Protocol of the Session on January 23, 2019

23. Ausleihe von E-Books in Bibliotheken Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom 15. Januar 2019

24. Vorkurse im Schuljahr 2018/2019 an den Schulen im Land Bremen Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 16. Januar 2019

25. Zeitnah studentischen Wohnraum durch produktives Zusammenwirken der öffentlichen Stakeholder schaffen Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom 21. Januar 2019

26. Lebensmittelverschwendung einschränken, sich an europäischen Nachbarn orientieren Kleine Anfrage der Fraktion der SPD vom 21. Januar 2019

27. Umsatzsteuerbetrug auf Onlineplattformen Kleine Anfrage der Fraktion der FDP vom 22. Januar 2019

Nachträglich wurde interfraktionell vereinbart, den Tagesordnungspunkt 9 für die Januarsitzung auszusetzen und den Tagesordnungspunkt 76, Drucksache 19/1987, ohne Debatte aufzurufen.

Wird das Wort zu den interfraktionellen Absprachen gewünscht? – Ich sehe, das ist nicht der Fall.

Wer mit den interfraktionellen Absprachen einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen!

Ich bitte um die Gegenprobe!

Stimmenhaltungen?

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) ist mit den interfraktionellen Absprachen einverstanden.

(Einstimmig)

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Aktuelle Stunde

Meine Damen und Herren, für die Aktuelle Stunde ist von der Abgeordneten Frau Vogt und Fraktion DIE LINKE folgendes Thema beantragt worden:

Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht: Politik muss handeln statt abwarten!

Dazu als Vertreter des Senats Herr Bürgermeister Dr. Sieling.

Die Beratung ist eröffnet.

Als erster Redner hat das Wort der Abgeordnete Janßen.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Abgeordnete, sehr geehrte Gäste! 424 Euro stehen mir seit dem 1. Januar zu, wenn ich im Hartz-IV-System als Alleinstehender gemeldet bin. Darin enthalten sind unter anderem, das kann man ja nachsehen, etwa 4,50 Euro am Tag für Essen und Trinken. Weniger sind es, wenn ich in einer Bedarfsgemeinschaft lebe. Dann werden reduzierte Sätze angewandt. Wenn irgendetwas außer der Reihe passiert, der Kühlschrank entzwei geht, ich Allergien oder Unverträglichkeiten habe, wenn Weihnachten vor der Tür steht und ich Geschenke kaufen möchte, dann wird dieser Satz noch knapper, als er ohnehin schon ist.

Der Regelsatz gilt als der Satz, der ein menschenwürdiges Existenzminimum in unserer Gesellschaft gewährleisten soll. Der Regelsatz ist damit die Untergrenze. Wer darunter liegt, hat offensichtlich zu wenig Geld, um menschenwürdig in dieser Gesellschaft zu existieren und zu wenig Geld, um seinen Alltag zu bestreiten. Im Land Bremen liegt der Anteil der Leistungsberechtigten nach dem Sozialgesetzbuch II, die sogenannte SGB-II- Quote, bei 18,8 Prozent. Im Bundesschnitt liegt sie bei 9,1 Prozent.

Bremen ist also bundesweit Spitzenreiter bei dieser Quote. In keinem anderen Bundesland wird die Realität der Menschen so stark von den Gesetzen des Sozialgesetzbuches geprägt. Das Thema Hartz IV ist für das Bundesland ein zentrales Thema, denn es prägt die Lebensrealität von einem knappen Fünftel der Menschen unter 65.

Auch wenn der Begriff Existenzminimum so tut, als ob das die Grenze ist, unter die nichts gehen kann,

als ob das die Grenze ist, die wir einem jeden in unserer Gesellschaft zugestehen, gibt es in Deutschland eine Praxis, die sich Sanktion nennt, die es im Hartz-IV-System ermöglicht, Menschen zu bestrafen und unter dieses eigentlich abgesicherte Existenzminimum zu drücken. Diese Praxis liegt nun in einem Verfahren dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Diese Praxis verstößt aus unserer Sicht gegen das Grundgesetz und den Fürsorgegedanken des Staates, den Sozialstaatsgedanken. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir über diese Praxis diskutieren und zu einer Änderung kommen.

(Beifall DIE LINKE)

Anlass für die Aktuelle Stunde ist dabei nicht eine grundsätzliche Frage, wie sieht eigentlich das Hartz-IV-System aus oder was ist eigentlich mit den Sanktionen? Grundlage für die heutige Aktuelle Stunde ist ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, in dem es um den § 31a des Sozialgesetzbuches II geht. In diesem Paragraphen ist festgelegt, dass Menschen, die Maßnahmen, nein, die Beschäftigungen, die vom Jobcenter vorgeschlagen werden, nicht nachkommen oder nicht antreten, sanktioniert werden können, und die Leistungen um 30 Prozent, 60 Prozent oder sogar vollständig gekürzt werden können.

