Protocol of the Session on October 14, 2015

Merken Sie sich genau, was Sie hier an dieser Stelle sagen! Hören Sie zu, was Sie sagen!

Aber auch Erzieherinnen und Erziehern, Lehrern und Lehrerinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern danke ich hier noch einmal ausdrücklich, denn sie stehen immer vor der Alternative, zu schnell oder zu spät zu agieren, und laufen somit ständig Gefahr, eine falsche Entscheidung zu treffen. Diesbezüglich richtige Entscheidungen erfordern eine hohe Qualifikation, und auch darauf müssen wir achten.

Seit Jahren schon sind für den Bereich Kinderschutz große Anstrengungen nötig. Es sind vielfältige Maßnahmen eingeleitet worden, unter anderem eine Personalverstärkung, was auch Frau Sandra Ahrens hier betont hat, auch in sozialen Diensten, auch im Ge

sundheitsamt. Als Beispiel zu nennen ist eine enge personelle Nähe zum Kind,m aber auch die Entscheidungsstrukturen wurden verbessert. Ein verbindlicher Handlungsleitfaden zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung gilt. Zum Beispiel dürfen drogenabhängige Eltern ihre Kinder nur unter engster Kontrolle zu Hause behalten. Ein kommunales Kinderund Jugendschutztelefon ist seitdem eingerichtet worden. Das sind ein paar Beispiele für das, was sich geändert hat. Die Zahl der Stellen für Amtsvormundschaften – das haben wir auch gestern ausführlich diskutiert – ist aufgestockt werden.

Allerdings steigt natürlich durch die enorme Zunahme von Kindern und Jugendlichen die Arbeitsbelastung sowohl der Casemanager als auch der Vormünder in den letzten Jahren wieder deutlich an. Dem müssen wir entgegensteuern, das steht hier ganz klar und ehrlich in der Mitteilung des Senats. Die gegenwärtige Situation mit Tausenden Zuflucht suchenden Menschen in Bremen bereitet sichtlich erhebliche Probleme, die auch in die Jugendhilfe und den Kinderschutz hineinreichen.

Den erheblich wachsenden fachlichen und personellen Anforderungen im Bereich der Hilfe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge begegnet der Senat mit fortlaufenden Beschlüssen zur Anpassung des Personals. Mit Blick auf die derzeitige Schätzung von bis zu 2 000 neuen Fällen in 2015 hat der Senat im September eine weitere Aufstockung des Personals beschlossen. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass wir der Entwicklung hinterher sind. Wir müssen mehr tun und schneller werden. Angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit wird es aber immer leider kaum ausreichen. Ein Blick auf den Bereich der Amtsvormünder macht dies deutlich, aber das steht auch ehrlich in der Senatsvorlage: 2014 sind 630 neue Fälle in Vormundschaft genommen worden. 2015 waren es bereits Ende August 720 Fälle. Natürlich erreicht der Kinderschutz in vielen Bereichen zunehmend seine Grenzen. Wir müssen in Bremen sehr kämpfen, um die gesetzlichen Vorgaben von 15 Minuten pro Vormundschaft zu erreichen.

(Glocke)

Ich sage an dieser Stelle den letzten Satz. Meine persönliche Überzeugung ist: Unsere Kinder haben es verdient, dass wir uns mit großer Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt ihrem Aufwachsen und ihrem Wohlbefinden widmen und uns darum kümmern. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall SPD)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Leonidakis.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe

Gäste! Wir reden heute über die Mitteilung des Senats auf die Anfrage der CDU. Beim Lesen der Fragen und der Antworten ist mir aufgefallen, dass beides sehr zahlenlastig ist. Ich möchte zunächst einmal daran erinnern, dass wir hier nicht über Zahlen, sondern über Menschen sprechen, über Individuen, Kinder und Familien in prekären Lebenssituationen.

(Beifall DIE LINKE)

Hilfebedarf bei der Erziehung ist keine Schande. Wenn er besteht, muss er aber auch den Wünschen und Bedarfen entsprechend sichergestellt werden. Das ist das Recht der Kinder, das ist das Recht der Familien, und das ist das Recht der Beschäftigen, fachlichen Standards entsprechend bedarfsgerecht und unter guten Bedingungen zu arbeiten. Diese Ansprüche sind teilweise sogar gesetzlich garantiert: durch das Wunsch- und Wahlrecht, durch das Fachkräftegebot oder auch durch Fallobergrenzen, wie wir sie in der Amtsvormundschaft haben.

