Protocol of the Session on May 12, 2004

Er kommt nicht sozusagen als Neuling zur Europäischen Union, sondern er war schon immer dabei, aber er war für Jahre und Jahrzehnte getrennt.

Meine Damen und Herren, deswegen rege ich an, zu unterstreichen, dass der Hessische Landtag bei der positiven Beurteilung der vollendeten Erweiterungsrunde ganz offenkundig einer Meinung ist. Das haben wir auch am vergangenen Freitag bei der Veranstaltung im Biebricher Schloss festgestellt.

Zu dem Thema Türkei und dem, was damit zusammenhängt, empfehle ich uns allen – wenn ich mir das erlauben darf zu sagen: mit Nachdruck – eher sehr leise und sehr nachdenkliche Töne, weil es unterschiedliche, fein ziselierte Ausstrahlungen gibt, die so einfach, wie sie teilweise von diesem Pult aus vorgetragen worden sind, aus meiner Sicht nicht sind.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schwere Kritik an Dr. Lennert!)

Frau Kollegin Hölldobler-Heumüller, Sie erlauben mir, ganz ruhig und gelassen zu sagen, dass in diesem Zusammenhang am Pult des Hessischen Landtags Worte wie „Volksverdummung“, „reaktionäre Kräfte in der Türkei“ und Äußerungen über latente Ausländerfeindlichkeit dem Thema nicht angemessen sind.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So weit kommt es noch! – Tarek AlWazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Wer hat damit angefangen? – Weitere Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich, getroffen, und dann wird gebellt. Aber es ist erlaubt, das in diesem Zusammenhang zu sagen.

(Anhaltende Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dem Mitbewerber im politischen Diskurs ein hohes Maß an unseriösen Argumenten und Hintergedanken zu unterstellen, die er nicht offen zu nennen bereit sei, das ist nicht in Ordnung.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP – Zurufe von dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN)

Das ist in einem demokratischen Diskurs aus meiner Sicht nicht erlaubt; das darf ich sagen. Sie dürfen anderer Auffassung sein.

(Margaretha Hölldobler-Heumüller (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN): Das sind wir!)

Lassen Sie mich meine Gedanken zu dem Thema privilegierte Partnerschaft vortragen.

(Margaretha Hölldobler-Heumüller (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN): Sagen Sie das Ihren Wahlkämpfern!)

Privilegierte Partnerschaft bedeutet aus Sicht der Landesregierung das Bemühen, die institutionelle Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei zu verbessern. Das Stichwort Assoziationsabkommen ist bereits genannt worden.

(Reinhard Kahl (SPD) und Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das gibt es doch schon! – Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit 1995!)

Privilegierte Partnerschaft bedeutet auch, dass in vielen Politikfeldern eine Reihe von Lockerungen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Zollunion, denkbar wäre. Assoziationsabkommen bedeutet auch, dass eine Verstärkung der Zusammenarbeit in der von allen Beteiligten gewünschten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik denkbar ist. Jeder weiß, dass die NATO vorhanden ist, dass es einer prinzipiellen Neukonstruktion des Verhältnisses der Europäischen Union sowohl zur NATO als auch im Rahmen der transatlantischen Beziehungen bedarf

(Reinhard Kahl (SPD): Die Türkei ist doch Mitglieder der NATO!)

und dass in diesem Zusammenhang eine Neukonstruktion des Verhältnisses der Europäischen Union zur Türkei nicht nur denkbar, sondern wünschenswert ist.

(Beifall des Abg.Armin Klein (Wiesbaden) (CDU) – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Alles Unfug, was Sie da reden! Alles schon da!)

Meine Damen und Herren, Beispiele zeigen, dass es gute und intensive Beziehungen zur Türkei geben kann, auch und zunächst – auf dieses „zunächst“ lege ich ausdrücklich Wert – ohne förmliche Überlegungen zur Aufnahme. Aus meiner Sicht ist es keine Frage, dass die Türkei ihren Platz in Europa haben muss. Es ist auch überhaupt keine Frage, dass die Türkei ein wichtiges Bindeglied, eine wichtige Brücke von Kontinentaleuropa zur islamischen Welt darstellt. Es ist überhaupt keine Frage – auch das ist heute Morgen von dieser Stelle aus gesagt worden –, dass durch all das, was man als Nähe zur Europäischen Union bezeichnen kann, eine Fülle von Reformen in der Türkei in Gang gesetzt worden ist. Die türkischen Regierungen haben wichtige Legislativreformen in Gang gesetzt. Die heikle Frage innerhalb der Türkei,wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, kulturelle Rechte und die zivile Kon

trolle über das Militär geschaffen werden konnten und können, ist ausgesprochen positiv angegangen worden.

(Ruth Wagner (Darmstadt) (FDP): Sehr richtig!)

Innertürkische Vorschriften zur Bekämpfung der Folter, zur Unzulässigkeit der Folter, Überlegungen zur Abschaffung der Todesstrafe sind wirksam in Gang gesetzt worden.All dies ist positiv.Das bedeutet,dass offenkundig die islamisch geprägte Kultur und Lebenswelt in der Türkei versucht, ihre Tradition in Übereinstimmung mit demokratischen Werten, den unseren vergleichbar, zu bringen.