Das Sozialgericht in Gotha legt nun dem Bundesverfassungsgericht einen Beschluss vor, in dem in drei Punkten infrage gestellt wird, ob dies mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der erste Punkt bezieht sich auf die Frage: Kann das überhaupt mit dem Gedanken des Sozialstaats zusammenpassen, nämlich dem im Grundgesetz verankerten Sozialstaatsgedanken?

Stellen wir uns vor, jemandem werden 100 Prozent der Leistung gestrichen. Das ist durchaus möglich, 100 Prozent der Leistungen, die vorgesehen sind, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, um Essen zu kaufen, um Wasser zu kaufen, um Strom zu bezahlen. Wenn diese Leistungen alle gestrichen werden, kann dann noch davon ausgegangen werden, dass dieser Mensch eine menschenwürdige Existenz im Sinne des Sozialstaates in unserer Gesellschaft führt? Aus unserer Sicht – da geben wir dem Sozialgericht in Gotha Recht – ist das ein Zustand, den wir so nicht nachvollziehen können und der so auch nicht mit den Grundsätzen des Sozialstaates vereinbar ist.

(Beifall DIE LINKE)

Der zweite Punkt, der liest sich recht drastisch und ist es aus meiner Sicht auch, ist die Frage, ob Sanktionen im Hartz-IV-System eigentlich mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vereinbar sind. Diese Frage stellt sich, wenn Menschen aufgrund reduzierter Leistungen nicht mehr in der Lage sind, beispielsweise zuzahlungspflichtige Medikamente zu bezahlen, für ihren ganz normalen Lebensalltag aufzukommen und damit ihre Gesundheit, ihre körperliche Unversehrtheit gefährdet wird. Kann das in einem Land, das so reich ist wie Deutschland, eigentlich zulässig sein? Wie ist das mit den Menschenrechten, die wir doch auch hier immer wieder betonen, überhaupt zu vereinbaren?

Der dritte Punkt ist auch ein interessanter Punkt – dabei schaue ich einmal ein bisschen Richtung Liberale – ist die Frage der freien Berufswahl. Im Grundgesetz und auch in § 23 der Allgemein Menschenrechtserklärung ist das Recht auf die freie Berufswahl fest verankert. Das Recht auf die freie Berufswahl gilt aber offensichtlich in Deutschland nicht, wenn ich mich im Hartz-IV-System befinde, das Jobcenter mir eine Beschäftigung vermittelt und ich gezwungen bin, diese anzunehmen. Wenn ich diese nicht annehme, hat das Jobcenter nach § 31a Sozialgesetzbuch II die Möglichkeit, mich so weit zu sanktionieren, dass ich unter die gesellschaftlich verankerte Existenzgrenze falle. Wo, meine Damen und Herren, ist hier bitteschön das Recht auf die freie Berufswahl? Wo, meine Damen und Herren, ist hier das Grundrecht? Wo sind hier die Menschenrechte, die wir doch eigentlich immer so hochhalten?

(Beifall DIE LINKE)

Es gibt mehrere Punkte im Hartz-IV-System und mehrere Sanktionen, die heute nicht zur Diskussion stehen. Wir reden beispielsweise nicht über Terminverstöße, über Sanktionen bei Terminverstößen. Auch das wäre ein weiteres Thema. Wenn wir uns aber einmal vorstellen, was eigentlich in dieser Gesellschaft passiert, was in Bremerhaven und in Bremen häufig passiert, bedeutet das, dass eine Bedarfsgemeinschaft – –. Sagen wir, eine Frau mit einem Kind, alleinerziehend, ist vorher einem Job nachgegangen, dann, weil sie alleinerziehend ist, vorübergehend aus dem Job ausgeschieden, im Hartz-IV-System gelandet. Das Kind ist in der Kita und nun vermittelt das Jobcenter eine Beschäftigung als Lageristin, die überhaupt nichts mit ihrer Qualifikation zu tun hat. Sie nimmt die Beschäftigung nicht an. Das heißt, die Leistungen werden gekürzt. Das Kind bekommt aber eine reduzierte

Leistung. Das heißt, die Berechnung der Bedarfsgemeinschaft richtet sich nach der Ausgangslage, dass die Bedarfsgemeinschaft gemeinsam für die Güter der Bedarfsgemeinschaft aufkommt, daher gibt es eine reduzierte Grundlage für das Kind.

Wenn aber die Mutter in vollen Umfang sanktioniert werden würde, würde damit immer jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft reduziert werden, selbst wenn der übrige Satz ausschließlich dem Kind zur Verfügung gestellt werden würde, weil dieser Satz ja niedriger als das eigentlich Existenzminimum ist. Eine Sanktionierung in Bedarfsgemeinschaften ist immer eine Sanktionierung der gesamten Bedarfsgemeinschaft und somit eine Kollektivstrafe, für die das Kind keine Verantwortung trägt. Das, meine Damen und Herren, ist ein Skandal in einem Staat, der sich Sozialstaat nennt.

