Protocol of the Session on October 5, 2006

Herr Kollege Irmer,wir werden Ihnen diesen billigen Versuch nicht durchgehen lassen, mit der Reaktivierung des Schulkampfes von Ihren miserablen Ergebnissen in Hessen abzulenken. Das werden wir nicht durchgehen lassen. Sie müssen sich vor den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes für die katastrophalen Ergebnisse aus sieben Jah

ren Karin Wolff verantworten und werden nicht in die Systemdebatte flüchten können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Der Herr Bundespräsident hat für seine erste Berliner Rede, mit der er die Tradition der Berliner Reden seines Amtsvorgängers aufgegriffen hat, das Thema Bildung gewählt. Wir finden das ausdrücklich richtig. Der Bundespräsident hat damit die gesellschaftliche Bedeutung dieses Themas für unsere Kinder, aber auch für die Zukunft unseres Landes insgesamt unterstrichen.

Bildung für alle ist das Postulat des Bundespräsidenten. Die Wirklichkeit in Hessen ist: schlechte Bildungsergebnisse, Auslese und die Streichung von Stellen – und nicht die Ausweitung, wie Sie es hier darstellen wollen, Herr Irmer.

Schauen wir einmal auf die Ergebnisse Ihrer Bildungspolitik. Die Ministerin sagt immer, sie möchte die einzelnen Schulen an ihren Ergebnissen messen. Output-Steuerung nennt das die Frau Ministerin.Frau Ministerin,was Sie für die Schulen wollen, das müssen Sie auch einmal gegen sich selbst gelten lassen. Da schauen wir uns einmal an, was das Ergebnis von sieben Jahren schwarzer Pädagogik ist:

Mehr als ein Fünftel aller Studierenden bricht das Studium vorzeitig ab. Ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler gilt als nicht ausbildungsfähig. Ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler bleibt sitzen oder wird verspätet eingeschult.

Das ist das Ergebnis von sieben Jahren Karin Wolff. Das kann uns wirklich nur besorgt stimmen, und es zeigt, wie nötig ein Wechsel in der Bildungspolitik unseres Landes ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde es sehr bemerkenswert, dass in dem Antrag der CDU die Rede von Horst Köhler mit keinem Wort erwähnt wird. Herr Kollege Irmer hat das in seiner Rede einmal nachgeholt. Aber das spricht schon Bände, wenn Sie auf die Rede des Staatsoberhaupts, auf seine bedeutendste Rede in diesem Jahr, in Ihrem Antrag überhaupt nicht eingehen. Das hat ja Gründe. Denn das, was der Bundespräsident sagt, ist in weiten Teilen eine schallende Ohrfeige für die real existierende Bildungspolitik hier in Hessen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte das sehr präzise machen. Der Bundespräsident fordert einen Kraftakt für Bildung. Schauen wir uns doch einmal an, wie dieser Kraftakt in Hessen aussieht. Da lohnt ein Blick in den Zuweisungserlass für dieses Schuljahr. Man stellt fest: In diesem Schuljahr werden den Schulen nicht mehr Lehrerstellen zugewiesen, sondern 726 Lehrerstellen weniger. Diese Kultusministerin streicht angesichts einer Rede des Bundespräsidenten, in der er die Bedeutung von Bildung betont, 726 Stellen. Ein Kraftakt sieht weiß Gott anders aus als die Streichung von Lehrerstellen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Minis- terin Karin Wolff)

Frau Ministerin, das scheint zu treffen. Deshalb mache ich gerade weiter.

(Ministerin Karin Wolff: Nein! Sie können nicht le- sen!)

Schauen wir uns den Haushaltsplan für 2007 an. Unser Bundesland hat Steuermehreinnahmen von 1 Milliarde c. Und was macht diese Landesregierung? – Sie investiert von dieser 1 Milliarde c 0,65 % in zusätzliche Lehrerstellen. Ein Kraftakt sieht wirklich anders aus.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Boddenberg (CDU))

Bildung hat für diese Landesregierung keine Priorität. 0,65 % oder 6,5 Millionen von 1 Milliarde c - das zeigt, dass für diese Landesregierung Bildung keine Priorität hat.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Boddenberg (CDU): Rechnen Sie es doch einmal auf das Bruttoinlandsprodukt! Oder rechnen Sie es mal in Kilowattstunden!)

