Protocol of the Session on October 30, 2016

bäude einfach bauen ließ – mit dem heute doch, glaube ich, die meisten Bürgerinnen und Bürger hier sehr zufrieden sein dürften –, erscheint wiederum auch in Zeiten des Wutbürgertums nicht selbstverständlich, und es ist vielleicht auch Ausdruck einer weiteren glücklichen Verfugung von alter Republik und neuer Demokratie, nämlich der neuen Einsicht, dass demokratische Führung auch darin bestehen kann, es mobilisierten Mengen eben nicht recht zu machen, und die sich mit dem institutionellen Selbstbewusstsein einer alten Obrigkeit verfugt, die erst einmal selbst am besten weiß, was zu tun ist.

Dass es in Bremen nach dem Krieg gelingen konnte, eine solche Form demokratischer Autorität aus einem alten, bürgerschaftlichen Geist zu einem neuen, demokratischen zu etablieren und damit den Übergang von der Republik zur Demokratie zu schaffen, hat natürlich viele Gründe, auch viele wirtschaftliche, aber auch ein paar institutionelle Gründe.

Zu diesen gehören natürlich zum einen – das muss man hier bei aller Überparteilichkeit sagen – die Rolle der Sozialdemokratie als einer zugleich einschließenden, fürsorglichen und geistig offenen Staatspartei, die sie war, die dann immer in der Lage war, Personen mit immens hoher Autorität und Intellektualität in die Ämter zu bringen. Das scheint mir auch ein Phänomen an Bremen zu sein, wie viele Leute, die einmal in Bremen gewesen sind oder aus Bremen kommen – aus der Landespolitik, aber auch aus der Bundespolitik –, Bremen hervorgebracht hat, die einfach bemerkenswerte Persönlichkeiten waren.

Man könnte aber natürlich auch spitz sagen – und das sage ich ganz ohne Häme und eher mit ehrlichem Bedauern –, solange die SPD eine Arbeiterpartei war, war sie auch eine Partei der selbstbewussten Politiker und der Intellektuellen, und mit dem einen ist das andere eben auch in die Krise geraten.

(Beifall – Zurufe ALFA, AfD)

Ja, das sollte jetzt nicht der falsche – –. Ich bin SPDMitglied, ich darf das sagen!

(Heiterkeit)

Ich glaube aber, diese Dialektik ist ganz wichtig zu erkennen, dass das zwei Seiten der gleichen Medaille waren, die es in gewisser Weise heute nicht mehr geben kann, aus welchen Gründen auch immer.

Damit eng verbunden ist natürlich die Zentralität des Bürgermeisteramtes, das ja durchgehend seit der Frühneuzeit – und das ist ja auch etwas ganz Besonderes – Gemeindevorsteher und souveränes Staatsoberhaupt miteinander verbindet und damit bis heute schon eine immense Machtfülle im Vergleich zu allen anderen nicht stadtstaatlichen Selbstvertretungskörperschaften bedeutet.

Aber nun sind wir im Jahr 2016. Ist damit die Geschichte nicht irgendwie auch zu Ende und die Relevanz der alten Republik nicht – bis auf ein paar verfassungshistorische Reminiszenzen, die ich Ihnen heute hier vortragen durfte – vorbei? Ich glaube, eigentlich nicht, denn vor allem – und das ist ja nun die entscheidende Kontinuitätslinie, die uns alle beschäftigt – ist Bremen immer noch reichsunmittelbar, ein Status, für den Bremen im alten Reich sehr lange gekämpft hat und dessen bundesrepublikanische Entsprechung im Grundgesetz eben die Stadtstaatlichkeit ist.

Es liegt nun wirklich seit sehr langer Zeit im Kern der bremischen Identität, nur den Nationalstaat über sich haben zu wollen und nichts anderes.

(Heiterkeit)

Das ist irgendwie tatsächlich das Lebensgefühl, das Sie sehr lange zurückverfolgen können. Zugleich ist das aber eben auch der Punkt, an dem heute diese alte republikanische Identität der Reichsunmittelbarkeit, der Bundesunmittelbarkeit, und die demokratische Realität am härtesten aufeinanderprallen, denn mit der Entscheidung für den Stadtstaat hat sich Bremen eine sehr anspruchsvolle politische Form gewählt, für die nicht ohne Weiteres eine ebenso angemessene politische Handlungsfähigkeit zur Verfügung steht. Ich glaube, das ist erst einmal ein Faktum.

Der symbolische Preis dieser Identität ist natürlich der Vergleich mit anderen Ländern, also alle die Statistiken, in denen Bremen neben Bayern und NordrheinWestfalen auftaucht, aber eben nicht neben Stuttgart und Essen. Diese Vergleiche, so hört man oft aus Bremen, seien natürlich irgendwie ungerecht, weil die Stadtstaaten Strukturprobleme einer Großstadt ohne Landbevölkerung hätten. Wirklich ungerecht wäre das aber doch nur, wenn diese Vergleichsgröße unfreiwillig wäre. So gilt: Wer sich zum Staat macht, wird wie einer gemessen.

