Protocol of the Session on January 25, 2018

Umgang mit von Abschiebung bedrohten suizidgefährdeten Geflüchteten durch Ausländerbehörden und Gesundheitsämter im Bundesland Bremen Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 29. Juni 2017 (Drucksache 19/1138)

Dazu

Mitteilung des Senats vom 8. August 2017 (Drucksache 19/1178)

Dazu als Vertreter des Senats Herr Staatsrat Kück.

Gemäß Paragraf 29 unserer Geschäftsordnung hat der Senat die Möglichkeit, die Antwort auf die Große Anfrage der Bürgerschaft mündlich zu wiederholen.

Herr Staatsrat, ich gehe davon aus, dass Sie darauf verzichten wollen, sodass wir gleich in die Aussprache eintreten können.

Die Aussprache ist eröffnet.

Als erste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Leonidakis.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 28. März 2017 wollte die Ausländerbehörde Bremerhaven eine Familie nach Albanien abschieben. Um 6.00 Uhr standen die Sachbearbeiterin, ein niedergelassener Allgemeinarzt, eine Übersetzerin und Vollzugsbeamte vor der Haustür. Wenig später musste der Notarzt gerufen werden, weil die Mutter sich mit einem Messer vor den Augen ihrer Kinder tiefe Verletzungen im Bauch und in den Armen zugefügt hatte. Es folgten zwei längere stationäre Klinikaufenthalte. Schon sieben Monate, bevor die Ausländerbehörde diesen Versuch der Abschiebung plante, wurde dort eine ausführliche ärztliche Bescheinigung eingereicht, die besagte, dass bei Abschiebung ins Heimatland Suizidgefahr besteht.

Die Betroffene war zudem bei einer Vorsprache in der Ausländerbehörde zusammengebrochen und in das Krankenhaus eingeliefert worden. Was also ist falsch gelaufen? Ich habe Einsicht in die Akte genommen, und ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, alles ist falsch gelaufen an allen Stellen. Aus der Akte geht ein unbedingter Wille zur Abschiebung hervor, trotz erlebter Zusammenbrüche, trotz detailliert dokumentierter mehrfacher Suizidversuche, trotz fachärztlicher ausführlicher Diagnosen und Stellungnahmen wurde die Abschiebung weiter forciert. Man muss leider feststellen, die Ausländerbehörde hat wissentlich in Kauf genommen, dass eine Person Schaden nimmt.

Das sind nicht nur eine potenzielle Grundrechtsverletzung und eine Verletzung der Sorgfaltspflicht. Diese Hardliner-Praxis widerspricht aus meiner Sicht sogar der verschärften deutschen Gesetzeslage. Zwar wird nach dem Asylpaket II PTBS regelmäßig nicht mehr als Abschiebehindernis anerkannt, es sei denn, und jetzt folgt ein Zitat, „es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung, die sich durch Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, vor.“ Das ist der Originaltext aus der Gesetzesbegründung zum Asylpaket II. Ich frage mich, was braucht die Ausländerbehörde eigentlich noch als tatsächliche Anhaltspunkte für eine schwerwiegende potenziell lebensbedrohliche Erkrankung?

(Beifall DIE LINKE)

Wenn nicht einmal fachärztlich begründete Stellungnahmen, ausführliche Stellungnahmen für eine Suizidgefahr von der Behörde ernst genommen werden, wie können Betroffene dann noch

ihre Erkrankung beweisen? Offensichtlich wird in der Behörde davon ausgegangen, dass Suizidgefahr simuliert wird. Wie sonst kann man die folgende Notiz werten aus der Akte, in der die Mitarbeiterin, die bei dem Suizidversuch zugegen war, noch am gleichen Tag in der Akte eine Aussage eines der Kinder der Betroffenen vermerkt, die Familie wäre bereit, nach dem Krankenhausaufenthalt freiwillig auszureisen?

Das zeigt doch, dass selbst schwerste Selbstverletzungen vor den Augen der Behördenmitarbeiter sie nicht dazu bewogen haben, endlich von einer Gefahr für Leib und Leben und damit von einem Abschiebungshindernis auszugehen.

