Protocol of the Session on January 23, 2019

Wenn man sich die grünen Argumente oder die linken Argumente nicht zu eigen machen will, dann

hört man doch vielleicht oder liest intensiv ein Interview mit derjenigen Dame, die ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Jobcenter und auch ihren Kundenstamm besser kennt als wir. Man kann es doch gar nicht falsch verstehen, denn sie hat es auf eine sehr kurze Formel gebracht: Sanktionen schaden mehr als sie nützen.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ich meine, noch deutlicher kann man es nicht sagen als die Leiterin vom Jobcenter.

Auch hier hat Nelson Janßen noch einmal darauf hingewiesen, dass die Sozialstruktur des Jobcenters für alle Beteiligten wirklich ein riesiger Konstruktionsfehler ist, sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in eine Doppelrolle gezwängt werden, nämlich zu motivieren und zu bestrafen – ich weiß nicht, wer das gern macht, also solch eine Rolle zu übernehmen –, als auch für die Kundinnen und Kunden, die in der Tat, selbst wenn sie nicht unter Sanktionen leiden, tatsächlich aber immer unter dem Damoklesschwert hängen und sich sehr genau überlegen müssen, ob sie eine Maßnahme, die sie eigentlich für ihre eigenen Perspektiven nicht für zielführend halten, ablehnen, weil sie dann eventuell oder ganz sicher mit Sanktionen zu rechnen haben.

Das ganze Konstrukt an sich – ursprünglich als Idee, als aktivierende Arbeitsmarktpolitik – fanden wir als Grüne gut, das wissen auch alle. Es hat sich aber nun einmal so nicht bewährt, das muss man heute einfach konstatieren. Deswegen sind wir schon sehr, sehr deutlich dahin unterwegs, zu sagen: Im Grunde müssen wir es wieder trennen. Auch das konnte man heute im Interview mit Frau Ahlers lesen: Wir brauchen sehr viel mehr sozialpädagogische Kompetenz auch in der Betreuung vieler Kunden und Kundinnen.

Darauf möchte ich noch einmal genauer eingehen. Wer sich die Lebenslagen von Hartz-IV-Empfängern, die nicht arbeiten, die nicht aufstocken, anschaut, der wird sehen, dass wir es dort vor allem bei den Langzeitarbeitslosen mit Menschen zu tun haben, die chronische Erkrankungen haben, die wirklich langzeiterkrankt sind und lange psychische Erkrankungen haben. Die psychischen Erkrankungen nehmen massiv zu.

Wir haben es hier mit Menschen zu tun, da können wir noch so sehr auf unsere Norm bestehen, dass wir alle 40 Stunden die Woche mindestens arbeitsfähig sein müssen, diese Menschen werden unsere

Norm nicht erfüllen können. Wir brauchen eine Idee für genau diese Menschen, zu sagen, wir kleben nicht weiter das Stigma Hartz IV an dich, und wir versuchen dich auch nicht in einer Richtung zu erziehen, die uns genehm ist, sondern wir überlegen uns gemeinsam mit dieser Zielgruppe: Welche Beschäftigungsmöglichkeiten können wir finden, die dir einen Sinn und Struktur in deinem Leben geben, die aber nicht immer auf lange Sicht das Ziel formuliert, und das tut dieses System bisher, Integration in den ersten Arbeitsmarkt?

Davon müssen wir hinwegkommen, davon sind wir überzeugt. Deswegen sind wir natürlich sehr froh über das neue Teilhabechancengesetz, glauben aber, dass es noch Lücken hat und dass eine Maßnahme oder eine Struktur, die darin verankert ist, nämlich, du kannst zwei, drei, vier Jahre einer Beschäftigung nachgehen, und dann gibt es aber keine Anschlussmöglichkeiten, dass dort immer noch ein Defizit ist, das viele, viele Menschen dann wieder in die gewohnte Weise zurückfallen lässt.

Dann fängst du in diesem System wieder von vorn an und hangelst dich von einer Maßnahme zur anderen. Das kann nicht im Sinne der Kundinnen und Kunden des Jobcenters sein, davon sind wir überzeugt. Wir glauben, dass es andere Möglichkeiten der Beschäftigung geben muss, und wir meinen auch, dass die Sanktionen genau das Gegenteil in Menschen bewirken und, das ist von Frau Grönert erstaunlicherweise vorhin angesprochen worden, –

(Abgeordneter Dr. vom Bruch [CDU]: Was heißt denn hier erstaunlicherweise?)

dass es deswegen vielmehr positive Bestärkung von Tätigkeit geben muss. Wir gehen daher davon aus, dass der Selbstbehalt bei Tätigkeiten, auch bei geringfügigen Beschäftigungen, viel höher ausfallen muss, sodass Menschen sich auch bestätigt fühlen, wenn sie nur zwei Stunden, drei Stunden, fünf Stunden pro Woche arbeiten und dann aber den Lohn auch wirklich behalten dürfen und nicht auch noch zusammengekürzt wird, sodass man wieder am Ende bei einem geringen Existenzminimum verbleibt.

