt. Nur die SPD scheint kompromisslos zu bleiben und beharrt auf der von ihr vorgeschlagenen Maximalposition. Dabei sind ihre geäußerten inhaltlichen Bedenken – das lassen Sie mich jetzt durchaus noch einmal aufführen – bei näherer Beleuchtung absolut fadenscheinig.
Sie behaupten, mit der Änderung des Art. 29 würde die Tarifautonomie unterminiert. Nein, meine Damen und Herren, die vorgeschlagene Änderung ist kein Anschlag auf die Tarifautonomie. Vielmehr zeichnet sie die jahrelange Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach, in der neben Tarifverträgen auch Betriebsvereinbarungen anerkannt werden. Betriebsvereinbarungen sind in der Praxis seit langem bekannt und bewährt. Fragen Sie doch einmal in Baunatal bei VW oder in Rüsselsheim bei Opel nach. Detailverliebte Flächentarifverträge sind schon lange nicht mehr das Mittel, um Arbeitsplätze,Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum zu sichern.
Flexibilität ist gefordert, und ich meine, sie wird auch von den Arbeitnehmern tagtäglich ausgeübt. Ich habe gerade VW und Opel erwähnt.
Ebenso verhält es sich bei der Kritik an der notwendigen Veränderung unserer Wirtschaftsverfassung. Sie behaupten, die vorgeschlagene Änderung des Art. 38 sei eine massive Änderung der Bewertung der sozialen Dimension des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigung. Lesen Sie ihn einmal genau durch. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Für mich stellt sich die Frage: Was wollen Sie eigentlich?
Der dritte Punkt, den Sie kritisch ansprechen, ist ein sehr populistischer Gedanke, indem Sie behaupten, mit der Veränderung des Art. 123 wäre ein nicht hinnehmbarer Demokratieverlust verbunden. Meine Damen und Herren,dies schlägt nach meiner Ansicht dem Fass den Boden aus.
Nach dem vorliegenden Vorschlag wird nur als Alternative zu dem bisherigen Verfahren die Möglichkeit eingeräumt, die Hessische Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit zu ändern. Die SPD wird wahrscheinlich immer dabei sein. Dies entspricht übrigens der Lebenswirklich
keit in fast allen deutschen Bundesländern. Gerade aber weil dies einen Verlust volksdemokratischer Mitwirkungsrechte bedeuten kann, haben die Mehrheitsfraktionen sehr bewusst die Möglichkeit eingeräumt, dass das hessische Volk die vom Landtag mit Zweidrittelmehrheit beschlossene Verfassungsänderung durch Volksentscheid wieder zurückholen kann. Wir haben noch weitergehend beschlossen, dass erstmals das Volk sogar per Volksbegehren und Volksentscheid selbst die Hessische Verfassung ändern kann.
Herr Walter, ich frage Sie – Sie können sich gern noch zu einer Kurzintervention melden –: Wo ist denn hier der Verlust an direkter Demokratie? Das vermögen Sie uns vielleicht zu erklären.Wir verstehen es nicht.
dass wir mit Zweidrittelmehrheit eine Vielzahl von zeitlich überholten, abgelaufenen Bestimmungen aus der Verfassung herausnehmen wollten, ohne das Volk hiermit zu belästigen – aus Gründen der Praktikabilität und nicht, um dem Volk Rechte zu entziehen. Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, dies alles wissen Sie. Deshalb halte ich gemeinsam mit meiner Fraktion die Behauptung, mit den vorgeschlagenen Verfassungsreformen gehe ein Demokratieverlust einher, für unangemessen, polemisch und unglaublich ungerecht gegenüber den anderen Fraktionen.
Es ist bedauerlich, dass Sie sich dazu haben hinreißen lassen, so durchsichtig den gefundenen Parteienkompromiss zu torpedieren. Sie riskieren damit bewusst das Scheitern des Reformvorhabens. Denn immer nur von Kompromissen zu reden und selbst kompromisslos zu handeln, das bringt uns nicht weiter. Einzig Sie haben die Möglichkeit, hier und heute zu entscheiden, ob es weitergeht oder ob die Reform scheitert. Ich fordere Sie auf: Kehren Sie von der Kompromisslosigkeit Ihres Sondervotums ab.
Frau Ypsilanti, machen Sie endlich einmal eigene sachliche Vorschläge,die zeigen,was Sie wollen,statt immer nur Pressekonferenzen darüber zu geben, was Sie nicht wollen. Bisher haben Sie keinen, aber auch gar keinen konkreten Änderungs- oder Kompromissvorschlag zu den Punkten vorgelegt, die Sie kritisieren. Das zeigt, dass Kompromisslosigkeit auch mit Unwillen gepaart werden kann.
Was Sie wollen, ist keine Reform. Sagen Sie das ehrlich. Wir mussten feststellen, dass das, was Sie bisher wollten, ideologische Blockade ist.
Meine Damen und Herren, wir würden Ihnen die Hand reichen, wenn Sie endlich konstruktive Vorschläge machen würden. Meinetwegen können wir die geplante Änderung des Art. 123 Hessische Verfassung komplett von der Agenda nehmen. Damit hätten wir kein Problem. Wenn Sie aber bei dem kategorischen Nein bleiben – bis
her habe ich von Ihnen nichts anderes vernommen –,dann ist es so, dass Sie alleine dafür verantwortlich zeichnen, dass wichtige Neuerungen, wie die Aufnahme des Tierschutzes, die Stärkung des Ehrenamts, die Berücksichtigung des Gottesbezugs, die Etablierung der Kinderrechte und der Kunst und der Kultur in der Hessischen Verfassung und die Stärkung der Bürgerbeteiligung in Hessen auf Dauer nicht umgesetzt werden.
Wir, die hessischen Christdemokraten sind bereit, die vorgeschlagene Reform zu tragen. Wir würden uns sehr freuen, wenn das alle Fraktionen dieses Hauses auch so sähen.