Das Kinderschutzsystem will und soll Partner für Familien in Schwierigkeiten sein, soweit wie das irgend möglich ist. Partner kann man aber nicht sein, wenn Hilfesuchende nur noch verwaltet werden können. Genau das passiert aber an einigen Stellen, im Jugendamt, in der Amtsvormundschaft und teilweise auch bei freien Trägern. Diese Realität steckt hinter den zahlenlastigen Antworten des Senats: Dass Einzelnen eben oft nicht mehr die Hilfe und Aufmerksamkeit zuteil wird, die sie benötigen. Das ist explizit nicht Schuld der Beschäftigten bei den öffentlichen oder bei den freien Jugendhilfeträgern, sie arbeiten schon am Rand ihrer Möglichkeiten und teilweise darüber hinaus.

(Beifall DIE LINKE)

Schuld daran sind die mangelhaften Rahmenbedingungen und die mangelhafte Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe. Die Folgen haben vor allem Kinder und Jugendliche, ihre Familien und die Beschäftigten zu tragen. Das kann alleinerziehende Mütter betreffen, wohlhabende Familien oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Manchmal stabilisiert sich die Situation, manche können sich anders weiterhelfen. Viele können das aber nicht. Genau die fallen durch das Netz. Involvierte Personen, wie zum Beispiel die Amtsvormünder – aber nicht nur sie! – äußern immer wieder, nur darauf zu warten, dass etwas Ernstes passiert. Man möchte es nicht herbeireden, aber man kann das Problem auch nicht kleinreden. Wenn Vormundschaften nicht wahrgenommen werden können, ich meine, inhaltlich gefüllt werden können, hat das fatale Auswirkungen auf die betroffenen Jugendlichen und Kinder. Im Fall der UMF kann es sein, dass Asylanträge nicht gestellt werden können.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Sind das Menschen oder Abkürzungen?)

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge! Das hat dann möglicherweise sogar Auswirkungen auf den Aufenthalt zur Folge. Wenn Casemanagerinnen mit Hilfe, kleinen Gesprächen und Clearing nicht hinterherkommen, hat das ebenso fatale Auswirkungen für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und Familien, und wenn beide Stellen mit unqualifiziertem Personal bei freien Trägern zusammenarbeiten, macht es das nicht besser.

Jetzt sind wir bei den Zahlen angekommen! Bei vielen Trägern arbeiten in der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nur noch bis zu 50 Prozent Fachkräfte, teilweise noch weniger. Dieses Problem kann der Senat nicht einfach privatisieren, also den freien Trägern übertragen. Sie haben von qualifiziertem Personal gesprochen, Frau Tuchel, dann müssen Sie da auch heran!

Insgesamt werden Jugendhilfestandards extrem aufgeweicht, nicht nur das Fachkräftegebot. Statt wie üblich zwei oder drei Jugendliche auf eine pädagogische Fachkraft, kommen mittlerweile in manchen Einrichtungen über zwanzig Jugendliche auf eine Betreuungskraft. Dort gibt es nur ein Zehntel des erforderlichen Personals. Diese Absenkung der Jugendhilfestandards hat mit zunehmenden Bedarfen zu tun, auch, aber nicht nur durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

Schon in den fünf Jahren nach 2006 sind die stationären Hilfen um fast 100 Prozent gestiegen, innerhalb von fünf Jahren! Jetzt haben wir eine erneute Verdopplung der stationären Unterbringungen in kürzerem Zeitraum. Das ist unbestritten eine Herausforderung. So schnell kann man kein Personal oder Gebäude aus dem Boden stampfen, aber wir müssen festhalten, es gibt die Probleme nicht erst seit gestern. In der Amtsvormundschaft – wir haben gestern darüber gesprochen – kann man mittlerweile von einem chronischen Rechtsbruch seit Einführung der Fallobergrenze sprechen.

(Beifall DIE LINKE)

Die Zahl 70 Mündel, die Zahl 70 junge Menschen pro Amtsvormund, die in der Mitteilung des Senats angegeben ist, ist längst überholt. Wir haben es gestern gesagt, mittlerweile sind rund 50 Prozent der Stellen in der Amtsvormundschaft unbesetzt. Wir haben auch darüber gesprochen, dass es zwar Stellenausschreibungen gibt, aber die Stellen offenbar nicht mehr attraktiv genug sind.