(Beifall AfD, ALFA, FDP)

Wer sich zum Staat macht, wird wie einer gemessen, und viele der gemessenen Werte betreffen eben die soziale politische Inklusion der Gesamtbevölkerung.

Auch wenn wir nie wissen werden, wie Bremen als reine Gemeinde aussähe, ist es doch zumindest naheliegend, dass wir hier eine ganz gegenwärtige Spannung zwischen republikanischem Selbstbewusstsein als Stadtstaat und demokratischer Realität ausmachen können. Ich will sie gar nicht auflösen, ich will Ihnen nichts irgendwie empfehlen, das mit der Stadtstaatlichkeit zu lassen, ich will Ihnen nur sagen, dass Sie darüber nachdenken müssen, dass es hier ein Problem gibt und man sich seine Stadtstaatlichkeit in gewisser Weise auch jeden Tag neu verdienen muss, oder vielleicht noch genauer: eine Spannung zwischen einem liberalen Bürgertum, das auf dieses Maß an

Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 19. Wahlperiode – 30. (außerordentliche) Sitzung am 30.10.16 2204

demokratischer Selbstbestimmung und republikanischer Symbolik besonderen Wert legt, und einer breiteren Bevölkerung, die auf die nackte Funktionalität des Staates existenziell angewiesen ist und die vielleicht auch die Stadtstaatlichkeit selbst infrage stellen könnte.

Es stellten sich zumindest die Fragen: Gibt es da einen Preis? Zahlen Sie diesen Preis? Haben wir hier den Widerspruch zwischen Republik und Demokratie in neuem Gewand, und wenn ja, ist er es wert? Ich glaube, dass es das wert sein kann, ich glaube aber auch, dass man sich das schon noch einmal sehr schonungslos überlegen muss.

Dazu nur zwei beispielhafte Geschichten, die Sie alle besser kennen als ich, weil Sie aus der Bremer Politik kommen! Ein Freund und Kollege von mir von der Humboldt-Universität in Berlin erlebte seine erste Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in den Neunzigerjahren, es ging um den Länderfinanzausgleich. Unter anderem hatte Bremen geklagt, und er half dabei, den Bund zu vertreten. Vor der Verhandlung kam beim Bund die Frage nach der Tonlage auf: Sind wir sachlich oder pathetisch? Der Bund war sich intern schnell einig, natürlich sachlich zu sein. Die Verhandlung begann, und Bürgermeister Scherf bekam das Wort. Er hob an und sagte – und ich zitiere aus dem Gedächtnis meines Kollegen – einen Satz, den aber, wie ich erfahren habe, die von Bürgermeister Scherf Regierten schon öfter gehört haben: „Dreimal in seiner tausendjährigen Geschichte war die Freiheit Bremens bedroht: durch Napoleon, 1933 und heute hier vor dem Bundesverfassungsgericht.“

(Heiterkeit und Beifall)

Das Gericht war sichtbar beeindruckt, und als Anwalt Bremens – ich vertrete ab und zu einmal Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, deshalb muss ich sagen, das haben Sie fantastisch hinbekommen –, war dies sicher für einen Prozessbevollmächtigten oder einen Prozessvertreter die richtige Strategie.

Interessant an der Geschichte ist aber eben auch, dass hier das symbolische Kapital einer alten republikanischen Identität zu echtem Kapital an Haushaltsmitteln verflüssigt werden soll, und damit zu demokratischer Handlungsfähigkeit.

Das kann man machen, und wenn ich die Bremer vertreten hätte, hätte ich das hoffentlich wahrscheinlich auch so gemacht, aber man sollte sich auch klar machen, was das bedeutet, und vielleicht auch, dass es – mit Verlaub, Herr Alt-Bürgermeister! – auf einem vielleicht auch etwas eigentümlichen Fehlschluss beruht, so zu argumentieren; nicht nur, weil es das Geld ist, das andere vielleicht nicht so selbstbewusst vom Bund einfordern können, obwohl sie es vielleicht auch verdient haben, und ich als gebürtiger Bochumer weiß, wovon ich rede, sondern auch, weil natürlich die Lage Bremens vor dem Gericht nicht nur die Be

drohung der Staatlichkeit Bremens selbst betraf, sondern im Grunde genommen erst durch diese Staatlichkeit hervorgerufen wurde. Ich finde, die Frage ist ja ein bisschen, ob nicht auch Ursache und Wirkung verwechselt wurden.

(Heiterkeit)

Eine zweite Geschichte zum Verhältnis zwischen Stadtrepublik und Demokratie, die Sie auch alle kennen: Im Jahr 2006 bescherte, wie Sie alle wissen, ein erfolgreiches Volksbegehren Bremen ein neues Wahlrecht, in dem auch Kumulieren und Panaschieren erlaubt sind. Diese Entscheidung steht natürlich im Zusammenhang mit der vom Präsidenten erwähnten immer niedriger werdenden Wahlbeteiligung, aber sie steht auch im Zusammenhang mit den immer niedriger werdenden Zugangsschwellen, die die Bremische Bürgerschaft mit Blick auf die direkte Demokratie seit Langem beschlossen hat, als deren Konsequenz die Bürgerinnen und Bürger heute nun auch die Personenauswahl bei den Wahlen beeinflussen können. Das sieht auf den ersten Blick nach einer willkommenen Demokratisierung der Demokratie aus, aber auf den zweiten Blick – und das wissen Sie, wie ich weiß – sehen wir hier gleich einen doppelten Verlust.