In dem Sinne, das hat meine Kollegin auch schon deutlich gemacht, sind wir inzwischen soweit zu sagen, Sanktionen nützen niemandem, sondern lasst uns lieber über Anreizsysteme und über neue Formen, angemessene Formen von Beschäftigungen im Arbeitsmarkt reden. – Vielen Dank!

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner hat das Wort Herr Bürgermeister Dr. Sieling.

Herr Präsident, verehrte Abgeordnete, meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland formuliert in Artikel 1 die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die Menschenwürde ist damit eine Grundlage auch für unseren Sozialstaat. Sanktionen finden da ihre Grenze, wo sie die Antastbarkeit der Menschenwürde beinhalten, wo sie die Menschenwürde verletzen. Das ist die Grenze, und das ist der Punkt, der nicht überschritten werden darf, und zwar nicht im Großen und Ganzen, sondern in jedem Einzelfall für jeden Menschen in unserem Land.

(Beifall SPD)

Nun sind hier in der Debatte eine Reihe von Wünschen formuliert worden, von Anforderungen auch an Verhalten von denen, die in den Institutionen unseres Sozialstaats arbeiten, und natürlich auch Verhaltensanforderungen an diejenigen, die Leistungen wahrnehmen. Ich will aber hier sehr deutlich sagen: Wenn wir das, was hier diskutiert und beklagt worden ist, verändern wollen, und ich will es verändern, dann müssen Gesetze wieder verändert werden.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Die Regeln müssen verändert werden, meine Damen und Herren, darum geht es. Verhaltensänderungen werden allein nicht helfen. Warum diskutieren wir das so regelmäßig? Vorhin hat jemand gesagt, das sei erst in der letzten Sitzung oder in der vorletzten Sitzung hier beraten worden. Ja, denn es ist deutlich geworden, dass ein Riss durch Deutschland geht. Auf der einen Seite haben wir eine starke Wirtschaftsentwicklung, eine gute Entwicklung an den Arbeitsmärkten mit einer Abnahme der Arbeitslosigkeit bundesweit und auch in Bremen mit guten Schritten. Wir sind in der Stadt Bremen unter 9 Prozent, wir sind deutlich unter 10 Prozent im Land. Fachkräfte werden gesucht, wir alle lesen es täglich auch heute wieder in der Zeitung.

Auf der anderen Seite bleibt die Verfestigung nicht nur der Langzeitarbeitslosigkeit, sondern auch die Tatsache, dass Familien, ganze Familien, Straßenzüge in Grenzen sind, von denen sie sich nicht wieder lösen können.

(Beifall SPD)

Dieser Riss muss überwunden werden, meine Damen und Herren, und er wird durch die gute Entwicklung jetzt sichtbarer und stellt deshalb die Anforderung, dass wir auch an die gesetzlichen Grundlagen herangehen. 80 000 Menschen sind im Leistungsbezug, und wenn man sich das anschaut, und das ist für mich eine Grundlage und das Herangehen: Wir müssen dazu kommen, auf die einzelnen Bereiche zu schauen. Ich nehme als erstes Beispiel die Tatsache, dass in Bremen nicht nur 80 000 Menschen im Bezug sind, sondern insgesamt 35 000 Kinder in diesem Bezug sind, meine Damen und Herren. Was haben die Kinder für eine Schuld daran, –

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

dass die Situation für ihre Familien so ist? Deshalb ist der erste wichtige Punkt, dass es zu einer vernünftigen Kindergrundsicherung in Deutschland kommt, die dazu führt, dass auch diese Kinder aus den Hartz-IV-Systemen kommen.

(Beifall SPD)

Wenn man das will, muss man als Erstes Leistungen bündeln. Ich bin ganz froh über diesen ersten Schritt, den die Bundesregierung jetzt mit dem Gesetzentwurf von Familienministerin Franziska Giffey in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsminister macht, nämlich das „Starke-Familien-Gesetz“, bei dem Bürokratie abgebaut wird, bei dem Leistungen zusammengefasst werden. Ich sage ganz deutlich, aus Sicht des Senats ist das erst ein erster Schritt.

Die Konferenz der Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales befasst sich mit der Frage der Kindergrundsicherung und den unterschiedlichen Vorschlägen. Senatorin Stahmann arbeitet dort mit den anderen Sozialministerinnen und Sozialministern daran, dass eine Grundlage dafür geschaffen wird, eine Kindergrundsicherung zu schaffen, die wirklich die eigenständige Möglichkeit beinhaltet. Eins will ich sehr deutlich sagen, weil es das wichtigste und gefährlichste Missverständnis an der Stelle ist: Diese Kindergrundsicherung muss die Leistungen zusammenfassen, die heute auch zum Beispiel als Kindergeld gezahlt werden.