Auch im Bereich Casemanagement sind die Zahlen etwas unglaubwürdig. Sie sind nicht wirklich vergleichbar, wenn man sich die Fallzahlen aus dem Jahr 2014 anschaut, denn für das Jahr 2015 sind die unbegleiteten Flüchtlinge nicht einbezogen. 2014 waren

es 3 313 Fälle. Wenn man die 2 000 minderjährigen Flüchtlinge aus diesem Jahr dazuzählt, kommt man ungefähr auf 6 300 Fälle. Das macht bei 176 Casemanagern 37 Kinder und Jugendliche pro Casemanager und eben nicht die 28, die angegeben werden.

(Glocke)

Sie haben recht, Frau Tuchel, es sind einige Missstände benannt, es ist aber nicht benannt, wie dagegen vorgegangen werden soll.

(Glocke)

Es ist nicht benannt, wie der Senat sich eine Lösung vorstellt. Wir haben gestern gesagt, die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden. Wir sagen, auch die Ausbildungskapazitäten müssen ausgeweitet werden. Ich kann darauf in der zweiten Runde noch einmal eingehen.

(Beifall DIE LINKE)

Dafür haben wir ja extra zwei Runden.

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Buhlert.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es geht um Kindeswohl, und das liegt uns allen hier am Herzen. Wir alle wissen, dass die Menschen, die wir dafür brauchen, die diese Arbeit tun können, nicht in der Menge vorhanden sind, wie sie benötigt werden, das zeigt die Antwort auf die Große Anfrage noch einmal eindrucksvoll. Wir haben es gestern diskutiert, das kann man in der Tat als chronische Rechtsverletzung bezeichnen, was die Amtsvormünder angeht. Wir wissen aber auch, dass das bei den Fallmanagern und den Familienhebammen nicht besser ist. Wir müssen eben aufpassen, dass es an der Stelle nicht zu einem Organisationsversagen des Staates kommt. Freie Gemeinnützige können das nicht auffangen. Solch Organisationsversagen, wie wir es leider in Bremen auch schon gehabt haben, darf es nicht wieder geben.

Es muss deswegen nicht die Frage gestellt werden, wie die Situation heute ist. Sie ist katastrophal, da muss nachgebessert werden, das wissen wir alle, deswegen haben wir gestern in der Stadtbürgerschaft darüber auch debattiert. Es geht auch darum zu überlegen, wie wir aus dieser Misere herauskommen. Wie schaffen wir es, die Fachkräftequoten einzuhalten? Da das in der Tat kein bremisches und kein Bremerhavener Problem allein ist, müssen wir noch anders herangehen. Es geht dann eben um die Frage der Konkurrenz, wir haben gestern über die Besoldung bei Amtsvormündern gesprochen.

Es geht aber auch um Ausbildung. Ausbildung dauert jedoch, und Ausbildung allein wird auch nicht reichen. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Qualifikationsbedingungen weiterfassen und Fortund Weiterbildung in dem Bereich organisieren, sodass Menschen, die heute dort tätig sein wollen, aber die Formalqualifikation dafür noch nicht haben, diese erwerben können, damit wir am Ende genügend Amtsvormünder, genügend Fallmanager, genügend Familienhebammen haben – es ist vielleicht etwas schwieriger, für Krankenpfleger und Krankenschwestern eine entsprechende Aus- und Weiterbildung hinzubekommen –, damit wir am Ende genügend Menschen haben, die diese Aufgaben leisten können.

Es ist doch in der Tat so, die Fallzahlen haben zugenommen, und das nicht erst, seitdem so viele Leute von außerhalb Deutschlands zu uns kommen, sondern wir hatten das Problem steigender Fallzahlen schon in unserer Gesellschaft, und wir mussten in unserer Gesellschaft schauen, dass sich mehr Menschen um anderer Leute Kinder kümmern, weil Eltern dazu nicht in der Lage waren.

Deshalb sind wir als FDP gern bereit, mit daran zu arbeiten und dafür zu sorgen, dass wir diese Stellen besetzt bekommen – der Senat hat richtigerweise Stellenausschreibungen auf den Weg gebracht – und mehr dafür getan wird, damit genügend qualifiziertes Personal langfristig zur Verfügung steht. Wir brauchen in diesen Bereichen mehr Personal, damit diese gesellschaftliche Aufgabe gelingt, denn das ist sie am Ende, wenn die Familien versagen.