Der Herr Bundespräsident sagt – ich zitiere wörtlich –:

In Deutschland erwerben vergleichsweise wenige junge Menschen die Hochschulreife, und zu wenige schließen ein Studium ab.

Das ist sehr richtig. Wie sieht die Wirklichkeit in Hessen aus? – Bei Amtsantritt von Karin Wolff – wir schauen uns die Abiturientenquote an – haben 27,76 % der Schulentlassenen ein Abitur gemacht. Im letzten Jahr, für das eine Statistik vorliegt, also 2004/2005, waren es 25,68 %.

(Norbert Schmitt (SPD): Hört, hört!)

Frau Wolff, unter Ihrer Verantwortung ist die Abiturientenquote in Hessen gesunken und nicht gestiegen, wie es der Bundespräsident gefordert hat.

Schauen wir uns den Bereich Studium an. Glauben Sie eigentlich, dass wir mit dem, worüber wir hier gleich in diesem Landtag diskutieren werden, der Einführung von allgemeinen Studiengebühren, dem, was der Bundespräsident will, dass nämlich mehr Menschen in unserem Land studieren, näher kommen? – Sie werden das Gegenteil erreichen.Wir werden weniger Menschen haben, die studieren. Das ist die falsche Entwicklung für unser Land.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

Schauen wir uns an, was unter dieser Kultusministerin steigt.Es steigt durchaus auch etwas.Die rhetorischen Bemühungen steigen, die Luftblasen steigen, und leider steigen auch die Schülerzahlen an Förderschulen. Seit Amtsantritt von Karin Wolff sind die Schülerzahlen an Förderschulen für Lernhilfe um 13 % gestiegen.An den Förderschulen für Erziehungshilfe sind sie um 98 % gestiegen. Das ist seit Ihrem Amtsantritt eine Verdoppelung. Das heißt, Sie haben die Auslese in unserem Bildungssystem perfektioniert und nicht die Förderung. Wenn wir uns dann auch noch die Zahl der Schülerinnen und Schüler anschauen, die von der Förderschule nicht wieder in das allgemeine Schulsystem zurückkehren, was eigentlich der Auftrag der Förderschulen ist, sehen wir auch da einen dramatischen Anstieg. Das zeigt: Auslese perfektioniert, individuelle Förderung vergessen.Das ist die Wirklichkeit hier in Hessen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Irmer, Sie haben das Hohelied des dreigliedrigen Schulsystems angesprochen. Ich empfehle auch zu diesem

Punkt, die Rede des Bundespräsidenten noch einmal nachzulesen. Ich zitiere wörtlich den Bundespräsidenten:

Wir alle wissen: In den Hauptschulen bündeln sich viele Schwierigkeiten. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass manche es sich zu leicht machen, indem sie Schüler einfach sitzen bleiben lassen oder von einer Schule zur andere weiterreichen.

Diesen Mechanismus haben Sie perfektioniert,und das ist der falsche Weg.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Der Bundespräsident hat den gemeinsamen Unterricht von Menschen mit und ohne Behinderung angesprochen. Ich glaube, alle, die diese Erfahrung machen konnten, wissen, und das, was man an Schilderungen über diese Erfahrungen bekommt, zeigt, wie bereichernd das für alle Schülerinnen und Schüler ist und wie sehr es der individuellen Förderung von allen Schülern – mit und ohne Behinderung, von leistungsstarken und leistungsschwachen – dient. Der Bundespräsident sagt – ich zitiere wieder wörtlich, Herr Irmer, damit Sie mir nicht vorwerfen können, ich würde etwas aus dem Zusammenhang reißen –:

Mehr Teamwork macht es auch leichter, Kinder mit Behinderungen gemeinsam mit ihren nicht behinderten Altersgenossen zu unterrichten.... Ich wünsche mir, möglichst viele Kinder könnten diese Erfahrung machen.

