Das Problem bei dieser Zielbestimmung ist, dass man daran gemessen werden kann. Dieses Sich-Messen-Lassen ist etwas, was die Frau Kultusministerin scheut. Das haben wir heute wieder an der Art und Weise gemerkt, wie Sie über die Vergleichstests reden.
Frau Kultusministerin, Sie weichen einer Erläuterung dieser Zielbestimmung aus. Sie flüchten regelmäßig ins Abstrakte. Sie reden über das Bildungsland Nummer eins. Das ist nun wirklich nicht nachvollziehbar. Sie fürchten sich vor konkreten Aussagen und bleiben stattdessen bei lyrischem Käse. Das werden wir Ihnen nicht länger durchgehen lassen.Wir werden jetzt die Ziele der Bildungspolitik bestimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel der sozialdemokratischen Bildungspolitik ist relativ einfach zu definieren.
Wir können darüber streiten, ob Sie andere Ziele haben. Ich nenne Ihnen das Ziel sozialdemokratischer Bildungspolitik.
Das Ziel sozialdemokratischer Bildungspolitik ist: möglichst viele Kinder mit möglichst hohen Qualifikationen, möglichst kein Kind ohne Qualifikation.
Für diejenigen, die es nicht verstanden haben, wiederhole ich es: möglichst viele Kinder mit möglichst hohen Qualifikationen, möglichst kein Kind ohne Qualifikation nach dem Schulabschluss.
Frau Kultusministerin, möglicherweise können wir uns in dieser Zielbestimmung sogar wiederfinden; denn Sie sagen, dass Sie dies nicht ablehnen.Wenn wir uns auf dieses Ziel verständigen, besteht der große Vorteil darin, dass wir uns von der transzendenten Welt Ihrer Lyrik auf das Nachmessbare zubewegen können. Das heißt, wir können Ihre Schulpolitik tatsächlich nach objektiven Kriterien bewerten.
In Hessen haben im Jahre 2004 nahezu 20 % der Jugendlichen die Schule – dazu gehören auch die beruflichen Schulen – ohne Abschluss verlassen.
Diese Zahl ist noch beschönigend. Sie haben PISA-E angesprochen. Nach den Ergebnissen der PISA-Studie E für Hessen aus dem Jahr 2003 verfügen 24,3 % der hessischen Jugendlichen über eine Lesekompetenz, die lediglich der Stufe 1 entspricht oder sogar darunter liegt. Das heißt, diese Jugendlichen sind, selbst wenn sie einen formalen Abschluss haben, in der Regel nicht ausbildungsfähig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, wovon ich rede. Wie Sie wissen, betreibe ich im Zivilberuf ein Anwaltsbüro.
Herr Kollege, das ist wirklich etwas Ehrenwertes. – Solch ein Anwaltsbüro erhält gelegentlich auch Blindbewerbungen um Ausbildungsplätze. Ich nenne weder den Zeitraum noch die Namen.Aber wenn Sie sich das durchlesen, stellen Sie fest, dass in vielen Bewerbungsschreiben von Leuten, die einen anständigen Hauptschulabschluss haben, jedes vierte Wort einen Rechtschreibfehler enthält.
Mein Kollege, der vor kurzem ein solches Bewerbungsschreiben erhalten hat – „Guckt einmal, was ihr in der Politik macht“, sagen die Leute dann, egal ob Sozis oder CDU –, hat es mir etwas hämisch grinsend auf den Tisch gelegt. Ich wollte die Situation noch retten und habe gesagt:Vielleicht hat sie eine gute Telefonstimme.– Aber mit so einem Bewerbungsschreiben und mit solchen Kenntnissen werden diese Jugendlichen in unserem Land keinen Ausbildungsplatz bekommen.
Wir können im Parlament noch so sehr über die Zahl der Bildungsländer oder über eine gerechte Welt schwadronieren. In der heutigen Welt ist mit diesen mangelhaften Qualifikationen ein anständiger Ausbildungsplatz nicht zu bekommen.
Frau Kultusministerin, dieses Grundproblem treibt uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in diesem Lande um. Nicht nur wir beschreiben es, auch die GRÜ
NEN tun das und ebenfalls die FDP. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Henzler, möchte ich aus einer Ihrer Pressemeldungen zitieren,
wenn ich sie hier finde. – Es ist eine Pressemeldung vom 11. Januar 2006, übrigens zu den gleichen Ergebnissen der Schulabbrecherquoten, die ich hier genannt habe. Nun Frau Henzler:
In Hessen verlassen immer noch nahezu 20 % der Jugendlichen die Schulen ohne Abschluss, werden dann bis zum 26. Lebensjahr von einem Förderprogramm ins nächste geschickt, meistens immer noch ohne abgeschlossene Berufsausbildung, und müssen von den sozialen Sicherungssystemen aufgefangen werden. Dies führt zu frustrierten und von der Gesellschaft enttäuschten Menschen.