Das ist keine Grundsicherung nur für Kinder von Menschen und aus Familien, die im Bezug sind, sondern für alle Kinder in Deutschland. Auch die Erwerbstätigen bekommen das. Aber wir kommen heraus aus der Situation, dass, wenn ich arbeite, ich

das Kindergeld bekomme, wenn ich ein gewisses Einkommen und sogar weitere Vorteile im Steuersystem habe, wenn ich aber Grundsicherung erhalte, wird mir das Kindergeld angerechnet. Das ist eine Ungleichbehandlung.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Aus der müssen wir heraus, aber nicht durch neue Ungleichbehandlung, sondern dadurch, dass alle Kinder wirklich auf eine vernünftige Grundlage gestellt werden. Die einzige im Grundgesetz abgesicherte Ungleichbehandlung, die ich an der Stelle akzeptabel und wirklich sinnvoll finde, ist die Tatsache, worauf unsere Steuergesetze aufbauen, nämlich auf die Leistungsfähigkeit.

(Beifall SPD)

Leistungsfähigkeit heißt, wer höher verdient, höhere Einkommen erzielt, Vermögen hat, darf und muss und soll stärker herangezogen werden als die Menschen mit niedrigerem Einkommen.

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE)

Das Grundprinzip darf auch im Rahmen einer Kindergrundsicherung greifen, aber dann stellen wir das System endlich vom Kopf auf die Füße, weil nicht mehr die mit den niedrigen Einkommen, nicht mehr die, die in Grundsicherung sind, bestraft werden, nicht deren Kinder bekommen das Kindergeld abgezogen, sondern die, die es sich – –. Ich selbst würde davon auch betroffen werden, natürlich werde ich heute steuerlich privilegiert behandelt, weil die Gesetze so sind. Ich kann das jedoch vertragen, und ich glaube, viele hier im Raum könnten das ebenfalls, wenn Kindern insgesamt geholfen werden würde, meine Damen und Herren!

(Beifall SPD)

Das ist die erste Säule, die diese schlimme Situation in unserem Land reduzieren würde. Das Zweite ist: Wer arbeitet, muss von seiner Arbeit leben können! Darum müssen die Löhne gerade im unteren Bereich erhöht werden. Darum ist es richtig, den Mindestlohn zu erhöhen in Richtung 12 Euro.

(Beifall SPD)

Darum machen wir auch den Vorschlag für Bremen, denn wir müssen immer schauen, wie können wir auch bei uns handeln und nicht nur sagen – da nehme ich jede Kritik der Opposition oder jeden Hinweis der Opposition gern auf. Aus der Koalition

kommt dieser Hinweis sowieso sehr regelmäßig: Handelt in Bremen und appelliert und arbeitet natürlich auch auf der Bundesebene dafür. Beim Mindestlohn ist genau das ein solches Beispiel. Darum bitte ich sehr, auch in diesem Hause, dass die Beratungen weiter so geführt werden.

Wir können Menschen aus der Grundsicherung, aus der Aufstockung herausholen, wenn wir in Bremen einen ersten Schritt wenigstens dort machen, wo wir Steuergeld einsetzen. Darum der Vorschlag, hier mit einem eigenen Landes-Mindestlohngesetz mehr zu machen.

(Beifall SPD)

Der dritte Bereich ist natürlich die Tatsache, dass die Gruppe der Langzeitarbeitslosen, das sind 16 000 Menschen in Bremen, herausgenommen oder reduziert wird, dass die endlich eine Chance haben und die gute Dynamik am Arbeitsmarkt für sie auch genutzt werden kann. Dafür muss man Brücken bauen. Dafür muss man Wege schaffen.

Wir haben das gemacht. Dieser Senat hat 2015 die eigene Arbeitsmarktpolitik wieder in Gang gebracht. Diese Koalition hat dies auf den Weg gebracht. Wir haben 500, 600 Menschen, die lange ohne Arbeit waren, wieder in Arbeit gebracht und schaffen für sie eine Perspektive. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Mit den bundesgesetzlichen Veränderungen, dem neuen Programm des Teilhabechancengesetzes haben wir erweiterte Möglichkeiten. Ich will, dass wir das verstärken, dass wir auch da die Abhängigkeit von Grundsicherung reduzieren und den Menschen eine Perspektive geben, dass sie mit ihren Händen und ihrem Kopf Geld verdienen können.

(Beifall SPD)

Der vierte Punkt, der hier angesprochen ist, und ich habe mich über die Breite gefreut, mit der das getragen wird, ist die Tatsache, dass es nicht weiter angehen kann, dass man so schnell aus dem normalen Arbeitslosengeldbezug herausfällt, –

(Zurufe SPD, Bündnis 90/Die Grünen: Ja!)

dass man so schnell aus dem ALG I herausfällt. Da sind die Fristen und die Rahmensetzungen zu extrem. Gleichzeitig muss man derzeit zu lange einzahlen, das ist die große Hürde für junge Leute, um einen wirklich dauerhaften Anspruch zu haben.

Das ist schon erweitert worden. Das muss stärker erweitert werden. Das Thema Vermögensanrechnung ist hier genannt worden. Das muss verändert werden, und die Brücken im Alter müssen gebaut werden. Meine Güte, wer viele, viele Jahrzehnte gearbeitet hat und dann aus welchen Gründen auch immer in die Arbeitslosigkeit gerät, der darf nicht in eine Situation kommen, dass er nach einem oder zwei Jahren in Hartz IV in den SGB-II-Bezug fällt, sondern da müssen Brücken gebaut werden im Rahmen des ALG I.