Die Wirklichkeit in Hessen laut Zuweisungserlass für das laufende Schuljahr: Die Stellen für den gemeinsamen Unterricht wurden gekürzt. Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen. Da geht auch die Entwicklung in die falsche Richtung. Sie kürzen bei der Bildung, und Sie bauen sie nicht aus, wie Sie es hier erscheinen lassen mögen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Nächster Punkt: Integration. Ich habe im letzten Landtagsplenum gelernt, dass sich der Fraktionsvorsitzende der CDU gern von Rednern aus dem Herzen sprechen lässt. Ich hoffe, das, was der Bundespräsident zum Thema Integration gesagt hat, spricht der CDU-Fraktion auch aus dem Herzen. Ich hoffe noch viel mehr, dass Sie auch begreifen, was man da machen muss. Integration an den Schulen bedeutet eben nicht nur Sprachförderung,wie Sie das eben gerade wieder dargestellt haben,

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

sondern Integration bedeutet ein ganzes Paket von Maßnahmen, die man ergreifen muss. Wie eng der Integrationsbegriff der CDU geworden ist,sieht man an dem,was Ihre Dietzenbacher Parteikollegen gerade beantragt haben. Ich zitiere aus der „Frankfurter Rundschau“ von heute, Seite 1. Man bemerke, dass es die Dietzenbacher CDU auf die Seite 1 geschafft hat – immerhin –, aber leider nicht mit positiven Beispielen. „Frankfurter Rundschau“ von heute:

Flagge und Köhlerbild sollen die Integration beschleunigen. Die regierende CDU im hessischen Dietzenbach fordert Deutschlandfahne, Präsidentenportrait und Deutsch als Pflichtsprache schon im Kindergarten.

Das treibt langsam wirklich seltsame Blüten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD – Michael Bodden- berg (CDU): Brauchen wir die Deutschlandfahne nur zum Fußballspielen, Herr Wagner?)

Ich möchte nur darauf hinweisen, dass in dem Bildungsund Erziehungsplan, den die Landesregierung vorgelegt hat, Mehrsprachigkeit ausdrücklich als Prinzip verankert ist und nicht Deutsch als Pflichtunterricht im Kindergarten.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Kollege Wagner, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit zu Ende ist?

Herr Präsident, ich möchte zum Abschluss darauf hinweisen, dass an diesem Beispiel Ihr komplett falsches Verständnis der Bildungspolitik deutlich wird. Sie wollen ein Bild von Horst Köhler in den Kindertagesstätten aufhängen. Sie sollten das tun, was der Bundespräsident Ihnen geraten hat.Statt Bilder aufzuhängen,sollten Sie handeln. Das ist Ihr Problem.

(Anhaltender Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Das Wort hat Frau Kultusministerin Wolff.

Sehr verehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will namens der Landesregierung ausdrücklich begrüßen, dass der Bundespräsident sein diesjähriges Schwerpunktthema mit der Bildung begonnen hat. Damit hat er seine Amtsautorität für das Zukunftsthema dieser Republik in die Wagschale geworfen. Ich glaube, damit hat er auch alle diejenigen ermutigt – und zwar weit über den Kreis derer hinaus, die unmittelbar Verantwortung für Bildung tragen –, die sagen, es muss Veränderungen geben, es muss eine Priorität in der Bildung geben, und es muss auch Umschichtungen für diese Priorität in öffentlichen Haushalten geben. Diese hat es übrigens auch in erheblichem Umfang gegeben. Er hat auch diejenigen ermutigt, die bereit sind, die Finger in die Wunden zu legen, und er hat insbesondere diese Gesellschaft insgesamt ermutigt, stärker über Bildung zu reden, sich stärker für Bildung zu engagieren, in stärkerem Maße Fakten in der Bildung zu schaffen und damit auch eine Verbesserung des Stellenwerts Deutschlands in der Welt zu schaffen,indem wir diese Priorität Bildung haben. Dafür hat der Bundespräsident den Dank aller verdient.

(Beifall bei der CDU – Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So weit, so gut! Was folgt daraus?)