(Beifall DIE LINKE)

Kommen wir zum Gesundheitsamt! Das Gesundheitsamt Bremerhaven hat die von der Ausländerbehörde Bremerhaven vehement angestrebte Abschiebung trotz entsprechender vorliegender Atteste zumindest nicht verhindert. Die Ausländerbehörde hatte den Betroffenen zwar schon vorher gesagt, dass die vorliegenden Atteste kein ausreichendes Abschiebehindernis darstellen und damit die Duldung abgelehnt. Nachdem das dann auf dem runden Tisch thematisiert wurde - die Familie hatte also Glück, dass sie einen entsprechend engagierten und vernetzten Anwalt hatte -, forderte die Ausländerbehörde dann noch eine Stellungnahme des Gesundheitsamts an. Dort wiederum fand, ich zitiere aus einem Bericht der Behörde auf Bitte der Grünen, „aufgrund des erheblichen Umfangs von Anfragen der Ausländerbehörde zu Reisefähigkeiten im Gesundheitsamt in Abstimmung mit der senatorischen Behörde eine Begutachtung nach Aktenlage“ statt. Die Stellungnahme sagt, ich zitiere erneut, „es sei bei Durchführung aufenthaltsbeendigender Maßnahmen mit einiger Wahrscheinlichkeit mit suizidalen Handlungen zu rechnen.“

Das Fazit ist dann aber, die Person kann abgeschoben werden, wenn sie nur durchgehend ärztlich begleitet und ärztlich in Empfang genommen wird. Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass jemand für reisefähig erklärt wird, bei dem man von einer realen Suizidgefahr ausgehen muss im Zusammenhang mit der Abschiebung, und das auch noch rein nach Aktenlage. Es kann ja sein, dass man einen Knochenbruch nach Aktenlage feststellen und bewerten kann, psychische Erkrankungen und Diagnosen brauchen eine ausführliche Anamnese, spezifische Fachkenntnisse, insbesondere bei Traumata, und muttersprachliche Verständigung.

In der Antwort auf unsere Berichtsbitte in der Gesundheitsdeputation wurde zwar angegeben, nur bei somatischen Erkrankungen auf Aktenlage zu begutachten, und eine Begutachtung der psychiatrischen Erkrankungen allein nach Aktenlage erfolgt nicht. Wir haben da andere Erkenntnisse. Ich werde diese in der zweiten Runde darlegen, denn meine Redezeit ist zu Ende. Ich bin gespannt auf Ihre Ausführungen. - Danke schön!

(Beifall DIE LINKE)

Als nächster Redner hat das Wort der Abgeordnete Dr. Buhlert.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir haben es mit einem der problematischen Teile der Frage zu tun, wie wir mit dem umgehen, was wir wollen. Wir wollen, dass Leute, die bei uns kein Bleiberecht erhalten, abgeschoben werden, wenn sie nicht freiwillig ausreisen. Der problematische Teil ist, dass es einige Menschen dabei gibt, die das so belastet, dass sie Selbstmordgedanken hegen, und einige dann, wie im geschilderten Fall, auch bereit sind, Selbstmord zu begehen. Dann muss man sich fragen: Was ist richtig, wie ist hier abzuwägen, und wie ist hier zu entscheiden?

Das Aufenthaltsgesetz sagt im Paragrafen 16, von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat solle abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben oder Freiheit bestehe. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Dazu gehört natürlich auch eine Suizidgefährdung, die beispielsweise durch eine posttraumatische Belastungsstörung eintritt oder sonst wie begründet ist. Das muss man eben sehen. Dann ist es auch aus unserer Sicht aus menschlicher Sicht angezeigt, wenn auf eine Abschiebung verzichtet wird.

(Beifall FDP, DIE LINKE)

Ist die Reisefähigkeit in dieser Situation nicht gegeben, dann muss darauf verzichtet werden, denn das Leben ist ja wohl das höchste Gut, um das es uns geht, wenn wir Menschen betrachten. Es muss im Vordergrund stehen.