So weit Frau Henzler. Frau Henzler, wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nennen diesen Zustand den Skandal in unserem Lande Hessen.
Damit hier kein falsches Bild entsteht: Natürlich handelt es sich hier nicht um ein spezifisches Problem in unserem Bundesland Hessen. Das ist ein deutsches Problem. Das wurde uns von PISA wieder attestiert. Die Zahlen: Bundesweit verlassen 220.000 Schüler die Schulen ohne ausreichende Ausbildungsreife, 80.000 Jugendliche in unserem Land Deutschland haben gar keinen Schulabschluss.
Frau Kultusministerin, auch hier muss man wieder sagen: Es gibt Unterschiede zwischen den Bundesländern. In der von mir bereits angesprochenen Studie steht unser Bundesland Hessen nicht bei den Guten,sondern ganz am Ende, auf Platz 12. Das heißt, in den anderen Ländern werden auch in diesem Bereich bessere Ergebnisse erzielt.
Wir hätten erwartet, dass Sie in Ihrer Regierungserklärung heute diese Punkte ansprechen und sich ein Stück weit auch bei den Kindern in unserem Land und bei den Eltern für das Versagen Ihrer Schulpolitik entschuldigen.
Die Folgen dieser Situation sind gravierend. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gemessen am erreichten Bildungsniveau werden die jetzigen jungen Generationen zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik schlechter qualifiziert sein als die mittleren Generationen. Das weist uns die PISA-Studie nach. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden die Generationen, die jetzt die Schule verlassen, schlechter qualifiziert sein als die mittleren. Um es einmal drastisch zu formulieren, kann man also sagen,dass gegenwärtig in Deutschland die Bevölkerung nicht nur schrumpft und älter wird, sondern auch dümmer.
Meine sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, vorhin haben Sie, Frau Kultusministerin, von „Ökonomisierung“ gesprochen. Wir werden im internationalen Wettbewerb schwächer. Andere Länder, in denen mehr Investitionen in die Bildung fließen, werden auch wirtschaftlich stärker.
Und die Folgekosten? Das Institut der deutschen Wirtschaft hat sie mit 1,5 Milliarden c beziffert. Darauf haben Sie, Frau Henzler, in Ihrer Presseerklärung nochmals hingewiesen. Ich glaube, die Folgekosten sind viel höher. Denn darin sind die wirtschaftlichen Folgekosten nicht enthalten.
Frau Henzler, was mich aber noch viel mehr interessiert: Diese 220.000 jungen Leute, diese fast 25 %, sind in der Perspektive von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in unserem Land ausgeschlossen. Diese fast 25 % werden in sozialen Sicherungssystemen sein und kurzfristige Beschäftigungen haben, wieder im sozialen Sicherungssystem sein und wieder kurzfristige Beschäftigungen haben usw. Sie werden sich nicht am gesellschaftlichen Leben beteiligen.Sie werden auch nicht zur Wahl gehen.Sie werden sich ausklinken. Das ist die Explosivität unserer Gesellschaft, die Sie mit Ihrer Politik momentan befördern.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Finanzmittel, die uns das kosten wird, sind der ökonomische Faktor; aber die Anzahl an Verlusten von Menschen in unserem Lande ist der eigentliche sozialpolitische Skandal.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Clemens Reif (CDU): Jetzt haben wir schon den zweiten Skandal!)
Lassen Sie mich zu den Antworten der Sozialdemokratie in dieser Situation kommen, bezogen auf die 1,5 Milliarden c. Sie lautet:Wir wollen dieses Geld sinnvoller investieren. Ich will es einmal ganz griffig und damit natürlich auch unpräzise formulieren: Unsere Forderung, unser Ziel lautet: Wir wollen Bildung statt Sozialhilfe. Wir wollen das Geld, das nachher für die Folgen dieser verfehlten Bildungspolitik ausgegeben wird, früher in die Köpfe, in die Zukunftschancen unserer Kinder investieren.
Dies ist ökonomisch richtig, und dies schafft Zukunftschancen für eine ganz große Menge junger Menschen in unserem Land.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Clemens Reif (CDU): Das wollen wir doch auch, dafür braucht man doch nicht SPD zu wählen!)
„Bildung statt Sozialhilfe“ ist ein schöner programmatischer Satz. Was heißt das? Was verstehen wir unter „Bildung statt Sozialhilfe“?
Wir beginnen beim frühkindlichen Bereich. Wir reden über Deutschkurse. Das ist gut und richtig – wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.