Wir können uns alle wünschen, dass die Familien bessere Arbeit leisten, aber wie schwer das ist, weiß jeder, der selbst Kinder erzieht. Das gelingt nicht immer so, wie man es sich wünscht. Am Ende ist es dann bei einigen eben gescheitert, und wenn es gescheitert ist, ist es eine gesellschaftliche Aufgabe. Es ist gut so, dass sich die Gesellschaft darum kümmert, und wir unterstützen den Senat darin, diese Stellen zu besetzen, damit nicht wieder ein Organisationsversagen passiert und das Kindeswohl auch gewährleistet werden kann. Im Moment kann man da an einigen Stellen nur von Glück sprechen, dass es nicht schlimmer ist, weil die Menschen in dem Bereich einfach Übermenschliches leisten müssen. – Herzlichen Dank!

(Beifall FDP)

Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Dr. Güldner.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Während der Gegenstand der Großen Anfrage in der Tat gar nicht genug Aufmerksamkeit und Sorge erhalten kann, weil es darum geht, mögliche Missbrauchs- oder Vernachlässigungsfälle an Kindern zu verhindern, so frage ich mich dennoch, ob die Art

und Weise der ja auch permanent wiederholten Debatte eigentlich wirklich den Kindern nutzt.

Ich habe mir nur einige wenige Zitate aus der Rede von Frau Ahrens aufgeschrieben, die die Große Anfrage eingebracht hat. Das Kinder- und Jugendhilfesystem platze aus allen Nähten, alle funktionierten nicht, könnten nur noch Papier bewegen, reagierten nur noch im Notfallmodus. Wenn man das so pauschal darstellt – es sind ja jeden Tag Hunderte Mitarbeiter in unseren beiden Städten unterwegs und arbeiten in diesem Bereich –, wenn man das pauschal so beschreibt, finde ich die vorsichtige Frage angebracht, ob es wirklich den Kindern in unseren beiden Städten Bremen und Bremerhaven nutzt.

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

Ich finde, man sollte nicht so tun, als ob im Kinderschutz überhaupt nichts geht, weil es einfach auch nicht der Wahrheit entspricht. Da muss man sich nicht nur diese Antwort anschauen, sondern man kann sich auch einfach die Praxis anschauen. Man sollte aber auch nicht so tun, als ob alles in Ordnung sei. Ich finde, die politische Position, die wir hier einnehmen sollten, die Haltung, die wir dazu haben sollten, sollte sein, beides ganz klar abzulehnen. Pauschal das gesamte Kinder- und Jugendhilfesystem so darzustellen, als ob nichts funktioniere, ist meines Erachtens absurd,

(Beifall Bündnis 90/Die Grünen, SPD)

aber auch eine Haltung, sozusagen die rosarote Brille aufzusetzen und zu sagen, das wird schon, finde ich genauso verfehlt.

Sie benennen natürlich immer wieder einen Punkt, unter den finanziellen Verhältnissen – teilweise ist allerdings auch das Geld da, und es gehen uns die Fachkräfte aus, das ist ja noch ein anderer Fall – ist es in der Tat so, dass man sich eine wesentlich bessere Ausstattung der Systeme wünschen würde, und zwar sowohl bezogen auf die Casemanager als auch auf die Amtsvormünder und die Familienhebammen. Eine wesentlich bessere Ausstattung wäre in der Tat wünschenswert, das ist absolut richtig.

Nun ist es im Einzelnen so, dass der Senat mehrere Programme auf den Weg gebracht hat, diese Stellen aufzustocken, neu zu besetzen. Wir wissen aber auch, dass in der heutigen Zeit, in der vielfältige Anforderungen ja nicht nur im Kinderschutz, sondern eben auch in der Flüchtlingsbetreuung, in der Sozialarbeit, in Schulen, in Kindertagesstätten und so weiter gestellt werden, der Vorrat an ausgebildeten Fachkräften endlich ist. Ich wäre bei Ihnen, wenn wir gemeinsam die folgende Ansicht teilten: Wir müssen einmal den Blick heraus aus dem Kinder- und Jugendhilfesystem in den Bereich der Ausbildung richten, sei es nun in den Ausbildungsberufen oder auch an den Hochschulen. Wir müssen insgesamt in Deutschland alle mit

einander mehr tun, um Fachkräfte auszubilden, sowohl in Ausbildungsberufen als auch in Hochschulstudiengängen, damit sie uns in Zukunft zur Verfügung stehen, denn im Moment ist einfach das Problem – das kann man auch in der Antwort des Senats deutlich lesen –, dass für viele Stellen einfach kein Personal mehr zu bekommen ist.