(Beifall FDP, DIE LINKE)

Zugleich muss gesehen werden, dass das Ganze nicht nur aufgrund von ärztlichen Vermutungen und Attesten gemacht werden soll, sondern natürlich qualifiziert begutachtet sein muss. In diesen Fällen kann man meiner Meinung nach nicht nach Aktenlage entscheiden, sondern muss qualifiziert begutachten, denn es gibt beide Fälle, und zwar die Fälle, in denen eine konkrete Suizidgefährdung vorliegt, und die Fälle, in denen das natürlich als - ich will es einmal so bezeichnen - Ausrede benutzt wird, in denen gesagt wird, es liegt eine Suizidgefährdung vor. Das kann man aber nur entscheiden, wenn man die Leute direkt anspricht, direkt anschaut und nicht nach Aktenlage entscheidet.

(Beifall FDP)

Deswegen sprechen wir uns dafür aus, hier genauer hinzuschauen und auch in Bremen und Bremerhaven genau diesen Weg zu gehen, die Einzelfälle zu sehen, den einzelnen Menschen. Das müssen wir hier für die Menschen, die diese Verfahren durchlaufen, tun. Es geht immer um den Einzelnen. - Danke!

(Beifall FDP)

Als nächste Rednerin hat das Wort die Abgeordnete Frau Dehne.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja mehrere Berichte zu diesem Thema bekommen. Frau Leonidakis hat das eben ausgeführt. Es liegt uns ein Bericht der Deputation für Gesundheit vom 6. Juni letzten Jahres vor. Dann haben wir die Antwort des Senats auf die Große Anfrage der LINKEN aus dem August, die heute auf der Tagesordnung steht, und letztlich hat die Deputation Ende September noch einmal einen Bericht vorgelegt.

Die Einschätzung der psychischen Belastung bei Abschiebungen auf die Gesundheit wird in dem ersten Bericht, den wir in der Deputation erörtert haben, sehr gut deutlich. Ich finde, in dem Bericht ist als Fazit festgehalten, dass die medizinische Begutachtung eine gesundheitliche Einschätzung des allgemeinen und individuellen Risikos im Fall einer Abschiebung darstellt. Das heißt, ist überhaupt jemand gesund genug, eine Ausreise zu bewältigen, oder ist er das nicht? Das ist letztendlich die Frage, die dahintersteht. Wie wir auch gerade aus dem Bericht von Ende September letzten Jahres erfahren haben, erfolgt die Begutachtung der psychischen Erkrankung nicht allein nach Aktenlage. Das heißt, es besteht jetzt hier ein Einvernehmen, dass die

Verfahren in Bremen und in Bremerhaven nach vergleichbaren Kriterien durchgeführt werden, und das ist auch etwas, das die Fraktion der SPD deutlich befürwortet.

(Beifall SPD)

Frau Leonidakis, Sie haben eben von Fehlern der Ausländerbehörde gesprochen. Ich als Gesundheitspolitikerin kann hier wenig zur Ausländerbehörde sagen, und mir liegt auch die Akte, aus der Sie zitiert haben, nicht vor. Inwieweit hier daraus öffentlich zitiert werden kann, das müssen auch andere beurteilen. Sie haben eben gesagt - so habe ich Sie zumindest verstanden, und das hat mich sehr erstaunt -, dass das Gesundheitsamt die Abschiebung in dem Fall, den Sie geschildert haben, nicht verhindert hat. Das Gesundheitsamt kann Abschiebungen nicht verhindern. So ist die Lage! Es wird bewertet, es wird eingeschätzt, es werden Gutachten erstellt, die sich tatsächlich auf die gesundheitliche Situation beziehen, und die Abschiebung wiederum, die Entscheidung darüber, ob abgeschoben wird, verbleibt bei der Ausländerbehörde. Das mag man kritisieren oder nicht, das ist aber die derzeitige Situation.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Nun, das ist die Zuständig- keit!)

Das ist die Zuständigkeit, genau, und so ist die Gesetzeslage!

Ich habe eben ausgeführt, dass wir mittlerweile nicht nur eine Beurteilung nach Aktenlage vorzunehmen. Ich denke auch, dass es gut ist, eine persönliche Beurteilung durchzuführen, wenn es um die psychische Einschätzung eines Menschen geht und eine Suizidgefährdung im Raum steht. Anhand der Aktenlage kann immer eine Vorabklärung stattfinden, zum Beispiel durch ärztliche Berichte oder Ähnliches, aber es ist auf jeden Fall richtig, dass eine persönliche Begutachtung durch Ärztinnen und Ärzte durchgeführt wird.