(Beifall DIE LINKE)

Der aktuelle Prozess findet nicht in einem luftleeren Raum und nur in Gerichtssälen statt. Schon seit Monaten äußern sich Wohlfahrtsverbände, schon seit Monaten äußern sich Kirchen, Gewerkschaften und Teile des Parteienspektrums zunehmend kritisch zur derzeitigen Sanktionspraxis und zur Hartz-IV-Gesetzgebung. So spricht die Diakonie in einem Papier vom letzten Jahr von „menschenrechtlich fragwürdig“. Der Paritätische Wohlfahrtsverband forderte vergangenes Jahr die vollständige Abschaffung der Sanktionen. Auch der DGBBundesvorstand hat zu diesem Prozess ein Papier veröffentlicht, in dem er sich zunehmend kritisch zu dem derzeitigen System äußert und offen verlangt, über Alternativen zum Hartz-IV-System nachzudenken.

Diese Äußerungen zeigen, dass wir in einer veränderten gesellschaftlichen Lage sind, dass wir eine wachsende Unzufriedenheit mit den sozialen Härten und den Ungerechtigkeiten des Hartz-IV-Systems haben, dass wir in einer veränderten Situation sind und dass wir Politischen nun aufgefordert sind, nicht nur darauf zu warten, dass rechtlich überkommene Normen überarbeitet werden, sondern auch politisch gegengesteuert wird. Ich glaube, es tut uns als Bundesland Bremen, als das Bundesland mit der höchsten SGB-II-Quote, gut, hier Farbe zu bekennen und eine überfällige Reform des Systems anzustoßen.

(Beifall DIE LINKE)

Der eine Punkt ist immer, sich als Bundesland auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass die Lebensrealität der Menschen in dem Bundesland verbessert wird, dass wir uns entschieden dafür einsetzen, dass hier der Senat auch auf Bundesebene als politische Vertretung des Landes einschreitet und deutlich macht, welche Bedürfnisse die Kommunen haben. Auf der anderen Seite gilt es aber auch, die Handlungsspielräume des Landes entschieden auszunutzen.

Die Kommunen sind Teile der Trägerversammlung, die in gemeinsamer Trägerschaft mit der BA, der Bundesagentur, die Jobcenter verwaltet. Ich erwarte von diesem Senat, ich erwarte eigentlich von jedem Senat, dass er im Rahmen der Trägerversammlung alle Spielräume nutzt, um eine Sanktionspraxis, die den Menschen die Existenzgrundlage entzieht und sie unter das Existenzminimum drückt, das einzuschränken, dass wir hier davon sprechen können, dass wir den Menschen zumindest das Minimum dessen gewähren, was derzeit eigentlich vorgesehen ist. Ich erwarte, dass hier die Kommunen und der Senat in seiner Trägerschaft ihre Spielräume ausreizen.

(Beifall DIE LINKE)

Aufgrund der veränderten Diskussionslage, glaube ich, ist es jetzt Zeit, dass auch SPD und Grüne, die in der Vergangenheit an der ein oder anderen Stelle zumindest zu erkennen gegeben haben, dass man darüber nachdenkt, wie dieses System jetzt verändert werden kann, hier in Bremen und auch über die Bremer Landesregierung im Bund deutlich machen: Dieses System kann so nicht weitergehen.

Unsere Position ist plausibel. Wir sind für die Abschaffung der Sanktionen. Wir sagen, wir brauchen eine Neuberechnung von Hartz IV, die tatsächlich an den Bedarfen orientiert ist und nicht an 15 Prozent der Haushalte, die das geringste Einkommen haben – welche Berechnungsgrundlage ist das? Daher glauben und hoffen wir, dass dieser Prozess ein weiterer Anstoß ist, die gesellschaftliche, die politische Debatte voranzutreiben, darüber zu diskutieren, wie das soziale Sicherungssystem in Deutschland aufgestellt sein kann, dass den Menschen wirklich ein existenzwürdiges Leben in dieser Gesellschaft gewährleistet wird.

Wer, wenn nicht Bremen, kann angemessen beurteilen, was es heißt, im Hartz-IV-System zu leben? Wer, wenn nicht Bremen, weiß, wie die tagtägliche Sanktionspraxis aussieht? – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächste Rednerin hat die Abgeordnete Görgü-Philipp das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! In unserem Land Bremen lebt jedes dritte Kind von Hartz IV. Das müssen wir uns deutlich vor Augen halten. Deshalb ist es gut und richtig, die heutige Debatte zu führen.

Die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat in den letzten Wochen bereits bundesweit zu einer Diskussion über Hartz IV geführt. Das unterstützen wir Grüne und sehen auch dringenden Handlungsbedarf. Auf den werde ich später noch eingehen. An dieser Stelle sei aber erwähnt, dass es bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht um die grundsätzliche Frage geht, ob Sanktionen rechtmäßig sind oder nicht. In der Entscheidung geht es eigentlich nur um die Sanktionen gegen diejenigen, die eine Beschäftigung nicht antreten oder abbrechen, eine kleinere Gruppe also.

Dennoch zeigt das öffentliche Interesse, auch die heutige Debatte, dass wir längst bei der Frage angekommen sind, ob nicht alle Sanktionen auf den Müllhaufen der Vergangenheit gehören.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)