Das neue Wahlrecht führte – das ist nunmehr bekannt – zu einem spürbaren Anstieg ungültiger Stimmen, gerade in Stadtteilen, in denen ohnehin eine niedrige Wahlbeteiligung vorhanden ist. Das hat damit im Grunde genommen zu so etwas geführt wie einer demokratischen Exklusion. Ich habe mit Freude gehört, dass es nun Reformbestrebungen gibt, dies noch einmal etwas rückgängig zu machen, und das scheint mir, ehrlich gesagt, auch relativ geboten.

(Beifall SPD)

Grundsätzlich wirken Volksabstimmungen aber – und das ist etwas, das uns erst in den letzten Jahren durch Forschungen etwas klarer geworden ist – immer zugunsten engagierter Mittelschichten, sie sind niemals so inklusiv wie die Wahl eines Parlaments.

Die direkte Demokratie ist ein Instrument, das im Ergebnis diejenigen Bürgerinnen und Bürger benutzen – und das sollen sie ruhig machen, das ist auch legitim –, die ohnehin zur Wahl gehen und dank ihres auch sozialen Kapitals politisch und gesellschaftlich ohnehin überrepräsentiert sind, weil sie sich artikulieren und engagieren und Projekte machen können. Das heißt, sie sind – jedenfalls im Kontext einer deutschen Großstadt – auch das trojanische Pferd einer Republik des privilegierten Bürgertums. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, das Ideal – das haben wir ja nicht, aber als Ideal gibt es das schon, nur in der Realität wird es nicht passieren – eines Nebeneinanders von direkter Volksgesetzgebung und Senatsregierung wäre eigentlich nicht viel anders als

Bremische Bürgerschaft (Landtag) – 19. Wahlperiode – 30. (außerordentliche) Sitzung am 30.10.16 2205

die zeitgemäße Version der vordemokratischen Ratsverfassung von vor 1918.

Meine Damen und Herren, mir hat an Wassili Luckhardts Gebäude, an diesem wunderschönen Bau, die Innenseite immer noch besser gefallen als die Außenseite. Die Front ist sehr schön. Die Giebel sind augenscheinlich ein bisschen kompromisshaft, eine Häkelarbeit, wie es ein zeitgenössischer Kritiker nannte, aber gegen einen Kompromiss ist natürlich gar nichts zu sagen bei einem so umstrittenen Gebäude wie diesem, es ist eben ein Kompromiss, der versucht, auf den Kontext des alten Marktes Rücksicht zu nehmen. Die Innenseite aber ist großartig. Sie ist unglaublich elegant, transparent, und sie nähert in gewisser Weise gerade im Festsaal auch die Außenseite der Innenseite an. Im Festsaal denkt man in gewisser Weise auch, man stünde auf dem Platz, das Außen wird nach innen geholt.

Das ist natürlich ein schönes Bild, denn um das Verhältnis von innen und außen geht es ja gerade in einer Volksvertretung. Wie holen Sie das Außen der demokratischen Gemeinschaft in das Innen dieser Volksvertretung hinein? Wie bekommen Sie das hier präsent? Auf diese Frage habe ich keine Antwort, aber es ist klar, dass Ihre Antwort nicht beim Bund liegt und auch nicht bei der Volksgesetzgebung, sondern allein hier in der Bremischen Bürgerschaft. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

(Anhaltender Beifall)

Sehr geehrter Herr Professor Möllers, ich danke Ihnen sehr herzlich für die Einblicke,

die Sie uns in unsere Verfassung und in unsere Geschichte, in unser Verhältnis zum Senat und zum Bischof –

(Heiterkeit, Beifall)

zum Bürgermeister, Entschuldigung! Sie haben uns viel mit auf den Weg gegeben, über das wir nachdenken können und vor allen Dingen auch nachdenken müssen. Wir könnten vielleicht die Rede noch einmal zum Gegenstand einer Beratung hier im Landtag machen.

Es war eine wunderbare und sehr erhellende Rede über unser Tun, unsere Geschichte, über den Marktplatz und die Organe, die hier am Marktplatz zu finden sind.

Ich finde, Sie haben uns für die Gestaltung unserer Zukunft auch Mut und Kraft gegeben, und das vor allen Dingen gerade drei Wochen nach den Ergebnissen der Verhandlungen zu den Bund-LänderFinanzbeziehungen.

Haben Sie noch einmal ganz herzlichen Dank, dass Sie uns für den Kampf um den Erhalt unserer Stadtrepublik Mut gemacht haben!

(Beifall)

Ich schließe die Sitzung und lade Sie herzlich zum Festakt in den Festsaal ein.