Herr Dr. Buhlert hat eben davon gesprochen, dass eine qualifizierte Begutachtung nötig ist. Das sehe ich genauso. Ich glaube, wir sind uns auch alle darin einig, dass die Begutachtung jemand machen muss, der etwas von seinem Fach versteht. Alles andere wäre auf jeden Fall fahrlässig. Ich kann nur dafür plädieren, wirklich genau darauf zu schauen. Wenn es Einzelfälle gibt, in denen es möglicherweise berechtigte Kritik am Verfahren gibt, dann muss man sich diese Einzelfälle genau anschauen.

Man muss daraufhin - wie wir das ja hier auch getan haben - die Verfahren noch einmal prüfen.

Ich sage deshalb: Natürlich ist das ein ganz schwieriges Thema, es ist aber, wie es ist und wie es beschrieben wurde. Wenn es um die Entscheidung geht, jemanden abzuschieben, dann ist es eben nicht eine Entscheidung, die die Gesundheitsämter treffen. - Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Beifall SPD, Bündnis 90/Die Grünen)

Von den Grünen und von der CDU-Fraktion habe ich jetzt noch keine Wortmeldung.

(Abg. Dr. Buhlert [FDP]: Müssen sich ja auch nicht melden!)

Müssen Sie auch nicht, dann erhält als nächster Redner das Wort der Abgeordnete Fecker.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach einem solchen Fall kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Insofern ist es richtig zu prüfen, ob das Verfahren und die Entscheidung, die es in diesem Fall gegeben hat, richtig waren. Gab es Verstöße gegen Gesetze oder Erlasse? Aus der Antwort des Senats und dem Bericht in der Gesundheitsdeputation ist dies nicht zu erkennen. Wenn ich die Unterlagen richtig gelesen habe - und das ist hier schon angesprochen worden -, soll die persönliche psychische Begutachtung bei Zweifeln oder bei besonderem Maß der Einschränkung erfolgen.

Aus der Antwort des Senats ergibt sich, dass bei der betroffenen Person eine Vorsorge dahingehend getroffen worden ist, dass vorgesehen gewesen war, dass sich um die betreffende Person im Heimatland ein Arzt kümmern sollte. Trotzdem, meine Damen und Herren, ist etwas passiert, das nicht hätte passieren dürfen. Deswegen ist es aus unserer Sicht notwendig, das Verfahren und die Zusammenarbeit hier noch einmal sehr genau zu prüfen.

Dann die Frage des Umgangs mit der Entscheidung nach der Aktenlage! Wenn Sie sich die Antwort des Senats anschauen, dann stellt sich schon die Frage nach der Sensibilität, ob eine Entscheidung nach Aktenlage getroffen werden kann. Das Beispiel des Bruchs ist jetzt eben schon angesprochen worden. Bei allen psychischen Erkrankungen, glaube ich, wird man nicht, sofern vielleicht schon Diagnosen

von vorhergehenden Ärzten vorgelegen haben, wahrscheinlich gar nicht um eine entsprechende Begutachtung herumkommen können. Insofern muss auch dort noch einmal sehr konkret geprüft werden, inwiefern die Aktenlage eine ausreichende Entscheidungsgrundlage ist. Wir haben an dieser Stelle - das sage ich ganz offen - unsere Zweifel.

Die zweite Frage ist: Wer führt eigentlich die Begutachtung durch? Es tatsächlich ja so, dass ein Allgemeinmediziner nicht gleich ein Allgemeinmediziner ist, sondern natürlich weitere zusätzliche Qualifikationen notwendig sind. Aus unserer Sicht ist es gerade in diesem Bereich der psychischen Belastungen erforderlich, dass der Senat noch einmal genau prüft - auch das würde ich mir wünschen -, ob die Sensibilität und die Ausbildung bei allen, die diese Begutachtungen durchführen, vorliegt. Machen wir uns nichts vor, natürlich ist eine Abschiebung eine psychische Belastung für eine Person, und natürlich muss mit Empathie seitens der Behörden vorgegangen werden, obgleich natürlich das Ziel gesetzlich vorgegeben ist.