Meine Damen und Herren, damit es bei niemandem irgendwelche Missverständnisse gibt, will ich als ersten Satz sagen, dass in dem kritischen Diskurs Islam, christliches Abendland,Judentum nicht die Spur eines Anscheins entstehen kann, dass ich mir vorstelle, dass es eine, wie auch immer geartete, hierarchische Ordnung gibt. Im Gegenteil, das ist völlig gleichrangig. Wenn es notwendig ist, sage ich den weiteren Satz, dass ich selbst, als jemand, der sich intensiv mit der Geschichte der Türkei beschäftigt hat, größten Respekt vor der staatsmännischen Leistung des osmanischen Reiches habe und auch bereit bin, darüber zu reden. Meine Damen und Herren, gleichwohl ist das sehr positive und von einer Seite dieses Hauses vehement öffentlich vorgetragene Argument, mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen, aus meiner Sicht ein erhebliches Problem.

(Zuruf des Abg. Gerhard Bökel (SPD))

Es ist deswegen ein erhebliches Problem, weil derjenige, mit dem Beitrittsverhandlungen begonnen werden, sozusagen unterstellen muss, dass die Bereitschaft, ihn aufzunehmen,offenkundig ist.Sonst beginnt man nicht mit Beitrittsverhandlungen. Da gibt es nicht unerhebliche Probleme.

Aus meiner Sicht ist es ein altes Versäumnis der europäischen Staats- und Regierungschefs,dass sie es verpasst haben, der Türkei eine vernünftige Alternative zu Aufnahmeantrag und Beitritt aufzuzeigen.

Meine Damen und Herren, wir müssen in aller Ruhe und Gelassenheit darüber reden, dass es ganz unterschiedlich geprägte Strukturen und Kulturen in dem christlich geprägten Abendland und in der moslemisch geprägten Türkei gibt.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach du liebe Zeit! – Zuruf des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Das darf man nicht wegdiskutieren. Herr Kollege Al-Wazir, man muss hinzufügen: In der Türkei fehlen grundsätzliche Entwicklungen wie in Europa, beispielsweise die Renaissance, die Aufklärung und die Trennung zwischen geistlicher und politischer Autorität. Wenn hier am Pult gesagt wird, in der Türkei würde der Laizismus herrschen, dann stelle ich fest, dass Sie sich mit diesem Thema nicht beschäftigt haben.

(Jürgen Frömmrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Das ist unverschämt!)

Jeder, der genauer hinsieht, stellt fest, dass es in der Türkei nach wie vor einen Religionsminister gibt. Dieser Religionsminister ist in religiösen, kirchlichen Fragen letztentscheidend.Sie können mir glauben,ich könnte jetzt extemporierend sagen: Ein Problem der Türkei ist, dass 1923, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, der Großmufti abgeschafft worden ist. Das war die religiöse Autorität, die letztendlich in religiösen Fragen entschieden hat.

Damals hat die Türkei entschieden, dass der Großmufti durch einen Minister ersetzt wird. Niemand aus unserer abendländisch geprägten Kultur kann behaupten, dies sei ein laizistischer Staat, wenn in der Regierung ein Minister ist, der in religiösen Fragen letztendlich entscheidet.

(Margaretha Hölldobler-Heumüller (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN): Was machen Sie mit den Balkanstaaten?)

Meine Damen und Herren, es darf auch nicht weggeredet werden,dass zwischen der Türkei und Europa ein ganz erhebliches sozioökonomisches Gefälle besteht.

(Zuruf des Abg. Jürgen Frömmrich (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich füge hinzu: Europa sollte alles tun, um innertürkische Prozesse der Aufklärung, der Renaissance und einer geistig-wissenschaftlichen Entwicklung zu begünstigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Diese Entwicklung muss die Türkei aber ohne Druck von außen, aus eigener Kraft, durchlaufen. Sie muss sich selbst so entwickeln, damit in 30 oder wer weiß wie vielen Jahren gesagt werden kann, dass dies ein Land ist, das die Europäische Union aufnehmen und verkraften kann.

Ein letzter Hinweis. In der Türkei sind derzeit eine außergewöhnliche demographischen Stärke und eine nicht unerhebliche ökonomische Schwäche kombiniert. Das macht ebenfalls eine besondere Brisanz des Beitrittsgesuchs der Türkei aus.

Zu guter Letzt ist für mich ein Argument gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, dass durch einen Beitritt der Türkei im Ergebnis eine nachhaltige Überdehnung der räumlichen Ausdehnung der Europäischen Union stattfinden würde. Das kann auch keiner, der verständig über dieses politische Feld redet, wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, ein weiterer Hinweis. Ich will nicht falsch verstanden werden. Aber eine Europäische Union mit den Außengrenzen zu Syrien, zum Irak und zum Iran hat für mich keine vernünftige Dimension als Europäische Union.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Meine Damen und Herren, ich denke, das können wir uns nicht zumuten.

Zu guter Letzt. Sie nehmen alle zur Kenntnis, was uns die Demoskopie sagt.

(Zuruf der Abg. Christel Hoffmann (SPD))

Ich bin auch, und zwar nachdrücklich, dafür, dem Volk aufs Maul zu schauen, aber nicht immer dann, wenn es gefällt,dem Volk nach dem Munde zu reden.66 % der Deutschen lehnen zu dieser Stunde einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union ab.

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Quatsch! – Frank-Peter Kaufmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu dieser Stunde will ihn auch keiner!)

Das sollte Ihnen zu denken geben. Geschätzte Kolleginnen und Kollegen der Sozialdemokratie und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie wissen es alle.